Wenn man einer repräsentativen Studie des Reiseportals Expedia glauben darf, dann steigt die Quote der Deutschen, die für mehr Urlaub auf Sex verzichten würden. Vor zwei Jahren lag sie bei 25 Prozent aller Deutschen, inzwischen sind es bereits 30 Prozent, die eine Woche auf Sex verzichten würden, um einen Tag Urlaub extra zu bekommen. Es handelt sich um eine hypothetische Situation, die bei Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern abgefragt wurde; nicht um ein reales Angebot des erwähnten Reiseportals. Dies wäre auch schwierig, denn: Wer würde das überprüfen wollen, und wie würde die Koordination mit dem Arbeitgeber funktionieren: »Müller zwo: Sie kriegen drei Extra-Tage Urlaub gutgeschrieben, Respekt. Der Gutachter hat alles abgenickt. Na, dann gehen Sie mal nach Hause und ruhen, äh toben sich aus. Zwinker!« Das wäre noch furchtbarer als jede reale Kommunikation mit der Personalabteilung über das Urlaubstagekonto.
Weltweit liegt Deutschland mit dieser hohen Quote von Urlaubs-Erotikern jedenfalls auf einem guten dritten Platz (bei den Schweden sind es 39 Prozent, in Finnland, Japan und Singapur auf einem gemeinsame zweiten Platz 32 Prozent). Warum aber ist einer wachsenden Zahl von Menschen der Urlaub wichtiger als Sex? Um künftige Debatten zu diesem Thema zu erleichtern, bieten wir hier drei Erklärungsmodelle dafür an, warum Urlaub der neue Sex ist.
Die freudianische Erklärung
Sigmund Freud, erster Patentinhaber der Psychoanalyse, unterschied in seiner Triebtheorie zwischen dem Todestrieb (Thanatos) und dem Lebenstrieb (Eros), in deren Spannungsfeld sich das menschliche Leben abspielt. Ist der Urlaubstrieb (Tourismos) nun beim Menschen des 21. Jahrhunderts an die Stelle des Eros getreten? Dies würde zu kurz greifen. Wenn man sich die gängigen Preisvergleichsportale, die neu entstehenden Feriendörfer, die aktuelle Flughafenarchitektur, die Pop-up-Fenster mit Zusatzversicherungen bei Online-Portalen und die Sitzabstände bei Economy-Class-Flügen anschaut, kommt man viel mehr zu dem Ergebnis, dass der Urlaubswunsch der zeitgenössische Todestrieb ist, und dass auf diese Weise das natürliche Triebgefüge des Menschen durch den Tourismos durcheinander geraten ist: Der Mensch entsagt dem Eros, weil der Tourismos der neue Thanatos und stärker als alle anderen Triebe ist. Dies merkt man im Alltag bereits daran, dass Menschen nun zu Zeiten, da sie früher miteinander Sex hatten, vor Laptops sitzen und in WhatsApp-Gruppen potenzielle Feriendomizile vergleichen.
Die marxistische Erklärung
Im postindustriellen Zeitalter ist für viele Arbeitende nicht mehr der Lebenserhalt der Sinn und die Mehrwertschöpfung das Resultat ihrer Arbeit, sondern: der Urlaub. Die Maxime »Ich arbeite eigentlich immer nur auf den nächsten Urlaub hin« ist weit verbreitet in Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerkreisen. Das kapitalistische System hat hier einen Kreislauf entwickelt, aus dem es kein Entrinnen gibt: Wir arbeiten immer mehr, um uns die Urlaube leisten zu können, von denen wir denken, dass wir sie verdienen, weil wir so viel arbeiten; zugleich brauchen wir immer mehr von diesen Urlauben, um uns von der durch den Urlaubstrieb (s.o.) verursachten Mehrarbeit zu erholen. Die Folgen sind bekannt: Burnout, Wutbürgertum, Handgemenge beim Boarding. Zeit für oder Lust an Sex hat da naturgemäß niemand mehr.
Die anthropologische Erklärung
Mit dem Beginn der geochronologischen Epoche des Anthropozäns ist das Projekt Mensch aus evolutionärer Sicht abgeschlossen: Dem Menschen ist es gelungen, durch sein Verhalten zu einem wichtigen Einflussfaktor auf die biologischen, atmosphärischen und geologischen Prozesse auf der Erde zu werden. Dieser Einfluss wird in absehbarer Zeit dazu führen, dass menschliches Leben auf der Erde nicht mehr möglich ist. Mehr Sex wäre angesichts dessen eher unsinnig: So, als würde man sich eine Kinokarte für eine Vorstellung kaufen, bei der schon der Abspann läuft. Urlaub hingegen ist immer eine willkommene Zerstreuung für die letzten Tage der Menschheit.
Illustration: Eugenia Loli