Am 19. Dezember 2016 erschießt der Tunesier Anis Amri in Berlin einen polnischen Speditionsfahrer, steuert dessen Lkw in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz und tötet dabei weitere elf Menschen. Vier Tage danach wird Amri in der Nähe von Mailand von einem italienischen Polizisten erschossen.
Am Abend des Attentats jedoch geht noch nicht Amris Name um die Welt, sondern ein anderer: Naveed B. Ein junger Mann aus Pakistan, er ist im Zusammenhang mit dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt festgenommen worden. Journalisten finden auf Facebook ein Bild des Verdächtigen, auch das ist bald überall zu sehen.
Naveed B. heißt Baloch mit Nachnamen. Wobei: Eigentlich trägt man dort, wo er herkommt, keinen Nachnamen. Zwei Jahre zuvor hat Baloch seine Heimat verlassen, in Todesangst. Baloch ist Belutsche, er gehört zu einem Volk ohne Staat, dessen Unabhängigkeitsbewegung von der pakistanischen Regierung brutal bekämpft wird. Erst auf der Flucht nennen sich viele Belutschen Baloch – um sich als Angehörige dieser unterdrückten Minderheit erkennbar zu machen.
Mit dem schrecklichen Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt hat Naveed Baloch, 24 Jahre alt, nichts zu tun. Nicht allzu weit vom Tatort entfernt rannte er über eine mehrspurige, vielbefahrene Straßen, um nicht überfahren zu werden und seine U-Bahn noch zu erwischen – das kam der Polizei verdächtig vor und reichte für die Festnahme. Am Abend des 20. Dezember, nach langen Verhören, vielen Missverständnissen und – wie er damals gegenüber der Londoner Tageszeitung The Guardian behauptet – Schlägen von Polizeibeamten, wird er wieder freigelassen und in eine neue Unterkunft gebracht. In seiner bisherigen wäre er nicht mehr sicher gewesen. Der Verdacht gegen Naveed Baloch ist zwar ausgeräumt. Aber die Folgen sind bis heute spürbar, ein Jahr nach dem verhängnisvollen Abend.
Die SZ-Magazin-Autorin Lea Wagner hat Naveed Baloch, der untergetaucht war, nach wochenlanger Suche ausfindig gemacht und in den vergangenen Monaten begleitet. Sie erzählt, wie es Baloch seit der Festnahme ergangen ist. Seine Lebensgeschichte ist ohnehin eine komplizierte, aber die Geschehnisse rund um den 19. Dezember 2016 haben sie nur noch komplizierter gemacht. Baloch leidet seither an Angstzuständen, muss Medikamente nehmen – und bekommt viele Monate lang nicht mal mehr Geld von den Behörden. Naveed Baloch, der vor der Willkür des pakistanischen Geheimdienstes geflohen ist, ist in Berlin in die Wirren der Flüchtlingspolitik geraten – und mitten in das Chaos nach dem verheerendsten Terroranschlag in der jüngeren deutschen Geschichte. Es scheint, als sei Naveed Baloch einfach vergessen worden. So wie das Schicksal seines Volkes. Nun steht in seinem Asylverfahren eine Entscheidung an: Wird das, was er im vergangenen Jahr erlebt hat, diese beeinflussen?
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Foto: Tobias Kruse