München ist die leichteste Stadt Deutschlands. Damit die Stadt nicht wegfliegt, wird sie tagsüber einfach festgebunden, an den hohen Türmen, die sie extra dafür gebaut haben und die sie Kirchen nennen. Jede Nacht aber machen sich dunkle Gestalten daran, diese Taue zu kappen, die die Stadt am Boden halten, sie treffen sich in engen Räumen, hämmern und schlagen, so klingt das, bäng bäng bäng, wumm wumm wumm, tschaka tschaka tschaka, und nur der Morgen bewahrt München davor, mit den lauen Winden zu gehen und hinter den Alpen zu verschwinden, in Italien, bei den Zitronen. So kann man sich die ganze Sache erklären, als eine Mischung aus Katholizismus, Geografie, Thermik und gütigen Drogen.
Es ist eines der Geheimnisse dieser Stadt, dass sich die verschiedenen Sphären vermischen, Nachtleben und Tageswerk geraten durcheinander, Nachtträumer und Tagmenschen sind nicht immer zu trennen. Mehr noch: Im Dunkel der Nacht entsteht ein Spiegel dieser Stadt. Und wenn jetzt der Feierband »Mjunik Disco« erscheint, um sechzig Jahre Münchner Nachtleben zu zelebrieren, dann sieht man eben sofort: das Aufschneiderische, das Familiäre, das Vorstädtische, das ja den ewigen Strizzi-Charme Münchens ausmacht. Vor allem aber spürt man diese selbstverständliche Leichtigkeit, die einen erst durch die Nacht trägt. Mick Jagger zum Beispiel, wie er da mit dieser Unbekannten herummacht, im »P1« in den Achtzigern. Oder der Clubbesitzer Richard Rigan, wie er da auf seinem weißen Ami-Schlitten hockt, weiße Cowboystiefel, weißes Sakko und als letzter Triumph ein weißes Unterhemd und Goldkette. Oder der Übermünchner, Lebensverschwender und Nachtmacher Rainer Werner Fassbinder. Oder der Schriftsteller Rainald Goetz an der Tür vom »Babalu Club«. Alles gerät durcheinander, alles ist in Bewegung, Genialität trifft da auf Größenwahn, Geist auf Glamour, das Liederliche scheint erhaben, und Würde ist etwas, was man sich jeden Abend neu erarbeiten muss.
Angefangen hat das alles nach dem Krieg mit den Amerikanern, in einer Betonschachtel mit Coca-Cola-Schild außen dran. »Cracker-Box« hieß der Laden, lag weit vom Zentrum an der Leopoldstraße, diesem Messerstoß von einer Straße, die mitten ins Herz der Stadt und auch in die Nacht führte. »Big Apple«, »PN-Hithouse«, »Tiffany«, »Yellow Submarine«, »Cafe Capri«, »Babalu«, so hießen die Clubs entlang der Leopoldstraße und durch die Jahrzehnte hindurch. Orte haben ein Gedächtnis, das merkt man hier; und Zeiten haben ihre Schönheit gerade im Vergehen: die Musicland-Studios, wo Giorgio Moroder seinen Discosound erfand, oder das »Why Not« und die »Klappe«, wo eine ganze Generation zur Popkultur erzogen wurde. Die Party war hier auch kulturelle Praxis, das ist vielleicht das Besondere der Münchner Nacht, die ja gern Schriftsteller und Filmemacher anzog. Rote Sonne heißt der Film von 1969, in dem Uschi Obermaier mit ihren Freundinnen im Minirock den Münchner Feierexzess auf die Spitze treibt; »Rote Sonne« heißt der Club aus dem Jahr 2005, in dem sich eine Generation feiert, die Uschi Obermaiers Enkel sein könnten. Es dreht sich eben alles im Kreis, Tag und Nacht, Tag und Nacht, das muss so sein. Es ist alles in Bewegung. Georg Diez
Alle Fotos aus »Mjunik Disco. München bei Nacht von 1949 bis heute.« Herausgeber Mirko Hecktor, 232 Seiten, 32 Euro, im Blumenbar Verlag; erhältlich ab 22. November.
Fotos: Roger Fritz; Daniel Mayer; Interfoto, amw; Interfoto, Franz Hug; Guido Krzikowski.