»Von da an war ich Horowitz’ Liebling«

Ohne den Klavierstimmer Franz Mohr wären die größten Pianisten des 20. Jahrhunderts aufgeschmissen gewesen. Ein Gespräch über bizarre Bühnenmomente, Haarspray auf den Tasten und die Marotten von Horowitz, Rubinstein, Gould und anderen Klavier-Genies.

Vor der Tür New York, an den Wänden die Bilder der alten Heimat: Mohr, umgeben von Gemälden deutscher Fachwerkidylle (die Stimmer-Schürze trägt er nur fürs Foto).

Eigentlich könnte man hier einfach das Inhaltsverzeichnis eines Nachschlagewerks drucken, so was wie »Die großen Pianisten des 20. Jahrhunderts« – bei fast jeder Persönlichkeit wäre sicher, dass Franz Mohr für sie gearbeitet hat: Vladimir Horowitz, Artur Rubinstein, Glenn Gould, Rudolf Serkin, Emil Gilels, Swiatoslaw Richter, Martha Argerich, Claudio Arrau, Maurizio Pollini … Sie alle verdankten ihm ihren Ton. Der gebürtige Rheinländer Franz Mohr war über Jahrzehnte hinweg der wichtigste Klavierstimmer der Welt, er begleitete die Größten auf ihren Tourneen und bereitete unvergessliche Aufnahmen vor. Heute ist er 93 Jahre alt und lebt mit seiner Frau in einem Vorort von New York. Kaum jemand kennt das besondere Verhältnis von Künstler und Klavierstimmer so genau wie er. Und kaum jemand kann noch so von diesen Zeiten und Namen erzählen wie er (im Original übrigens in einer sehr schönen Mischung aus Englisch mit deutschem Akzent und Deutsch mit rheinischem Dialekt).

SZ-Magazin: Herr Mohr, sind Klavierstimmer im ­Grunde verhinderte Pianisten?
Franz Mohr: Im Idealfall nicht. Je weniger ein Klavierstimmer das Gefühl hat, eigentlich sollte er da auf der Bühne sitzen, umso besser.

Ein Geiger braucht keinen Geigenstimmer, eine Cellistin keinen Cello­stimmer. Das Klavier ist das einzige ­Instrument, das von jemand anderem vorbereitet wird. Was ist das grundsätzlich für ein Verhältnis: der Pianist und der Klavierstimmer?
Es ist in der Tat eine besondere Zusammenarbeit. Ich wollte mich nie wichtig nehmen, aber Vladimir Horowitz zum Beispiel hat oft, wenn wir in größerer Gesellschaft waren, quer durch den Saal gerufen: »Franz, du bist der wichtigste Mann im Raum!« Ich sagte immer: »Nein, Maestro, das sind Sie!« Aber er beharrte: »Nein, Franz, wenn der Flügel nicht in Ordnung ist, spiele ich nicht, ich bin abhängig von dir.« Ich selbst bin ja im Grunde nicht mal Klavierspieler.

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Sondern?
Ich habe als junger Kerl in Köln Geige ­studiert, Anfang der Vierzigerjahre.

Noch mitten im Krieg.
Ja, eine fürchterliche Zeit. Nach einem Luftangriff brannte die Musikhochschule. Ich werde nie vergessen, wie die berühmte Orgel der Schule starb. Wissen Sie, bei einem starken Feuer entsteht ungeheuer viel Wind – die Pfeifen heulten, es war schauderhaft, es klang wie ein Todeskampf. Bis zuletzt hörte man einen ganz hohen Pfeifenton, entsetzlich.

Haben Sie trotzdem Ihr Studium ­abgeschlossen?
Nein, ich bekam Probleme mit meinem ­linken Handgelenk, ständig Entzündungen. Irgendwann musste ich einsehen: Ich kann kein ausübender Musiker sein. Da war ich 16, vielleicht 17. Eine Welt brach für mich zusammen.

Immerhin waren Sie nicht so verbittert, dass Sie sich von der Musik abgewendet hätten.
Ibach, die älteste Klavierfabrik Deutschlands, suchte damals Lehrlinge. Ich dachte, das hat immerhin etwas mit Musik zu tun, also lernte ich das Handwerk des Klavierbaus. Meine Meisterprüfung habe ich schon nach anderthalb Jahren gemacht.

Wie hat es Sie dann in die USA verschlagen?
Schon damals war Steinway & Sons das Nonplusultra. Ich bewarb mich bei denen in Düsseldorf, zunächst in den Werkstätten, dann habe ich Klaviere für Konzerte vor­bereitet. Ende der Fünfzigerjahre habe ich in Deutschland für die Großen gestimmt, Rudolf Serkin, Wilhelm Kempff oder Alicia de Larrocha. Dann bekam ich eine Ein­ladung von Steinway USA, ich sollte nach New York kommen und mich vorstellen.

Wozu brauchten die Sie?
Der Chef-Stimmer suchte einen Assis­tenten, man hatte ihm gesagt, ich könnte das. Also sind wir, meine Frau, die Kinder und ich, 1962 mit dem Schiff rüber. Alles, was wir hatten, haben wir in zwölf Koffern mitgenommen. Ich stand den Steinways persönlich gegenüber, die stellten sich gleich mit Vornamen vor. Ich zeigte meine Ausbildungspapiere, aber die sagten nur, jaja, sehr nett, hier steht ein Flügel, mach uns mal eine Stimmung. Das konnte ich. Und hatte den Job.

Als Assistent haben Sie aber nicht sofort für die ganz großen Pianisten gearbeitet.
Doch, das kam schnell. Es ging los mit ­Vladimir Horowitz Anfang der Sechzigerjahre. Der hatte zu dem Zeitpunkt seit zwölf Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit ge­spielt. Dann entschloss er sich, wieder aufzutreten. Die Leute campierten auf der Straße, um an Karten zu kommen. Die Schlange ging von der Carnegie Hall die ganze Straße entlang und um die Ecke. Horowitz war soooo nervös! Und er war nicht zufrieden mit dem Flügel. Der Chef sagte, Franz, ich weiß nicht, was ich machen soll, übernimm du.

Was hat ihm denn nicht gepasst?
Das war gar nichts Wildes. Er war vor allem aufgeregt. Wir hatten drei Proben und haben alles versucht. Mit den Vorhängen experimentiert, die Decke tiefer und höher. Den Flügel an verschiedene Stellen der Bühne gestellt. Horowitz schrie rum: Nein, es war vorher besser! Jetzt! Halt! Doch! Schließlich kamen wir auf die Idee, wir bewegen ihn und den ­Flügel auf der Bühne, und er soll uns sagen, wo es am besten ist. Das war Schwerarbeit, wir mussten den Flügel samt Hocker und ­Horowitz rumschieben. Bis er stopp schrie.

Und dann war er zufrieden?
Mit der Position ja, mit dem Flügel trotzdem nicht. Das ging über Stunden.

Was genau war da zu regulieren?
Es geht schon los mit den Tasten. Die waren ihm nicht schnell genug. Horowitz hatte so ungeheuer schnelle Finger – die Hämmer kamen zu langsam zurück.

Sie meinen, wenn er eine Taste zum zweiten Mal anschlug, hatte sich der Hammer noch nicht ganz wieder in die Ausgangsposition zurückbewegt?
Genau. Ich musste die Federn so stark anziehen, dass fast nichts mehr ging. Der Flügel war schließlich so reguliert, dass ihn kein anderer Mensch mehr hätte spielen können. Und von da an war ich Horowitz’ Liebling.

Von Allegro bis Allüre I

Vladimir Horowitz: Der Russe (1903–1989) war ein Gigant – und ein gigantischer Exzentriker. Seine weltweiten Tourneen und Millionengagen machten ihn zu einem Popstar der Klassik. Er hätte allerdings jeden verflucht, der ihn so nennt.

Glenn Gould: Keiner hatte so viele Schrullen wie der Kanadier (1932–1982), keiner konnte Bach so spielen wie er. Er nannte sich selbst den »letzten Puritaner« – und meinte das höchstens halb ironisch.

Fotos: dpa/pa/AP, akg images, INTERFOTO/IMAGO/Barbara Pflaum, mauritius images/MARKA Alamy, mauritius images/Photo 12/Alamy

Der nächste große Pianist, mit dem Sie eng zusammengearbeitet haben, war der Kanadier Glenn Gould, verehrt als Genie, gefürchtet als schwieriger Zeitgenosse.
Oh ja! Mit dem hatte es sich mein Vorgänger verscherzt durch eine ganz unglaubliche Geschichte. Er war ins Studio gekommen, wo Gould gerade eine Platte aufnahm. Er sagte: »Na, wie geht’s?«, und langte Gould leutselig auf die Schulter. Gould verzog das Gesicht und behauptete, seine Schulter sei verrenkt. Er ging sogar vor Gericht und forderte 57 000 Dollar Entschädigung!

Er war ein berüchtigter Hypochonder.
Da war sofort klar, mein Vorgänger konnte auf keinen Fall mehr für ihn stimmen. Ich musste übernehmen. Fritz Steinway, mein Chef, sagte immer: Franz, stimm den Flügel nur, rühr ihn ja nicht an!

Sie sollten nicht darauf spielen.
Da war Gould eigen. Wie mit überhaupt allem. Aber ich hatte Glück, mich ließ er machen. Er wollte seinen Flügel immer so leicht wie möglich eingestellt haben, wie Horowitz. Bei beiden konnte man fast schon auf die Tasten pusten, und es kam ein Ton raus. Es gab eine Zeit, da musste ich einmal im Monat zu Glenn nach Toronto fliegen und seinen Flügel einstellen. Er hat mich jedes Mal selbst mit dem Auto am Flughafen abgeholt.

Klingt freundschaftlich. Mussten Sie dennoch vorsichtig sein mit ihm?
Ja! Man durfte kein Wort äußern, das nach Kritik klang. Glenn ging grundsätzlich nicht in die Konzerte anderer Musiker. Warum, habe ich nie ganz verstanden.

Es heißt, er hatte einen Müllsack dabei, wenn er zu Proben kam. Was hatte er da drin?
Ein Paar Socken. Und Holzblöcke, auf die der Flügel gestellt werden musste, damit er so hoch wie möglich stand. Er wollte ganz niedrig sitzen, die Tastatur auf Augenhöhe. Vor Konzerten hat er seine Hände in hei­ßem Wasser gewaschen, so heiß es nur ging. Ach, er war ein komischer Kauz. Hatte die Schuhe beim Spielen neben sich liegen. Und er hat immer seinen eigenen Klappstuhl mitgebracht, ein unglaublich wackliges Ding, zusammengehalten mit einem Draht. Den Stuhl durfte ich nicht mal tragen. Der war aus dem Leim, der hat gequietscht, der drohte immer auseinanderzufallen. Einmal kam George Szell, der ­Dirigent des Cleveland Orchestra, auf die Bühne, sah Gould und sagte, mit so einem Landstreicher spiele ich nicht! Wir mussten ihn beruhigen, dass der später dann schon einen Anzug tragen wird.

Sie haben seine Flügel akribisch vor­bereitet, dann setzt er sich ans Instrument, spielt – und summt die ganze Zeit hörbar mit. Hat Sie das nicht rasend gemacht? Sie stecken so viel Mühe da rein, und dann singt der Mann alles kaputt?
Natürlich, er hat ganze Aufnahmen damit zerstört, die konnten nicht verwendet werden. Aber das musste man hinnehmen. Er sollte mal die große Elisabeth Schwarzkopf begleiten, die Schubert-Lieder sang. Bei den Proben hat er ihr plötzlich vorgesungen, wie er das haben wollte. Die hat ihren Nerzmantel angezogen und war weg. Die Aufnahmen kamen nie zustande.

Offenbar waren Gould die Neben­geräusche völlig egal. Er hat ja seinen Flügel auch so einstellen lassen, dass ein Nachklappen entstand.
Der Hammer fiel so schnell in die Halterung zurück, dass es ein Klopfen erzeugte. Das Drumherum war ihm ganz gleich.

Wie lange haben Sie mit ihm gearbeitet?
Er ist ja schon mit 50 gestorben, 1982. Viel zu früh. Er hatte immer die Taschen voller Medikamente. Ich weiß noch: Aufnahmen in den berühmten Columbia Studios, 30. Straße. Ich bin einen Tag vorher hin, um mir den Flügel vorzunehmen. Plötzlich rief er an, von den Niagara-Wasserfällen aus, da ist ja die Grenze. Er fuhr immer selber mit dem Auto, er ist nie geflogen. Er sagte also, geh nach Hause, die lassen mich nicht ins Land! Die Grenzpolizei hatte die ganzen Medikamente in seinem Auto gesehen. Danach haben wir nur noch in Toronto aufgenommen.

Gould wollte seinen Flügel ganz leicht eingestellt haben, Horowitz ebenso. Gab es auch Pianisten, die ihren Flügel lieber schwergängig mochten?
Artur Rubinstein. Der wollte Wider-stand, der wollte mit Kraft spielen! Ach, ­Rubinstein …

Das ist der Hammer: In seinem Wohnzimmer hat Mohr nicht nur einen Flügel, sondern auch ein Stück Tastatur, an dem er seine Arbeit demonstrieren kann.

Fotos: Cait Oppermann/East

Wann sind Sie ihm zum ersten Mal begegnet?
Carnegie Hall, frühe Sechzigerjahre. Ich war schrecklich nervös. Ich wusste ja, dass er ungeheuer viele nahestehende Menschen im Holocaust verloren hatte. Dass er es vermied, Deutsch zu sprechen, wenn es ging. Obwohl er es fließend konnte. Und jetzt sollte ich vor ihn treten, ein Klavierstimmer aus Deutschland. Aber er mochte mich. Er hat mich immer »Herr Mohr« genannt, auf Deutsch. Über die Jahre wurden wir Freunde.

Deutsch hat er trotzdem nie mit Ihnen gesprochen?
Einmal sagte er zu mir: Herr Mohr, ich habe gerade in Amsterdam gespielt, und wissen Sie was, die meisten der Zuhörer waren Deutsche, die extra angereist waren. Da habe ich gesagt: Maestro, das ist doch eine neue Generation, geben Sie wieder Konzerte in Deutschland, den Jüngeren zuliebe. Und auf einmal fragte er auf Deutsch: »Kannst du mir helfen?« Er wollte, dass wir zusammen Briefe nach Deutschland schreiben, um Konzerte vorzubereiten.

Die meisten Pianisten, mit denen Sie zu tun hatten, waren schwierige Menschen. Nur Rubinstein
Er war ein happy guy! Fehler nahm er mit Humor. Er sagte immer, die falschen Noten, auf die achte er gar nicht, die kommen ja von allein. Aber auch er hatte seine Eigenheiten. Vor unserem ersten Konzert fragte er, haben Sie die Tasten gereinigt? Ich sagte, selbstverständlich! Darauf er: Oh nein! Er legte Wert darauf, dass die Tasten nicht zu glatt, nicht zu rutschig sind. Er sagte: Ich kann sie sonst nicht kontrollieren. Also mussten sie ein bisschen benutzt sein, fast ein wenig klebrig. Katastrophe! Zum Glück steckte mir der Stage Manager eine Dose Haarspray zu. Ich sprühte die Tastatur ein, da waren die Tasten griffig. Von dem Tag an hatte ich immer eine Dose Haarspray dabei.

Was für ein Verhältnis hatten Horowitz und Rubinstein zueinander? Hatten Sie mal mit beiden gleichzeitig zu tun?
Wo denken Sie hin? Nein! Ich bin bei Steinway instruiert worden, niemals im Beisein von Horowitz über einen anderen Pianisten zu sprechen. Man musste so vorsichtig sein!

Warum?
Es konnte einen den Job kosten. Es gab bei Steinway einen ranghogen Mitarbeiter, der hat einmal in einer Unterhaltung mit Horowitz ein kritisches Wort gewagt. Horowitz schwieg – und als der Mann ging, sagte Horowitz, der kommt mir nie mehr ins Haus. Der Mann hat seinen Job verloren.

So eine Macht hatte Horowitz?
Ja, ungeheuer. Man musste auch ordentlich angezogen sein in seiner Gegenwart. Einmal hat er eine große Einladung gegeben. Da kam der Dirigent James Levine, wie immer mit seinem Handtuch über der Schulter. Er wurde nie wieder eingeladen.

Das klingt alles, als sei Horowitz ein verbiesterter Typ gewesen.
Nein, er hatte einen großartigen Humor! Einmal begrüßte er mich auf einem seiner Empfänge mit einem lauten: Franz, wer hat dich denn eingeladen? Ich sagte, äh, Sie. Darauf er: Wie konnte ich nur, du erinnerst mich an die Arbeit!

Aber er hat auch viel gewütet.
Ja, wie ein Wahnsinniger! Einmal in der Carnegie Hall … Er hatte immer einen Tisch neben sich stehen mit einem Glas Wasser. Er probte – und plötzlich fing er an zu schreien, der Flügel steht schief! Der kippt Richtung Bühnenrand! Holt sofort Franz! Stimmte natürlich überhaupt nicht. Ich bin auf die Bühne gesprungen. Da holt er mit dem Glas aus und will es mir an den Kopf werfen – im letzten Moment hat er sich gebremst. Danach bin ich immer mit Wasserwaage gereist.

Konnte man irgendetwas dagegen tun?
Wenn er Aufnahmen machte, stellten wir im Studio ein Bett bereit, und bevor es losging, musste er erst mal zur Ruhe kommen.

Sie gehören zu den wenigen, die ihn gelegentlich improvisieren hörten.
Ja, er konnte spontan Stücke erfinden, die klangen wie große Werke der Musikgeschichte. Und er hatte ein fotografisches Gedächtnis. Ab und zu hat er junge Kom­ponisten vorgelassen, die durften ihm zeigen, was sie hatten, gelegentlich interessierte er sich dafür. Die standen dann vor ihm, zeigten die Noten, er las einmal drüber, legte sie weg – und spielte das ganze Stück auswendig runter.

Hat er nie Kritik zugelassen?
Wenn, dann nur von seiner Frau. Du bist heute nicht in Form, Vladimir, hat sie manchmal gesagt, wenn das so weitergeht, komme ich heute Abend nicht!

Stimmt es, dass Horowitz seine Gage vor den Konzerten in bar wollte?
Absolut richtig. Manchmal hat er mir das Geld in die Hand gedrückt, ich sollte es verwahren. Ich durfte es aber nicht zählen. Ach, Horowitz… Ich vermisse ihn.

Haben Sie bis zu seinem Tod mit ihm gearbeitet?
Ja, aber die letzten Jahre waren nicht leicht. 1984 spielte er zwei Konzerte in Tokio. Die zahlten ihm eine Million Dollar, das war damals unglaublich viel Geld. Wir sind hingeflogen, erste Klasse, samt Arzt und Hausmädchen. An einem Abend in Tokio hat der Arzt in der Pause ständig an Horowitz rumgedoktert, ihm irgendwelche Medikamente gegeben. Horowitz spielte sein Konzert zu Ende – aber es war zum Weinen, er hatte seine Finger nicht mehr richtig unter Kontrolle. (Mohr kommen die Tränen.) Das Konzert war so schlecht! Die Japaner haben höflich applaudiert. Aber danach kam Wanda hinter die Bühne, weinte an meiner Schulter und sagte, Franz, das war kein Konzert, das war eine Beerdigung – wir werden Horowitz nie mehr hören, wie wir ihn kannten.

Er hat trotzdem bis zu seinem Tod 1989 noch Konzerte gegeben.
Zum Glück hat er seinen Arzt gefeuert. Als er sich erholt hatte, sagte er: »Franz, wir fahren noch mal nach Tokio, ich werde den Japanern zeigen, dass ich Klavier spielen kann.« Und er behielt recht.

Es gab ein berühmtes Konzert 1976 in der Carnegie Hall: Vladimir Horowitz, dazu Isaac Stern und Yehudi Menuhin an der Geige, der Cellist Mstislaw Rostropowitsch, Dietrich Fischer-Dieskau hat gesungen, Leonard Bernstein dirigiert. Sie mittendrin. Wie war das?
Fantastisch. Eine unvergessliche Begebenheit.

Es heißt, Rostropowitsch als Cellist wollte damals leicht erhöht auf einem Podest sitzen.
Ja, Horowitz hat das erst nicht zugelassen. Alle mussten auf gleicher Höhe sitzen. Am Ende hat er es ihm doch erlaubt.

Welche anderen Pianisten hatten aus­gefallene Wünsche?
Maurizio Pollini! Es konnte vorkommen, dass er bei der Probe vom Flügel aufsprang und sagte, da ist ein einzelner Ton zu laut, der muss sofort eingestellt werden. Unglücklicherweise hat er mich einmal beim Stimmen ein paar Takte spielen hören. Ich habe sonst grundsätzlich nie vor Pianisten Klavier gespielt. Von da an konnte es passieren, dass er sagte, Franz, spiel deinen Schumann, und dann stellte er sich vor die Bühne, um die Akustik zu prüfen. Das habe ich gehasst! Ich bin Klavierstimmer, kein Künstler.

Von Allegro bis Allüre II

Artur Rubinstein: Geboren als siebtes Kind einer polnischen Arbeiterfamilie, war Rubinstein (1887–1982) ein liebenswerter Mann, der es schaffte, die Härten des Lebens am Klavier in Lebensfreude zu übersetzen.

Martha Argerich: Mal impulsive Auftritte, mal jahrelanger Rückzug – in der Welt der klassischen Musik hatte die Argentinierin (geboren 1941) schon immer eine Ausnahmerolle inne. Bis heute atemberaubend: ihre Einspielung von Rachmaninows 3. Klavierkonzert in d-Moll.

Maurizio Pollini: Der Mailänder (geboren 1942) begeisterte, wie Artur Rubinstein, vor allem mit Chopin-Aufnahmen. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen erwärmte er sich aber auch für die neutönenden Komponisten des 20. Jahrhunderts.

Fotos: dpa/pa/AP, akg images, INTERFOTO/IMAGO/Barbara Pflaum, mauritius images/MARKA Alamy, mauritius images/Photo 12/Alamy

Manche Pianisten haben verlangt, dass Sie in der Pause eines Konzerts den Flügel nachstimmen.
Das war reiner Spleen. So schnell verstimmt sich ein Flügel nicht. Mit Horowitz gab es aber auch mal das Gegenteil: Ihm riss eine Saite. Haben Sie das schon mal erlebt, dass eine Klaviersaite reißt? Kommt praktisch nie vor. Ihm war es egal, er wollte weiterspielen. Aber die Saite lag quer über den anderen, das ergibt schlimme Nebengeräusche. Also musste ich mitten im Konzert raus. Es war im Bass unten, ein As …

Sie wissen noch, welcher Ton das war?
Ja. Diese tiefen Töne sind Doppelsaiten. Wenn eine reißt, ist der Ton noch da, ich musste also nur die gerissene Saite rausnehmen. Ich kam mit meinem Köfferchen, und Horowitz flüsterte, Franz, mach dir keine Sorgen, ich habe sowieso lauter falsche Noten gespielt, ich spiel’ alles noch mal von vorne.

Haben Sie sich auch mal Wünschen widersetzt?
Ein Beispiel. Die Berliner Philharmoniker haben in der Carnegie Hall gespielt, Claudio Abbado war der Dirigent. Ich hatte mir vorher ihren Kammerton schriftlich geben lassen, das war bei denen 443 Hertz. Exakt so habe ich den Flügel gestimmt. Zehn Uhr früh Probe, der Oboist springt wütend auf und sagt, so spielen wir nicht, das ist viel zu hoch! Ich hatte aber ein elektronisches Stimmgerät dabei – und das zeigte 443. Wissen Sie, was Abbado sagte? Überprüfen Sie mal Ihre Elektronik. Aber man kann einen ganzen Flügel nicht in kürzester Zeit auf einen anderen Kammerton stimmen. Okay, dann also das Konzert. Danach kommt Abbado zu mir und sagt, vielen Dank, dass Sie das noch geregelt haben. Dabei hatte ich gar nichts geändert, haha!

Sie haben auch mit Martha Argerich gearbeitet. Wie war das?
Angenehm! Die hat allerdings eine Zigarette nach der anderen geraucht. Und dann legte sie die auf die Klaviatur, die brannten vor sich hin und haben die Tasten verkokelt. Das hat mir in der Seele wehgetan.

Frédéric Chopin hat gesagt: »Das Klavier ist mein zweites Ich.« Was für einen persönlichen Bezug zum Instrument haben Sie?
Für mich ist der Flügel, vor allem der Steinway-Flügel, ein Instrument, das sich auf ganz wunderbare, fast magische Weise mit dem menschlichen Gehirn verbindet.

Welche Möglichkeiten hat der Klavierstimmer? Wenn der Pianist zum Beispiel sagt, der Flügel ist mir nicht brillant genug in den Höhen?
Man kann die Hämmer ganz runterfeilen, dann haben sie weniger Filz. Das habe ich nicht gern gemacht. Ich hatte aber, darf man eigentlich gar nicht sagen, meine eigene Tinktur. Damit konnte man den Filz des Hammers ein wenig verhärten. Wirklich nur ein ganz winziger Tropfen, nicht mehr als ein Bleistiftstrich. Ein paar Minuten später war der Ton härter, lauter.

Und was machen Sie, wenn der Klang zu hart ist?
Kein Problem, dann nimmt man eine Nadel und sticht in den Filz, das macht ihn weicher.

Wie oft muss man die Saiten eines Flügels wechseln?
Nur wenn eine reißt. Wenn das im Studio während einer Aufnahme passiert ist, habe ich gesagt, Leute, geht mal einen Kaffee trinken. Ich habe dann eine neue Saite eingezogen und die einen ganzen Ton höher gestimmt. Damit ordentlich Zug drauf ist. Nach einer Weile dann runter auf den gewünschten Ton.

Muss man als Klavierstimmer also immer sehr viele Saiten dabeihaben?
Für den Diskant, also den obersten Bereich, auf jeden Fall. Mir ist es aber auch mal passiert, dass am Nachmittag vor dem Konzert eine Saite gerissen ist. Da habe ich eine gebrauchte von einem anderen Flügel genommen. Die hatte schon die richtige Spannung. So was darf man aber niemals dem Künstler sagen!

Der Stimmer kümmert sich auch um die Pedale, oder?
Ja, und auch da sind die Pianisten sehr unterschiedlich. Das linke Pedal dient ja dazu, den Ton leiser zu machen. Horowitz wollte so viel Effekt wie möglich, er fragte, kann man da nicht noch weitergehen? Ich habe geschraubt und gefeilt wie ein Verrückter. Rubinstein dagegen … Der sagte nur, vergessen Sie das Pedal, wenn ich pianissimo brauche, spiele ich pianissimo mit meinen Fingern.

Hat Sie mal ein Flügel zur Verzweiflung getrieben? Dass Sie dachten, das Instrument ist bis heute Abend nicht hinzukriegen?
Wenn man das denkt, muss man es für sich behalten. Sonst macht man den Pianisten verrückt. Barenboim wollte mal aus künstlerischen Erwägungen, dass ich in der Pause einen anderen Flügel für die zweite Hälfte bereitstelle. Weil das Programm anders weiterging. In solchen Fällen versucht man, die Künstler mit sanften Worten davon abzubringen. Es sieht nie gut aus, wenn mittendrin das Instrument gewechselt wird.

In einem Buch haben Sie mal erwähnt, es gebe einen Unterschied zwischen einem europäischen und einem amerikanischen Ton.
Früher war das der Fall. Die Europäer mochten es weicher, die Amerikaner brillanter. Das hat sich über die Jahre aber angeglichen.

Sie haben ein Leben lang ganz genau hingehört. Hat das Ihr Gehör verändert? Wie geht es Ihnen zum Beispiel, wenn Sie heute das Radio anmachen?
Oh, sehr oft ist es kein Segen, wenn man gute Ohren hat. Bei manchen Aufnahmen hat man richtig Probleme, man merkt, das Instrument ist nicht sauber gestimmt, das kann einen ganz nervös machen.

In Ihrem Wohnzimmer steht ein Flügel. Wie oft spielen Sie heute darauf?
Gar nicht mehr. Auf den Klavierhocker setze ich mich gelegentlich. Den hat Horowitz mir überlassen. Seinen anderen bekam Murray Perahia. Tja, der Hocker, den wollten mir schon viele abkaufen. Die Leute flehen, sagen Sie uns wenigstens, wie hoch er den eingestellt hatte. Ich sage, genau 43 Zentimeter. Dann sind sie glücklich und stellen ihren Hocker auch so ein. Klar, dann können sie plötzlich spielen wie Horowitz, oder?­