»Wieder Nummer 1 und kein Geld – das ist die Geschichte meines Lebens«

Die Fahrenkrog-Petersens: Der eine Bruder Hitmaschine und Komponist von »99 Luftballons«. Der andere Musik-Akademiker. Ein Gespräch über den Wandel der Musikwelt, die Arbeit mit Justin Timberlake und das Verschwinden von 50 Millionen Mark.

»Wir schicken uns gegenseitig viel öfter Motorradbilder zu als Songs«, sagt Uwe Fahrenkrog-Petersen, rechts auf seiner Harley. Lutz fährt eine Ducati. Das T-Shirt hat Uwe seinem Bruder für dieses Foto mitgebracht: ein Stones-Bild mit Beatles-Schriftzug.

Foto: Andy Kania

SZ-Magazin: Lutz, Sie sind Musikwissenschaftler und erforschen Popmusik. Ihr Bruder Uwe schrieb den Welthit 99 Luftballons. Was sagen Sie über das Lied?
Lutz Fahrenkrog-Petersen: Ich glaube, du hast ihn mir damals sogar vorgespielt. Und ich habe gesagt: Was für ein Kacklied. Und die Sängerin da drauf: Oh nee, die kann ja gar nicht singen.

Sie machen das Lied runter ...
Lutz: Ich mach das nicht runter. Das ist das, was alle Musiker, und das bin ich ja auch, zu dem Lied gesagt hätten. Völlig normal. Das ist auch das, was Plattenfirmen gesagt hätten.
Uwe Fahrenkrog-Petersen: Gesagt haben.
Lutz: Das war damals alles Mist: Sternen­himmel. Trio, Da da da. Und dieser völlig indiskutable Peter Schilling. »Völlig losgelöst.«
Uwe: Also, ich find das gut.
Lutz: Musiker wie ich haben diesen Blick normalerweise nicht. Uwe schon, weil er versteht, das muss auch irgendwo hinführen. Aber ich denke an die Musik, das Spielen, nicht an die Sozialverträglichkeit der Lieder.
Uwe: Ich fand die Melodie schön von Major Tom. Man spürt das im Herzen. Das ist ganz selten, dass eine Melodie aufgeht. Dann ist es meistens ein Riesenhit.

War Ihnen gleich klar, dass 99 Luftballons ein Hit wird?
Uwe: Ja, wir haben das gespürt – als Band.

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Eine entscheidende Rolle spielte der Text. Die Idee hatte Ihr Gitarrist Carlo Karges, als Sie auf einem Rolling-Stones-Konzert waren und dort Luftballons aufstiegen.
Uwe: Er hatte neun Strophen. Wie kriegen wir die rein? Ich sagte: Wir machen einen Prolog und einen Epilog, schon haben wir zwei Strophen weg. Als wir es fertig hatten, sagten wir: Boah, das hat Power. Aber die Platten­firma meinte, so was spielt das Radio nicht.
Lutz: Die Bedenken hätte ich auch gehabt.
Uwe: Es fing an mit einem Instrumental, ellen­lang, dann hat es gar keinen Refrain, nur Strophen. Sie machten es mit Widerwillen.
Lutz: Es ist am Ende schon gut, dass sich das Publikum seine Songs selbst auswählt. Man hat ja immer die Idee: Alles wird von der ­Industrie diktiert.

Was war denn aus Sicht des Pop-Wissenschaftlers das Geheimnis des Songs?
Lutz: Es war Zeitgeist. Und dass sich das Lied auf so eine spielerische Art mit Atomkrieg beschäftigt. Meistens führt so ein Thema zu Betroffenheitsmusik – schwere Kost oder aggressive. Aber Carlo hatte eine Art, da­rüber zu sprechen, die ernsthaft war und trotzdem fantasievoll. »99 Kriegsminister, Streichholz und Benzinkanister, hielten sich für schlaue Leute, witterten schon fette ­Beute …« Das ist toll. Carlos Text, Nenas Stimme und Uwes Musik waren zusammen perfekt. In einer anderen Kombination hätte das nicht stattgefunden. Für eine erwachsenere Sängerin wäre so ein Text nichts gewesen.
Uwe: Das war authentisch. Wir waren tatsächlich unschuldig.

»Die anderen haben gesoffen und sind nicht aus dem Bett gekommen. Ich bin zur Uni. Ich wollte mehr über Beethoven und Bach wissen«

Lutz Fahrenkrog-Petersen

Lutz, auch Sie waren Teil der Neuen Deutschen Welle, haben damals in erfolgreichen Bands gespielt. Aber Sie haben Distanz gehalten, Philosophie studiert, Musikwissenschaften – warum?
Lutz: Die anderen haben gesoffen und sind nicht aus dem Bett gekommen. Ich bin zur Uni. Ich wollte mehr über Musik wissen, Beethoven und Bach, habe die Tonsatztechniken gelernt. Ich hatte auch eine Band nur mit Jamaikanern. Einer hat sich aus Ölfässern Drums gemacht, er machte ein Feuer drin, um das Öl rauszubrennen, hat sie mit einer Blechschere zerschnitten und mit einem Hammer geschmiedet. Ein toller Percussionist. So lernt man viel über Musik und Menschen.

Sie wurden später Direktor am Forschungszentrum für Populäre Musik an der Humboldt-Universität Berlin. Was macht ein Pop-Professor?
Lutz: Die Geschichte und Wirkung von Popmusik erforschen. Wir hatten auch Kunden aus der Wirtschaft, haben Procter & Gamble beraten, die HUK-Versicherung, Ing-DiBa: Wie sich auf wissenschaftlicher Basis Musik in der Werbung einsetzen lässt.
Uwe: Da haben wir zusammengearbeitet. Ich habe seine Briefings bekommen, wo er mir die Tonarten vorgegeben hat, die bestimmte Stimmungen auslösen. Die haben das in ­ellenlangen Analysen aufgeschlüsselt, und ich musste nach diesen Plänen arbeiten.
Lutz: Geschwindigkeit. Stilistik. Gestus. Art der Melodie.
Uwe: Ich fand toll, das mal begründet zu bekommen. Ich dachte vorher immer, ich mache da nur ein schönes Lied.
Lutz: Früher war HUK vor allem die Autoversicherung. Die hatten ein neues Produkt, private Krankenversicherung. Auf die wollten sie das Image übertragen – über ­Musik. Wir haben zuerst eine Musik etabliert für die Kfz-Versicherung, ein halbes Jahr ­später, als sie durch das Fernsehen bekannt war, haben wir sie unter den Spot der Krankenversicherung gelegt. Innerhalb von zwei Sekunden wussten die Leute, dass es die Huk ist. Wir haben auch Musik für Parfüms gemacht, für Bruno Banani.
Uwe: Hab auch ich gemacht. Lutzi, zeig mal das von der Bäckerinnung. Da wollte die Bäckerinnung neue Bäcker gewinnen. Und hat sich mal was getraut. Was Lutz selber produziert und gesungen hat.
Lutz: Zwei Versionen von Backe, backe ­Kuchen – eine in Richtung Unheilig, eine in Richtung Rammstein. »Willst du dich zum Helden machen, musst du haben sieben ­Sachen: Herz und Hand – Fleiß und Verstand – Spaß und Stolz – und ein gutes ­Nudelholz. Die Nacht ist schwarz, der Morgen rot, geh und back dem Land das Brot.«

Ihre Wege entfernen sich, kreuzen ­sich, sind aber grundverschieden. Alles hat seinen Ursprung im selben Kinderzimmer. Wie kamen Sie zur Musik?
Lutz: Mit dem Schlagzeug. In der ersten Klasse hatte ich schon echte Trommelstöcke.
Uwe: Ich fing mit Orgel an. Die war aus dem Neckermann-Katalog, aber immer noch ­superteuer für eine Arbeiterfamilie.
Lutz: Klang rattenscharf.
Uwe: Wir hatten von meiner Mama Platten zu Hause …
Lutz: … Heino.
Uwe: Auch die Kinks und Beatles, aber dann hatte ein Cousin eine Platte von Deep Purple dabei. Ich konnte nichts anderes mehr hören.
Lutz: Ich schon.
Uwe: Nun klang meine Orgel aber nicht so wie bei Deep Purple. Und ich musste mich mit einem sehr netten Orgellehrer herumquälen, der war 84, Herr Urban, der hatte noch in Stummfilmtheatern live gespielt. Es war die Zeit, als meine Eltern viel gestritten haben, und da habe ich mich, wenn Krach war, in den Keller zurückgezogen.
Lutz: Auch sonst.
Uwe: Dann habe ich die Verzerrer an die Neckermann-Orgel gehängt und es Ton für Ton nachgespielt. Und wenn Verwandtschaft kam und sagte, spiel doch mal was Schönes, konnte ich nur das Orgelsolo mit Verzerrer von Deep Purple.
Lutz: Und Doktor Schiwago.
Uwe: Das war noch von dem Orgellehrer. Und wir wurden dann immer lauter, der Nachbar hat im Keller den Strom abgedreht.
Lutz: Wer hat damals mitgespielt?
Uwe: Didier, und Eric hat Gitarre gespielt. Ganz schrecklich.
Lutz: Aber er hatte die geilste Anlage. Er war ein französischer Soldat, er hatte sie von seinem Sold gekauft.
Uwe: Ich war 13, die beiden 20. Aber ich habe die ganzen Songs geschrieben.

»Da kam dieses Angebot: Ob ich mit einer Band ins Studio gehe. Die Songs waren nicht gut, aber die Sängerin Nena und die Energie waren so toll«

Uwe Fahrenkrog-Petersen

Warum haben Sie in der Band nicht mitgespielt, Lutz?
Lutz: Ich habe mein eigenes Ding gemacht, klassische Gitarre gelernt. Bach, und was man in der Literatur hatte über Flamenco. Meine Gitarrenlehrerin hat mir später einen Professor der Hochschule der Künste vermittelt, da war ich 13.
Uwe: Ich war ja schon der Jüngste in meiner Band. Jetzt war Lutz noch zwei Jahre jünger. Deswegen sind wir da getrennte Wege ge­gangen.
Lutz: Du hast dich auch klamottenmäßig angepasst.
Uwe: Ich kreuzte in der Schule mit rotem Samtmantel, hohen Wildlederstiefeln, Kajalstrich und Spitzenschal auf.

Und Sie, Lutz?
Lutz: Turnschuhe und Jeans.

Wollten Sie nicht Rockstar werden wie Ihr Bruder?
Lutz: Das war kein Ziel von mir. Ich wollte coole Musik machen. Der Weg war das Ziel.

Uwe, wie fanden Sie zu Nena?
Uwe: Da kam dieses Angebot: Ob ich mit einer Band auf Tour gehe. Die waren aus Hagen und sahen auch aus wie Landeier, in selbst gestrickten Pullovern, und in Berlin war gerade der NDW-Wahnsinn mit Ideal und Neonbabies, einer war cooler als der andere. Ich dachte: Oh Gott! Die Songs waren nicht besonders gut, aber die Sängerin und die Energie so toll. Ich habe dann gesagt: Ich kann euch mal was schreiben. Und habe Nur geträumt geschrieben. Nena hat mir ihren Text ins Ohr erzählt. Sie fragte: Findest du das doof? Nee, ist gut!

Der Auftritt mit Nur geträumt in der Fernsehsendung Musikladen machte Sie zu Stars. In der Woche darauf verkaufte sich die Single bis zu 40 000 Mal am Tag. Haben Sie den Auftritt damals gesehen, Lutz?
Lutz: Weiß ich gar nicht mehr. Das hat mich auch nicht so interessiert. Ich war die ganze Zeit mit meiner Band am Proben. Und machte mit Marianne Sägebrecht und Bruno Ferrari die Opera Curiosa. Das war eine Mega-Freakshow, Artisten und Performancekünstler, supergeile Show, vier Stunden lang, Marianne Sägebrecht hat ein Podest bekommen, hat oben gekocht, mit Schürze, und ab und zu einen Kommentar in Hardcore-Bairisch runtergerufen oder irgendwas in die Zuschauer geworfen.
Uwe: Wir haben zu der Zeit auch nicht zusammen gewohnt.
Lutz: Es hat sich erst später wieder gekreuzt.

1985 fand Uwe Fahrenkrog-Petersen (2. v. re.) noch, die Musikwelt sei nur ein Paradies: Melodien schreiben und angehimmelt werden.

Foto: Andy Kania

Uwe, wie erlebten Sie den Nena-Hype 1982 bis 1987, bis sich die Band auflöste?
Uwe: Man muss sich das vorstellen wie in einem Wirbelsturm. Wir waren immer unterwegs. Abends gespielt in San Remo, um 23 Uhr ins Hotel, um eins wieder aufstehen, zwei Stunden mit dem Bus nach Genua, von dort nach Rom fliegen, weil wir eine Foto­session hatten im Kolosseum für ein Bravo-Poster, danach Interviews, dann Fernsehshow und weiterfliegen. So sieht auch das Poster aus, das gibt es noch. Aber man hat in den Fernsehshows lustige Leute kennengelernt, Duran Duran haben mir in London die coolen Läden gezeigt, wo David Bowie und sie einkaufen gingen. Ich habe gedacht, ich bin im Paradies.

Lutz, Sie haben sich der Band Nena dann doch angenähert, sind mit auf Tour gegangen. Als Brüder auf großer Bühne vereint. Wie war es dazu gekommen?
Uwe: Duran Duran hatten einen irren Soundzauber, und so was wollten wir auch. Wir hatten Saxofonisten, Backing Vocals, und brauchten einen Multi-Instrumentalisten. Da habe ich gesagt: Nehmen wir doch den Lutzi. Ich hätte ihn immer gern dabeige­habt, aber wir waren eine Band, ich konnte nicht auf einmal einen anderen reinbringen. Das war dann toll. Europa und Asien ­haben wir gemacht, oder?
Lutz: Ich hatte hinten einen Riesenaufbau, Keyboard, akustische Gitarre, zwei elektrische Gitarren, Bass, Drums, Bongos.

Nach der Tour, Lutz, beendeten Sie Ihre Musikerkarriere und wurden Produzent. Sie nahmen Platten auf, Nummer-eins-Hits. Und mit Nena ging es bergab. Der kleine Bruder wurde wichtiger als der große. Gab es je zwischen Ihnen Konkurrenz?
Lutz: Nein, das ist mir fremd.
Uwe: Ich war stolz auf ihn. Ich komme aus den USA zurück, und er hatte Nummer-eins-Hits!
Lutz: Ich hatte die Einstürzenden Neubauten im Studio, David Hasselhoff, Ute Lemper, The Fugees, Nine Inch Nails, Juliane Werding, Roland Kaiser, Eartha Kitt, ich habe auch Just Friends gemacht, eine Band, die in der Serie Gute Zeiten, Schlechte Zeiten gegründet wurde und dann als echte Band rauskam, der Wechsel von virtueller in die reale Welt, ein Riesenerfolg, Millionenumsätze. Ich habe den Song komponiert, arrangiert, aufgenommen, gemischt.

»Immer kam seine Mama und hat Justin Timberlake abgeholt. Der war 15 oder so. Er war nicht der Beste der Band, aber er hatte diese quäkige Stimme«

Uwe Fahrenkrog-Petersen

Für einige Platten verpflichteten Sie Ihren Bruder Lutz als Co-Produzenten. Ist es für Sie leichter oder schwerer, als Brüder zusammenzuarbeiten?
Uwe: Leichter. Wir haben die gleiche Musikgeschichte, da kann man besser kommunizieren: Er sagt, weißt du noch, damals die Platte von Alex Harvey, als wir 13 waren, die Gitarre – so müsste das klingen. Und ich sag: Ja klar, super. Wir hatten ein ganz kleines Kinderzimmer, ein Bett, einen Tisch, ­einen Plattenspieler und einen Riesenstapel Platten. Darauf baut alles auf. Haben wir nicht auch N’Sync bei dir aufgenommen?
Lutz: Du hattest nie Zeit, ich saß mit Justin Timberlake da. Ich habe mich mit ihm dann ans Klavier gesetzt, damit er was zu tun hat.
Uwe: Und immer kam seine Mama und hat ihn abgeholt. Der war 15 oder so. Er war nichtder beste Sänger der Band, aber er hatte diese quäkige Stimme, die erkanntest du sofort wieder. Darauf kommt es an im Pop.

Wie waren Sie an Justin Timberlake ­gekommen?
Uwe: Bravo hatte 40-Jähriges und das Motto »Forever Young«. Ich habe denen einen Song gemacht, ein bisschen Techno, und eine Plattenfirma sagte: Wir haben da eine junge Band, die brauchen einen Hit, dürfen wir den nehmen? N’Sync haben aber R&B-Pop gemacht. Die standen im Studio und dachten, was ist das? Das Lied hätte einen anderen Künstler verdient gehabt – und N’Sync ein anderes Lied. Das Album hat aber gut Geld verdient, und das konnte ich gebrauchen.

Warum brauchten Sie Geld?
Uwe: Bei Nena waren wir ausgeraubt ­worden. Wir waren alle pleite, obwohl wir Millionen hätten haben müssen.

Um wie viele Millionen ging es?
Uwe: Eine Anwaltskanzlei in Hamburg hat das mal aufgearbeitet: circa 50 Millionen Mark hätten wir haben müssen. Wir hatten einen Businessmanager, der nach Auftritten gern mal sagte: Geschwind hier noch unterschreiben.
Lutz: Ein Freund von mir, der einen Riecher für Geschäfte hatte, hat immer gesagt: Dem würde ich nicht mal die Hand geben.
Uwe: Wir haben auf Anraten dieses Managers ein Mietshaus im Grunewald gekauft und luxussaniert, etliche Tausend Mark pro Quadratmeter – in den Achtzigern! Das war so teuer, weil er einige Straßen weiter ein ähnliches Haus gekauft hat und die Arbeiter unseres Hauses das andere Haus gleich mitsanieren ließ. Das fiel auf, als wir eine Rechnung über einen Gärtner bekamen. Wir hatten keinen Gärtner. Da war unsere Karriere aber schon zu Ende. Wir hatten kein Geld. Da hat der Hausverwalter, den auch der Businessmanager gestellt hatte, das Haus für 1,4 Millionen an eine Strohfrau verkauft, die, wie sich später rausstellte, seine Mutter war. Das Haus war ein Vielfaches mehr wert. Der ist dann nach Kolumbien und ließ sich da für tot erklären. Die Staatsanwaltschaft sagte: Können wir nix machen.

Und der Rest der 50 Millionen?
Uwe: Ein Beispiel, wo das Geld so versickert ist, lustig: Wir waren in einem Nachbarland doch so erfolgreich. Da habe ich bei der Gema mal gefragt: Wo bleibt das Geld? Es stellte sich heraus, dass der Boss der Plattenfirma sich als Subverleger angemeldet hatte und das abgezogen hat. War verjährt! Und in einem Land in Asien haben wir 700 000 Platten verkauft, aber der Verlag hat 150 000 abgerechnet. Am Ende angekommen sind bei uns insgesamt zwei oder drei Millionen. Damit haben wir Steuern nachgezahlt.

Nach Nenas Ende gingen Sie nach Los Angeles und machten Hardrock. Die Zeitschrift Metal Hammer kürte Ihr Debüt The Awakening mit Voodoo X zum Rock-Album des Jahrzehnts.
Uwe: Ich hatte ja meine Hair-Metal-Zeit noch nicht ausgelebt, die ich mit zwölf angestrebt hatte. Ich habe Voodoo X mit Jean Beauvoir gegründet. Beauvoir war ein Star, der erste Schwarze in der Rockmusik, lange vor Lenny Kravitz. Jon Bon Jovi war sein bester Freund, Paul Stanley von Kiss ist zu uns gekommen, am Tag haben wir komponiert, abends sind wir losgezogen. Die Zeit hat mich viel Geld gekostet, hat aber Riesenspaß gemacht.

Lutz, wie bewerten Sie als Wissenschaftler die Hair-Metal-Phase Ihres Bruders?
Lutz: Es hat zu lange gedauert, bis die Platte rauskam. Da war Hair Metal schon durch. Es ist der typische Pop-Zyklus: Du hast Underground, auf einmal geht das auf, und schließlich kommt einer, der das Gleiche macht, nur ein wenig poppiger, und der räumt den Markt auf. In Deutschland war Nena der Todesstoß der NDW. Und Hair Metal wurde von Guns N’ Roses versenkt. Das war das Problem von Voodoo X.
Uwe: Man musste sich immer wieder neu erfinden. Etwas ist zu Ende, Geld keins übrig, was mache ich jetzt? Das ist ein Drive, um weiterzumachen. Du kannst dir gar nicht leisten, dass es nicht gut wird.
Lutz: Ich kamnicht in den Strudel. Ich konnte auch schräge ­Sachen machen, mit Einstürzende Neubauten, der Berliner Oper oder Diether Krebs. Sachen zwischen Größenwahn, Nutz­losigkeit und großem Aufwand.
Uwe: In den Neunzigern bin ich pleite gegangen, als die Internetpiraterie alles verschlimmert hatte.

Der Bruder ruiniert – was macht man da? Konnten Sie ihm helfen?
Uwe: Na ja, ich war arm, meine Einnahmen wurden gepfändet, aber ich wohnte in den teuersten Hotels, ich machte Popstars, das wurde alles bezahlt. Und ich habe Nenas großes Comeback produziert. Es war verrückt: Ich war mit mehreren Titeln auf Nummer 1, aber bekam das Geld nicht. Alle haben gesagt: Ey Mann, geil, und ich nur: Schon wieder Nummer 1 und kein Geld – das ist die Geschichte meines Lebens. Erst jetzt, 15 Jahre danach, kann ich das Kapitel langsam abschließen.

2002 Das große Nena-Comeback: Uwe Fahrenkrog- Petersen arrangierte und produzierte die alten Songs in neuem Sound.

Foto: Andy Kania

Über was für Schulden reden wir?
Uwe: Zwei Millionen Mark. Hauptsächlich Steuerschulden.
Lutz: Zu der Zeit hatte ich auch nichts. Ich habe Ende der Neunziger gesehen, dass es nirgendwo hingeht mit der Musik.
Uwe: CDs wurden keine mehr gekauft, und im Internet wurde Musik gestohlen. Man konnte noch in die Bar gehen und Gitarre spielen.
Lutz: Da habe ich den Abschluss in Musikwissenschaften gemacht und meine Doktorarbeit angeschlossen. Währenddessen fragte mich die Humboldt-Universität, ob ich Geschäftsführender Direktor am Forschungszentrum für Populäre Musik werden will.

14 Jahre lang waren Sie an der Universität. Sie haben ein Buch geschrieben: Das Ende des Pop. Alles sei nur noch eine Wiederholung. Was meinen Sie damit?
Lutz: In den Anfängen des Pop war es leichter, was Neues zu machen, allein durch neue Technik: Verstärker, Echo, Mehrspur-Aufnahmen. Heute ist das schwer. Und früher suchten Produzenten sich Komponisten, Texter, Bands, heute machen viele alles selbst. Das raubt Kreativität.
Uwe: Es darf nur noch stattfinden, was schon mal erfolgreich war. Es ist, als würde man etwas essen und verdauen und dann verdünnt wieder essen und wieder verdauen, alles eine verwässerte Gülle, die sich auch noch Popmusik nennt.
Lutz: Es beginnt mit Amy Winehouse, geht weiter über Beth Ditto und Adele und endet im Nichts. Weil alle nur noch Adeles suchen statt einer Winehouse. Dabei sind die Leute genauso hungrig nach Neuem wie früher.
Uwe: Natürlich könnten wir das – einen Song machen wie … Aber das bringt nichts. Was ist denn der Hauptgewinn: dass ich nur noch zwei Tage die Woche als Taxifahrer arbeiten muss? Deswegen bin ich daraus geflüchtet.
Lutz: Musiker sind eine aussterbende Rasse. Spaß gibt es nur noch, wenn du gratis spielst. Ich habe so eine Impro-Band, wenn wir vor der Pandemie auftraten, war es rammelvoll, und am Ende hatte jeder von uns 40 Euro.

Uwe, auf Ihrer Flucht aus der Popmusik kam Ihnen die Corona-Pandemie übel dazwischen. Sie wollten Ihr Geld ja nicht mehr mit Tantiemen verdienen, sondern mit Eintrittsgeldern.
Uwe: Ja, hatte ich mir so gedacht. Streaming funktioniert für Apple, Spotify und die Plattenfirmen – aber nicht für uns. Schon der Künstler kriegt sehr wenig, wenn ein Video bei Youtube läuft: Am Ende bleiben oft nur ein bis drei Prozent. Wer den Song geschrieben hat, kriegt noch weniger. Die Schwächs­ten sind in den Arsch gekniffen, die Textschreiber, Produzenten und Kom­ponisten.
Lutz: Dagegen wehren können sich nur die ganz Großen.
Uwe: Die meisten Künstler haben Angst, dass sie ihre paar Euro auch noch verlieren. Oder gar nicht mehr gehört werden. Das Konzept Streaming ist eine große Lüge. Der Vorletzte in der Kette, der Sänger oder die Sängerin, hatte bis zur Pandemie wenigstens die Chance aufzutreten, Nena konnte mit 99 Luftballons viel Geld verdienen. Für sie war es gut, wenn sie gestreamt wurde, damit verkaufte sie ihre Tickets. Deswegen wollte ich nun Musicals machen, die Wüstenblume, da war ich direkt am Verkauf beteiligt.

Die Geschichte der Nomadin Waris, die später Topmodel wurde – und Vorkämpferin gegen die Beschneidung von Frauen. Die Premiere war kurz vorm ersten Lockdown 2020.
Uwe: Die war noch ein Riesenerfolg, danach war es weiter ausverkauft. Es klingt nicht wie das, was man unter Musical kennt. Wir haben einen Chor aus den Townships. In Paris haben wir mit der afrikanischen Musikszene aufgenommen, damit es echt ist. Es geht um Afrika und die Stärke dieser Frau, ihre unglaubliche Lebensgeschichte. Waris hat geweint, als sie die Musik erstmals gehört hat. Die Sache in Paris war doch geil, Lutzi, oder?
Lutz: Die Globalisierung hat es mit sich gebracht, dass die Leute wie in König der Löwen eine allgemeinverträgliche Musik machen. Das ist ja erst mal keine schlechte Idee: Ah, okay, wird überall verstanden, wie Hollywood-Kino. Aber Verkaufen ist auch nicht alles, man muss auch integer sein. Und das muss nicht unbedingt im Misserfolg enden.

Sieben Jahre haben Sie daran gearbeitet, sagen Sie, Uwe. Wie kann man als Pleitier sieben Jahre an einem Werk arbeiten?
Uwe: Ich hatte dafür einen Partner rein­geholt, einen Engländer, der Stahlwerke ­besitzt. Er ist zu 50 Prozent beteiligt, ein klares Modell, wie Colonel Parker und Elvis.

Wie kam der Kontakt zustande?
Uwe: Er hat eine ukrainische Sängerin geheiratet. Ich habe ja eine Platte mit Thomas ­Anders gemacht, der in Russland ein Riesenstar ist. So wurde der Mann auf mich aufmerksam.

Und wie haben Sie ihn überzeugt?
Uwe: Erst mal hat ihn die Musik überzeugt, die ich für seine Frau komponiert habe, die war damit in mehreren Ländern sehr erfolgreich. Und dann hatte das Buch Wüstenblume sich ja millionenfach verkauft. Das war der Versicherungsschein. Produzenten wollen eine bestehende Community.
Lutz: Ich verstehe, was eine Community bringt. Finde aber nicht, dass es eine geben muss. So hat man gestern Erfolge gemacht. Schau dir mal den Musikfilm an, La La Land! Da hat man sich was getraut. Und Oscars gewonnen.
Uwe: Wenn ich mit Firmen arbeite, ist es tödlich zu machen, was sie wollen. Denn eigentlich wissen sie gar nicht, was sie wollen. Die wissen auch nicht, was gut ist. Die Marketingleute sagen: Ich habe da eine Band, von meiner Tochter, irgendwas mit Zeppelin, hör dir das mal an. Ist wirklich passiert! Du musst sagen: Ja, mache ich – und dann tun, was du meinst.
Lutz: Wir hatten einen Spot, da wollte eine große Bank den Sound von Bruce Springsteen. Da habe ich gesagt: Gut, fragt ihn.

Viele Nominierungen, neun ausverkaufte Shows, Geld kommt rein – und dann geht wieder alles schief. Pandemie, nächster Traum geplatzt. Wie kamen Sie damit zurecht?
Uwe: Alles zerfiel zu Staub. Ich hoffe, dass wir die Wüstenblume nach der Pandemie wieder in Gang bekommen. Es war für viele Preise nominiert, Ihre Zeitung schrieb über die Premiere: »Gänsehautmomente«.

Haben Sie Hilfen bekommen?
Uwe: Die Künstler haben Geld bekommen. Die können sagen: Sie haben mir meine Konzerte abgesagt, voriges Jahr habe ich so viel verdient, in diesem Jahr nichts. Das war das Kriterium. Das geht für die Kreativen nicht. Wir leben vor allem von Gema-Tantiemen, etwa wenn unsere Lieder in Clubs oder auf Konzerten gespielt werden. Die Tantiemen werden bis zu zwei Jahre später ausgeschüttet. Während der Pandemie bekamen wir das Geld von 2018. Es ist nun dieses und nächstes Jahr, wo wir unter der Pandemie extrem leiden werden. Da gibt es wohl keine Hilfe mehr. Aber was jenseits des Geldes schön war: Als Kreativer hattest du auf einmal Zeit, wurdest nicht mehr genervt von Leuten, die irgendwas wollen oder vermasseln. Man kann sich überlegen: Was wird dein neues Projekt? Willst du es anders anlegen? Digital? Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Ich habe ein Projekt unheimlich vorangebracht, das war eine künstlerisch fruchtbare Zeit.
Lutz: Klar, wenn man von 1000 Euro im ­Monat leben kann, war es fruchtbar. Aber dann sehe ich es auch wieder als Wissenschaftler, weniger sarkastisch: Was wir machen, ist nicht wegen des Geldes. Auch nicht nur wegen des Spaßes und der Partys. Es ist für viele Leute bedeutsam in unserer Gesellschaft. Es ist wichtig für die Menschen, gerade in diesen schweren Zeiten, diese Musik zu haben.

Was für ein neues Projekt haben Sie, Uwe?
Uwe: The New Atlantis Project. Eine Live-Show, eine Sci-Fi-Parabel auf unsere heutige Welt: Eine Hochzivilisation steht vor dem Untergang. Wollen wir so weitermachen? Nicht nur beim Klima, auch im Miteinander, im Sozialen, überall. Ich glaube an das Positive im Menschen. Auch bei 99 Luftballons habe ich einen Blick auf die Zukunft gehabt. Damals war es unsere Angst vor Atomwaffen. Heute habe ich Angst für meine kleinen Kinder. Wenn die jetzt aufwachsen, und alles ist im Eimer mit unserer Welt, dann werden die ­fragen: Papa, was hast du denn gemacht, um das zu verhindern?
Lutz: November-Hilfe beantragt.

»Wenn mich Studenten fragen, wie da so ist mit ihrer Zukunft in der Musik, sage ich: Da rate ich eher zu Drogenhandel oder Prostitution«

Lutz Fahrenkrog-Petersen

Uwe, Lutz, wenn Sie zurückschauen:Zusammen gestartet, allein gelaufen, wieder zusammen, immer hin und ­her – wie denken Sie über diesen Weg?
Lutz: Tausendmal hingefallen und wieder aufgestanden. Dass man es als Musiker tatsächlich schaffen kann zu überleben, ist das Wunder bei uns. Wenn mich Studenten fragen, wie das so ist mit ihrer Zukunft in der Musik, sage ich: Ich rate Ihnen eher zum Drogenhandel oder zur Prostitution.
Uwe: Für mich ist schön, dass wir jetzt mehr denn je zusammenarbeiten. Es ist gut, dass mein Bruder nicht Buchhalter geworden ist.
Lutz: Seit 40 Jahren, wir sind ja um die 60.
Uwe: Eigentlich wollte ich im März vor zwei Jahren meinen 60. Geburtstag feiern, meine Frau hatte eine Überraschungsparty geplant. Musste abgesagt werden. 60, 61, 62 – seitdem komme ich nicht zum Geburtstagfeiern.
Lutz: Jetzt kommt mein 60. Wir haben am gleichen Tag Geburtstag.
Uwe: Lutzi war mein Geburtstagsgeschenk.