Es ist leider nicht besonders angenehm, Martin Grubinger die Hand zu schütteln. Dabei grüßt er doch fröhlich lachend wie ein Lausbub. Er ist 28 und sieht immer noch aus wie der, der er einmal war – ein bodenständiger Junge aus Salzburg. Wäre da nicht die Hand: mit Hornhaut, so dick, dass an den Fingergelenken harte Schwielen wuchern, an vielen Stellen aufgerissen. Dazu diese kleinen Blasen, die er jeden Tag verpflastern muss. Die Schwielen, die Wunden, die Schrunden kommen vom Trommeln, von sechs, acht, zehn Stunden Schlagzeugspielen jeden Tag – seit 14 Jahren. Anders wird man nicht zu dem, was Grubinger heute ist: der zurzeit berühmteste und vielleicht beste Schlagzeuger der Welt.
Martin Grubinger hat das Schlagzeug aus der Nische geholt. Über seine zeitgenössischen Schlagzeugkonzerte berichten die Feuilletons nicht in den Spalten links unten, sondern groß auf der ersten Seite. Grubinger tritt mit klassischen Orchestern in den größten Häusern der Welt auf, er macht Tourneen durch Deutschland, inzwischen auch durch China, Japan, die USA. Er veröffentlicht CDs und DVDs bei der Deutschen Grammophon, der Plattenfirma von Anne-Sophie Mutter und Anna Netrebko, von Leonard Bernstein und Herbert von Karajan. Bis vor Kurzem war es undenkbar, dass dort eine Platte erscheint, in der das Schlagzeug im Mittelpunkt steht. Komponisten schreiben nun Konzerte speziell für Perkussionisten mit Orchesterbegleitung. Allein Martin Grubinger hat bislang zehn Werke uraufgeführt, die für ihn geschrieben wurden. Manche davon sind technisch so anspruchsvoll und rhythmisch so kompliziert, dass sie außer ihm derzeit niemand spielen könnte.
Er ist stolz auf seine Hände. Er zeigt sie gern her, vor allem die Stelle am Mittelfinger, wo der Buckel aus Hornhaut am dicksten ist. »Wenn ich einen anderen Schlagzeuger zum ersten Mal treffe, schaue ich ihm nicht in die Augen, sondern auf die Hände.« Ein kurzer Blick: Wie groß sind die Schwielen, wie viel hat der andere geübt?
Auf Tournee schafft er es meistens nicht, zehn Stunden am Tag zu üben, das wäre sein Ziel. »Ich versuche, jede freie Minute zu nutzen. Aber unterwegs ist es schwierig«, sagt er. Gerade hat er sieben Konzerte in neun Tagen hinter sich. Jetzt sitzt er im Café vor seinem Hotel in Darmstadt und trinkt grünen Tee. Er trägt T-Shirt, Jeans, eine dunkle Sonnenbrille und ein bisschen viel Gel in den Haaren. Es ist kurz nach zwölf Uhr mittags, und Grubinger hat bereits den ganzen Vormittag getrommelt. Nun hat er zwei Stunden Zeit, dann beginnt die nächste Probe. Am Abend wird er im ausverkauften Saal des »Darmstadtiums« ein Konzert geben, und er wird in den zwei Stunden auf der Bühne mindestens ein Kilo Gewicht verlieren. Morgen wird er für ein anderes Konzert in eine andere Stadt fahren. So sehen gewöhnliche Tage im Leben Martin Grubingers aus.
Wenn er auf der Bühne steht, dann nicht in der Ecke hinter Trompetern und Posaunisten, wo im Orchester der traditionelle Platz des Schlagzeugers ist. Er steht im Zentrum. Die Geigen, die Trompeten, das Klavier und auch die anderen Schlagzeuger – sie alle unterstützen die Rhythmen, die er mit atemberaubender Geschwindigkeit seinen Instrumenten entlockt. Bald kann man seinen Händen mit den Augen nicht mehr folgen, sie verschwimmen zu Schemen. Ein Dutzend Schläge pro Sekunde wirbelt er auf sein Marimbafon, in jeder Hand hält er dabei drei Schlägel. Dann spielt er auf Trommeln, Becken, Tom Toms, Klanghölzern und Kuhglocken. Eigentlich sind das unmelodische Instrumente, doch Grubinger zaubert Musik aus den Geräuschen, aus dem Krachen, Knallen, Rascheln und Bimmeln.
Die Veranstalter reißen sich um Grubinger, und die Zuhörer auch, weil er auf der Bühne etwas Unerhörtes schafft. Zum Beispiel Anfang Juli in der Philharmonie in München: Grubinger steht mit bis zu dreißig Musikern auf der Bühne, davon zehn Schlagzeuger. Er mischt komplexe zeitgenössische Werke wie die mathematisch komponierten Rhythmen von Iannis Xenakis mit Weltmusik: afrikanische Klänge, Funk und Jazz. Zwischen den Werken führt er als Moderator durchs Programm, wie ein Conferencier erklärt er jedes Stück, fröhlich und lebensnah. Am Ende, nach mehr als drei Stunden, wenn er erschöpft und durchgeschwitzt die Zunge aus dem Mund streckt und dabei breit grinst, jubeln 2400 Menschen im ausverkauften Saal: Junge Leute trampeln und klatschen, das mag einen vielleicht nicht wundern, bald aber stehen auch alle der deutlich über 70-Jährigen auf, die man zuvor noch für typische Besucher mit Konzertabonnement gehalten hat. Martin Grubinger kriegt sie alle. Und genau das will er.
Sein Konzertplan steht bis Ende 2012 fest. Die meisten Anfragen muss er inzwischen absagen. Um dorthin zu kommen, wo er heute ist, hat Grubinger sein Leben dem Schlagzeug untergeordnet: Als er vier war, setzte ihn sein Vater, der auch Martin heißt, zum ersten Mal an eine Trommel. Der Vater hat selbst sein Leben am Schlagzeug verbracht – als Musikschullehrer in Salzburg. Der Sohn war talentiert, das sah er bald. Mit welchem Biss und welcher Disziplin er aber an die Sache heranging, das hat dann selbst den Vater überrascht. Als 14-Jähriger gewann der junge Grubinger seine ersten Preise in einem Jugendensemble, mit 15 nahm ihn das Linzer Bruckner-Konservatorium auf – als jüngsten Studenten. Das Gymnasium hatte er da bereits abgebrochen, nach 680 Fehlstunden in einem einzigen Halbjahr.
Immer unterwegs: Seinen kleinen Sohn sieht er kaum.
Seitdem führt Grubinger ein rastloses Leben, ein Getriebener seiner eigenen Mission, und die heißt: das Schlagzeug zu dem Instrument des 21. Jahrhunderts zu machen. Im November wird er mit den Wiener Philharmonikern debütieren, nächstes Jahr dann in China spielen, dazwischen ständig neue Werke einstudieren. Ganz nebenbei moderiert er noch eine Musiksendung im Bayerischen Rundfunk. Er hat auch einen Sohn, Noah, zehn Monate, aber den sieht er kaum. »Meine Tourneen waren eben zwei Jahre im Voraus geplant, das Kind nicht.« Seit 2009 ist er mit der 17 Jahre älteren Pianistin Ferzan Önder verheiratet. Sie hat mit ihrer Zwillingsschwester vier erfolgreiche Klavieralben herausgebracht, darunter die Vivaldi Reflections, die in die deutschen Klassikcharts aufstiegen. Nun macht Ferzan Babypause in Wien. Martin Grubinger hingegen pendelt: zwischen Wien, seinem Elternhaus in Salzburg und Hotels in aller Welt. Bald will er ein Haus für seine Familie in Oberösterreich bauen, es soll »das Zentrum« seines neuen Lebens werden.
Wenn er mehrere Tage hintereinander in derselben Stadt auftritt, bringt seine Frau ihm manchmal vor dem Konzert seinen Sohn in die Garderobe. »Sonst bleibt nur Skype«, sagt er. Er sitzt dann abends in irgendeinem Hotelzimmer und beobachtet seinen Sohn über Videotelefonie auf einem Computerbildschirm. »Ich bin meiner Frau dankbar, dass sie dieses Leben akzeptiert. Sie weiß eben, dass ich an beiden Enden brenne.«
Er führt ja nicht nur das Leben eines Konzertmusikers, das wäre schon anstrengend genug. Damit er auf der Bühne noch länger durchhält, trainiert er in der konzertfreien Zeit wie ein Spitzensportler. Zwei Stunden Joggen am Tag, dazu Hantel- und Rückentraining. Er holte sich Rat von Sportmedizinern, verzichtet auf Milchprodukte, das mache ihn ausdauernder. Während der Proben schnallt er sich ein EKG-Gerät um. »Wenn man nach ein paar Stunden müde wird oder wenn der Muskel übersäuert, macht man Fehler«, sagt er. Und Fehler verzeihe er nicht – weder sich selbst noch seinem Ensemble. »Deswegen hat das Proben mit mir auch etwas Trainingslagermäßiges. Da wird jeder an sein Limit geführt.«
Im großen Saal des »Darmstadtiums« hat er an diesem Nachmittag mit seinem Ensemble mittlerweile die Instrumente aufgebaut, er tritt am Abend mit fünf anderen Schlagzeugern auf. Über die Bühne verteilt stehen Xylofone, Marimbafone, Pauken, Gongs, eine Ocean Drum, Bongotrommeln und Holzkisten, auf denen Grubinger später sitzen und trommeln wird. Er selbst stellt sich nicht zu seinen Musikern, sondern nimmt im Auditorium Platz. Er hat das letzte Konzert im Kopf gespeichert und will, dass jene Stellen geübt werden, die für seine Ohren nicht ganz perfekt waren: »Ziffer 32, bitte ein bisserl exakter als gestern.« Wenn ihm etwas nicht gefällt, gibt er die richtige Schlagfolge mündlich vor. »Das muss so gehen: dagadagadagadaga. Und jetzt voll drauf!«
Wie lange kann ein Leben auf der Überholspur funktionieren?
Mit vier Jahren hat Martin Grubinger zum ersten Mal an einer Trommel gesessen. Heute übt er
täglich, meist zehn Stunden. »Irgendwann bin ich wie ein Börsianer geworden: Ich will
immer mehr.«
Auch sein Vater wird heute Abend mit ihm auftreten – er begleitet den Sohn auf allen Konzertreisen. Am Schlagzeug kann der Vater ihm nichts mehr beibringen. Bis vor fünf Jahren hat der junge Grubinger in einem garagenartigen Zubau im Haus seiner Eltern bei Salzburg geübt. Der Vater lag in der Nacht oft wach und hörte zu – mit den Ohren eines Lehrers. Heute wird er bei den Proben von seinem Sohn gemaßregelt, weil er zu langsam ist: »Du hängst wieder hinten drinnen mit deinen Sechzehnteln«, ruft er. Fünfmal muss der Vater die kurze Passage wiederholen, bis der Sohn zufrieden ist. »Klar, er kann mit 54 körperlich nicht mehr so«, sagt der Sohn später. »Ich setze ihn auch nur mehr bei wenigen Stücken ein, und das macht er tadellos.«
Wie lang er dieses Leben noch führen will – und wie lange er es noch aushalten wird, weiß er nicht. Aber: »Sobald ich merke, dass ich körperlich nicht mehr in der Lage bin, so zu spielen, wie ich will, höre ich auf. Ich habe als Schlagzeuger ein Ablaufdatum.« In diesem Frühjahr hat sein Körper bereits eine kurze Auszeit gefordert. »Es ist einfach nicht mehr weitergegangen. Meine körperliche Belastung ist so hoch, dass das Immunsystem wahnsinnig angreifbar wird.« Lang hat es nicht gedauert. Grubinger sagte ein paar Konzerte ab, blieb wenige Tage im Bett. Dann begann er mit der Vorbereitung für die Konzerte in der Münchner Philharmonie im Juli. Die Phase, in der er neue Stücke einstudiert, sei für ihn noch anstrengender als eine Tournee. »Das ist wie im Fußball: Entscheidend ist nicht die Bundesliga-Saison, sondern die Trainingsphase davor.«
Grubinger spielt in Konzerten immer auswendig. Ein neues Konzert bedeutet zigtausend Noten – zigtausend exakte Bewegungsabläufe, die er im Kopf verankern muss. Zur Vorbereitung zieht er sich nach Mondsee bei Salzburg zurück, wo er in einem Proberaum seiner früheren Musikschule arbeitet. Erst liest er einige Takte, dann schaltet er das Metronom ein, auf die langsamste Stufe, Tempo 35. Wie in Zeitlupe spielt er immer dieselben Takte, ein paar hundert Mal, bis sie sitzen. Dann stellt er auf Tempo 37. Um besonders komplizierte Passagen auf diese Art einzustudieren, braucht er bis zu einer Woche.
Sein schönster Moment, sagt er, war im November 2006, sein »Marathon-Konzert« im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins. Der Abend sei der »Durchbruch« gewesen. Er hatte sich zwei Jahre darauf vorbereitet und hielt es bis zum Schluss für möglich, dass er während des Konzerts vor Erschöpfung zusammenbrechen würde. Sechs zeitgenössische Konzerte an einem Abend, rund 600 000 Noten aus dem Kopf, vier Stunden lang auf der Bühne, mit Puls bis 200 – und keine Sekunde Verschnaufpause. Grubinger ist mit diesem Konzert an die Grenzen dessen gegangen, was ein Schlagzeuger leisten kann. Während des Auftritts nahm er mehr als drei Kilo ab, auch das war Rekord. Man hat es am Ende des Konzerts im Wiener Musikverein noch aus der 25. Reihe gesehen: Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.
Schon in zwei Jahren werde er das körperlich nicht mehr schaffen, hat er damals gesagt. Und das Konzert zwei Jahre später in Lübeck trotzdem wiederholt. Seine Familie hatte ihm abgeraten – zu groß der Stress, unkalkulierbar die Erschöpfung. Nun sind wieder zwei Jahre vergangen, und Grubinger sagt: »Irgendwann bin ich wie ein Börsianer geworden: Ich will immer mehr.« Das Marathon-Konzert wird er im August noch zweimal spielen: beim Schleswig-Holstein Musik Festival und bei den Salzburger Festspielen.
Fotos: Monika Höfler