Wenn es Nacht wird, und er ein Fenster auflässt, kann man ihn hören, sagen die Nachbarn. Manchmal singt er auch:
Tall and tan
and young and lovely
the girl from Ipanema
goes walking
and when she passes
each one she passes
goes »a-h-h!«
Das Haus, ein zehnstöckiger Apartmentkomplex aus den Achtzigerjahren, ist wie ein Eisblock zwischen die Geschäftszeilen von Rios Reichenviertel Leblon gerammt. In einem der Apartments wohnt der seltsame alte Mann mit schütterem Haar, Bundfaltenhose und einer ziemlich großen Brille. Er ist weltberühmt, jeder kennt seine Lieder und könnte sie vorpfeifen, aber ginge er jetzt auf die Straße, würde ihn kaum jemand erkennen. Es liegt daran, dass der Mann nie auf die Straße geht. Seit dreißig Jahren versteckt er sich in seinem Zimmer und lebt der Zeit und den Menschen entgegengesetzt: Steht auf, wenn alle schlafen gehen; legt sich hin, wenn alle aufstehen, wie ein Gespenst.
Dort oben wohnt João Gilberto: der brasilianische Sänger und Gitarrist, der der Welt vor über fünfzig Jahren die Musik des Bossa Nova geschenkt hat, zusammen mit dem Komponisten Tom Jobim und dem Lyriker Vinícius de Moraes (sie sind beide schon lange tot) – Lieder wie The Girl From Ipanema, Chega De Saudade, Bim Bom, die die Welt mit Leichtigkeit überzogen, so sehr, dass man überall einen Strand und hübsche Mädchen zu sehen glaubte, wo sie zu hören waren. Lieder, deren Kraft darin lag, dass sie leise gespielt und gesungen wurden, dass sie schwebten. João Gilberto hatte etwas Essenzielles in der Musik gefunden: wie Hemingway, als er alle Adjektive rausstrich; wie Mies van der Rohe, als er alles Überflüssige wegließ; wie Glenn Gould, als er sich entschied, zum Klavier zu summen.
Seit dreißig Jahren aber vergräbt sich João, der Zauberer. Er ist zum Rätsel geworden, zum Mythos von Rio. Gibt nie Interviews, selten Konzerte (die er dann oft kurz vorher absagt), die letzte Platte liegt zehn Jahre zurück.
Vielen Brasilianern geht er sogar ein bisschen auf die Nerven, obwohl er ihnen so viele schöne Momente bereitet hat wie sonst nur Pelé. Geht man in irgendeinen Plattenladen, zum Beispiel Modern Sound in Copacabana, und fragt ein bisschen rum, hört man die Menschen über ihn schimpfen:
»Verrückt. Verrückt, verrückt, verrückt! Ach, hör mir auf mit João, der spinnt doch! Soll lieber mal Musik machen.«
»Komischer alter Mann, mit irgendeinem wirklich großen Problem. Fall für die Anstalt, wenn du mich fragst.«
»Nicht ganz dicht. Kommt nicht drüber weg, dass seine Zeit vorbei ist.«
»Er telefoniert zu viel. Soll über 100 Handys besitzen, hab ich gehört. Kein Wunder, dass er dabei irre wird.«
Dieses Jahr, im Juni, wird er achtzig. Feiern wird er nicht, sagen alle, die João kennen. Weil er nie was feiert. Schaut lieber Fußball im Fernsehen, sein Lieblingsteam in Rio: Botafogo.
Wer ist er, was macht er da die ganze Zeit in seinem Apartment? Ist er Exzentriker oder Misanthrop, Dandy oder Kauzkopf? Viele Gerüchte gibt es über ihn, Rios Zeitungen drucken sie alle: Er soll die ganze Zeit Gitarre spielen, wie ein Irrer immer dieselben Lieder. Angeblich ruft er Fremde aus dem Telefonbuch an, um stundenlang mit ihnen über brasilianische Seifenopern und Boxkämpfe zu reden. Einmal soll ihm eine Liebhaberin 80 000 Euro geklaut haben. Angeblich kann er die Katzensprache und heult gern mal den Mond an. Der Koch, bei dem er fünf Jahre lang dasselbe Gericht bestellte (Steak), hat ihn in der ganzen Zeit kein einziges Mal gesehen, weil João sich immer hinter der Tür versteckte, wenn der Koch das Essen persönlich brachte. Angeblich kifft João nicht mehr. Angeblich kifft er wieder. Er liest gern in den Sternen und freut sich, wenn man ihm Nachrichten unter der Tür durchschiebt. Studiert Blumen.
Darüber, warum er so ungern rausgeht, gibt’s mehrere Theorien: 1. Er findet Sonnenbrillen affig. 2. Die Enge seiner Wohnung erinnert ihn an die Zeit, als er sich vier Monate lang in das Badezimmer seiner Schwester einschloss, um einen neuen Gitarrenstil zu erfinden. 3. Er leidet an Depressionen. Zuletzt hieß es, er sei auf Facebook sehr aktiv. Waren dann aber doch irgendwelche Typen, die sich für ihn ausgaben. Aktuellste Nachricht: Die Besitzerin des Hauses will João rauswerfen lassen, weil sie sein Apartment seit eineinhalb Jahrzehnten nicht gesehen hat und seinen Lebensstil verachtet, wie es hieß.
Nur wenige Leute haben Zugang zu ihm. Sein Agent Otavio, ein verrückter Schauspieler; seine Exfrau Miúcha, mit der er die Tochter Bebel Gilberto, 45, hat; seine Freundin Claudia, eine Journalistin. Selbst viele von Joãos alten Musiker-Weggefährten aus den Bossa-Nova-Zeiten halten ihn für komplett irre und auch ein bisschen arrogant, weil er jedes Angebot, mit ihnen aufzutreten, ablehnt. Dazu sind einige von ihnen neidisch auf die Kunst des João Gilberto, seine Mischung aus Gesang und Gitarre, Atem und Akkorden, mit der er aus jedem Lied einen Bossa Nova machen kann; seinen Bossa Nova.
Jeder, der ihn einmal traf, denkt den Rest seines Lebens über ihn nach. Sein Agent Otavio ist der Meinung, João strahle die seltsame Energie eines Yogi aus, die aus einer geheimen Diamantenmine in den Bergen von Minas Gerais gespeist würde. Absolut möglich.
Fotos: Getty