Ein Date mit Beethoven

Die Berliner Philharmoniker haben unsere Autorin, die sich als Klassik-Dummy bezeichnet, zum großen Beethovenzyklus eingeladen. Ein fünftägiger Selbstversuch zwischen Himbeerbowle, Hustenanfall und der Suche nach einer alten Liebe.

(Foto: Berliner Philharmoniker) 
 
Die Tage haben mich die Berliner Philharmoniker eingeladen: mich persönlich - echt! Ob ich den »Beethovenzyklus» erleben wolle - alle neun Sinfonien an fünf Abenden hintereinander, erst zwei Mal in Berlin, dann in Frankfurt, Paris, Wien, New York und Tokio. Mein erster Gedanke: Beethoven hatte einen Zyklus? Was Klassik angeht, bin ich ein Dummy. Ich höre Klassik - habe aber keine Ahnung. Jedenfalls nicht so, dass ich bei Dominantseptakkorden, Kopfsätzen oder Apotheosen mitreden könnte. Ich bin da ein Gefühlsmensch, das Areal im Hirn, das für Mathe und Musiktheorie zuständig ist, fehlt bei mir. Mein zweiter Gedanke: Wow, kann ich mir aussuchen wo? - Ich würd' ja Tokio nehmen.

Es wurde dann doch Berlin und nicht die Welt-Tournee. Wieso eines der berühmtesten Orchester der Welt ausgerechnet mir einen »Beethoven-Vollrausch« anheim stellte? Weil ich mich schon mal zum Vollhorst gemacht hatte. Die hatten sich amüsiert über meinen Versuch, im Onlinevorverkauf Karten für das Silvesterkonzert zu bekommen. Da dachten sie wohl: Die schreibt lustig ins Internet rein und so Leute brauchen wir auch, wir können ja nicht erwarten, dass alle Kritiker immer verstehen, wovon sie reden. Also ta-tamm und avanti dilettanti!

1.  Abend: Sinfonie, die erste und die dritte (Anmerkung: die Konzerte können Sie sich auch digital im Stream oder am 15. Oktober im Kino ansehen)
Ich habe Husten. Das war mir nicht bewusst. Erst jetzt, als ich in Block A sitze, kommt er hoch. Block A ist der direkt vor dem Orchester. Die Karten sind unbezahlbar, hier sitzen die feinen Leute. Sonst sitze ich da, wo man die Musiker nur von hinten sieht. Oder wo die Leute neben einem einschlafen. Es sind entweder sehr alte oder sehr weit gereiste, Asiatinnen mit Jet-Lag zum Beispiel. Jetzt spielen sie die erste Sinfonie und dann die dritte, die Heroische. Ich kämpfe. Ich muss mich konzentrieren. Damit der Husten nicht oben raus kommt. Wenn man sich richtig doll auf etwas konzentriert, geht das körperliche Gebrechen weg. Also denke ich intensiv daran, wie froh ich bin, dass da vorne Simon Rattle steht und nicht Keith Jarrett. Der ist berüchtigt, weil er Konzerte abbricht, wenn einer im Publikum ungebührlich muckt. (Deswegen baute mein Freund, als er mich zu Keith Jarrett in die Philharmonie einlud, eine Batterie von Tabletten und Säften auf der Balustrade vor uns auf. Und wer musste husten? Tja.) Ich schaue mich um: Zur Tür sind es etwa fünf Meter. Alle würden mich bei meiner Flucht verfolgen. Ich drücke es in den Bauch runter. Die Konvulsionen machen die Frau neben mir nervös. Versteh ich ja auch. Sie schüttelt den Kopf. Sie schüttelt auch den Kopf zur Marcia Funebre, dem zweiten Satz der Eroica. Ich war in der Einführung, daher weiß ich, dass der Marsch hier Napoleon geblasen wurde. Und dass Beethoven auch mal als Dilettant anfing. Um seine erste Sinfonie vorspielen zu können, musste er alles selbst organisieren und bezahlen. Das ist heute immer noch so. Junge Musiker prostituieren sich auch oft auf eigene Kosten. Nur dass das nicht Akademie, sondern Youtube heißt.

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2.  Abend: Sinfonie, die zweite und fünfte plus Leonoren-Ouvertüre
Der Apotheker hat mir eine Pille gegeben, die das Husten-Areal im Hirn ausknocken soll. Es funktioniert. Zumindest bis zur Pause. Die Frau neben mir schüttelt trotzdem den Kopf. Sie ist eine echte Musikkritikerin. Ich denke: Sie weiß in jedem Takt, bei jeder Note, wie das zu spielen wäre. Offenbar macht der Rattle das gerade falsch mit den Philharmonikern. Ich finde sie auch irgendwie nicht so doll. So schnell. So unromantisch. So huschig dirigiert. Ich denke an jenen Moment, ich war noch fast ein Kind, da hatte mich meine Mutter in ein Konzert geschleift. Das Orchester hatte sich beruhigt - es ist immer so eine Aufregung im Anfang, im A -, die Tür flog auf und eine Erscheinung kam herein. Verneigte sich, spannte sich an, der Dirigentenstab flog in die Luft und die Erscheinung macht einen winzigen Satz, in ihren schwarzen Lackschuhen. Es knallte ein bisschen. Und es war Liebe auf den ersten Blick. Er war ein alter Mann und hieß Leonard Bernstein. Meine Mutter musste mir dann erklären, was Charisma bedeutet. Ich war zwölf. Und es war mehr als das. Es kam da zu diesem Moment, der manchmal zustande kommt, auf einer Bühne. Wenn alle Anwesenden, die Musiker und die im Publikum, in diesen Zustand kommen. Wenn es so intensiv wird, sanft und surreal, dass alle den Atem anhalten. Und man spürt: Wir schweben. Alle zusammen. Der Himmel tut sich auf. Lenny - wir Afficcionados nennen ihn so - konnte das. Vor allem mit Beethoven. Ich glaube, er liebte ihn leidenschaftlich. Mehr als Simon. Der hat Schmackes; Bernstein hatte Seele. Lenny - das habe ich in der Einführung mitgeschrieben - hat gesagt: »Wenn Sie das Gefühl haben, die Note, die der vorigen folgt, ist die einzig mögliche Note in genau diesem Moment und diesem Kontext - dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie Beethoven hören.« Ich glaube, Rattle sieht das nicht so.

3.  Abend: Sinfonie, die achte und sechste
Oder hört er es nicht? Wir sitzen hier alle in einem Konzert und versuchen, über unsere Körperlichkeit hinauszuwachsen. Und reiner Klang zu sein. Nicht nur die Philharmoniker. Bei denen sogar ein Dummy wie ich spürt: dass sie großartige Musiker sind, präzise, mitfühlend, makellos. Aber ist es nicht seltsam? - Diese Musik ist für die Sinne gemacht und für das Gespür. Doch obwohl es hier so sinnlich zugeht, müssen wir alle unsere Körper beherrschen: Ich meinen Husten; einer neben mir hat mal geschnarcht - und Tanzen tun wir auch nicht, nicht mal Wippen. Stocksteif und still sitzen wir und schauen und hören. Ta-ta-ta-tammm, die fünfte, mit der Beethoven - hat er selbst so gesagt: »dem Schicksal in den Rachen greifen wollte«. Komisches Bild. Passt aber gerade zu Rattle. Er macht manchmal mit der rechten Hand eine Kralle nach unten, wenn er signalisieren will: Jetzt richtig tief rein da! Die Kritikerin neben mir notiert etwas, in 6-Punkt-Schrift, leider kann ich es nicht entziffern. Bestimmt so was wie im Programmheft auch steht: »Dem getragenen C-Moll des Hauptteils mit seinen stilisierten Rührtrommelwirbeln in den Bässen folgt ein von den Holzbläsern angeführter Maggiore-Abschnitt, der innerhalb weniger Takte in feierliche C-Dur-Fanfaren ausbricht.« Ich finde die Bläser auch geil! Ist halt nicht werkimmanent. Dafür hab ich immanent immer so komische Gedanken. Der Typ an der Pauke sieht aus wie Christoph Ransmayr. Und der an der Oboe wie Mathieu Carrière. Oder ist das eine Flöte?

4.  Abend: Sinfonie, die vierte und siebte
Das Berauschende in der Philharmonie ist nicht die Himbeerbowle. Die ist aber berüchtigt. Auch davon wusste ich nichts. Ein Kollege klärt mich auf. Er ist von einem linksradikalen Blatt, dem er verheimlichen sollte, dass er ein Bildungsbürger ist. Er hat sogar ein Abo! Die Himbeeren lagen bestimmt drei Tage in Alkohol und ich frage mich jetzt, ob hier deswegen so viele Herrschaften über die Stufen purzeln. Dieses Gebäude ist das schönste von ganz Berlin. Wenn man darauf zufährt, ist es wie ein Erlösung, nach all der Hässlichkeit vom Potsdamer Platz. Blöd nur die vielen Winkel und Stufen. Es geht sehr langsam, bis sich die Prozession vom Platz zur Himbeerbowle gewälzt hat. Und wieder zurück. Und dann kommt er doch, der Moment. Als E-Kritiker würde ich ihn schick Kairos nennen: den magischen Moment, wo das Schicksal zu greifen scheint, von ganz weit oben tief rein. Er kommt nicht erst im Allegretto der Siebten, für den ich doch extra gekommen bin, obwohl ich Angst vor meinem Hustenanfall hatte. Denn der kommt immer dann, wenn es nicht sein soll und lässt mich an seiner Echtheit zweifeln, es ist voll psycho. Sobald es pianissimo wird, beginnt es im Rachen zu kratzen. Ich versuche, mich mit Ransmayr und Carrière abzulenken. Funktioniert nicht. Dann halt mit Albrecht Mayer. Er ist so weltberühmt, dass sogar ich drei CDs von ihm habe. Vielleicht auch, weil er die Oboe d'amore mit so viel Liebe spielt. Aber als ich sehe, wie beim Blasen auch seine Gesichtszüge anschwellen, wirkt das wie ein übler Verstärker. Ich presse meine Mütze vor den Mund. Und die Augen. Und bezwinge meinen Körper. Und dann schließe ich die Augen ganz... und höre. Es ist nämlich so, dass ich nicht gut gleichzeitig hören und sehen kann. Ich weiß nicht, wie andere Menschen das hinkriegen - aber es ist ein Grund, weshalb ich ungern in Konzerte gehe. Und lieber daheim laut aufdrehe. Mich lenkt das zu Sehende vom Hören ab. Und an diesem Abend, schon bei der vierten Sinfonie, passiert dann doch das Wunder: Simon Rattle zaubert. Er wird sehr luzide und es kommt der Moment. Und als anschließend fast alle aus ihren Sitzen aufspringen und tosen, nachdem wir bei der - Einführungs-Wissen - »Apotheose des Tanzes« angenagelt in den Stühlen saßen, bei einer Sinfonie, die so wild und dionysisch ist, dass einer lästerte, Beethoven sie »reif für's Irrenhaus"« und ein anderer, die sei wohl im Suff entstanden.... - da denk' ich: Musik ist so toll! Man muss nichts davon analytisch durchdringen. Man spürt es auch so.

5. Abend: Sinfonie, die neunte
Ich sitze in Block B, Reihe 5, Platz 23 und habe eine Zeugin, links neben mir, Platz 22. Nur so, für die Nachwelt. Es ist da nämlich ein Geräusch. Es klingt, als hätte jemand das Radio seines Smartphones angelassen. Ich drehe mich um, rechts, links, hinter mir. Keiner reagiert, alle starren stur geradeaus. Ich frage mich: Sind die nur vornehm - oder alle taub? Es sind sehr viele alte Menschen um mich herum in diesem Block. Taubsein an sich schadet der Musik ja nicht, wie wir von Beethoven wissen. Das Geräusch macht mich irre. Aber ich muss jetzt stark sein, die neben mir müssen es auch, wenn meine Konvulsionen wieder einsetzen. Punktgenau zum Einsatz der Ode an die Freude, ist ja klar, und die beginnt piano piano. Sobald es still ist, wird das Geräusch stiller. Und dann sehe ich es: das Hörgerät im Ohr meines Nachbarn, Block B, Reihe 5, Platz 24. Er merkt natürlich nicht, dass sogar mein Kollege auf den billigen Plätzen ganz hinten das Geräusch auch hört. Wir bleiben alle still, angespannt und voll konzentriert auf dem Beethoven seinen Zyklus. Auf die Musik. Das rührt mich. Wie viel Mühe wir uns hier alle geben, live! Auch wenn ich gestehe, als Banausen-Dummy: Die Neunte sagt mir nichts, egal ob mit oder ohne Lenny. Als ich meinem Nachbarn im Haus von meinem Beethoven-Vollrausch erzähle - er ist 84, gehbehindert und hat nur noch vier Prozent seiner Sehkraft -, wird er ganz still, hält sich an seinem Türrahmen fest und dann seufzt er: »Da wäre ich gern dabei gewesen!« Ich drücke ihm eine Aufnahme von Carlos Kleiber mit der Siebten in die Hand. Mit sehr viel Seele. Und denke: Vielleicht müssen wir alle erst sehr alt werden, um zu verstehen, was diese Musik fürs Leben bedeuten kann.