Der Bundespräsident sollte einem ja schon von Amts wegen nicht Leid tun. Manchmal lässt es sich trotzdem nicht vermeiden: Über eine Stunde hatten Horst Köhler und seine Frau Eva Luise beim Defilee des Neujahrsempfangs schon ausgeharrt. Dabei blickten sie in eine bedrohliche Wand aus Kameras, und wann immer der nächs-te Gast von rechts den Saal betrat, mussten die Köhlers lächeln, Hände schütteln und ein paar Worte mit dem Gratulanten wechseln: mit Bürgerin Marianne Asche, Sozialarbeiterin Silvia Lins, der stellvertretenden FDP-Chefin Cornelia Pieper, dem Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei Oskar Lafontaine. Horst Köhler absolvierte die ermüdende Pflicht mit erstaunlicher Gelassenheit bis Angela Merkel kam. Während sie gut gelaunt auf Köhler einredete, spannten sich seine Gesichtszüge. Und so, als ob die Bundeskanzlerin diesen Moment für immer festhalten wollte, posierte sie neben dem erstarrten Bundespräsidenten für die Fotografen. Horst Köhler und Angela Merkel kennen sich aus den frühen neunziger Jahren. Damals war sie Frauenministerin und er Staatssekretär im Finanzministerium, und wenn Angela Merkel als Kohls »Mädchen« galt, dann war Horst Köhler sein »Junge« »Er ist ein Schatz«, hatte der Bundeskanzler einmal über ihn gesagt. Köhler blieb auch Merkel in guter Erinnerung, vor allem, weil er einer der wenigen in Bonn war, der sie ernst nahm. Inzwischen ist Merkel nicht mehr das »Mädchen«, sondern Bundeskanzlerin. Köhler ist zwar Bundespräsident, aber immer noch der »Junge«. Nur jetzt eben Merkels »Junge«. Als der Kandidat Köhler 2004 nach sechs Jahren im Ausland in die Bundesrepublik zurückkehrte, kam er in ein ihm fast fremdes Land. Er besaß kaum Kontakte im Politikbetrieb, die Bild-Zeitung nannte ihn "Horst Wer?", er selbst bezeichnete sich als »Gastarbeiter« bis ihm seine Berater sagten, dass diese Menschen in Deutschland nun Immigranten hießen.
Aber gerade wegen seiner Politikferne und wegen seines Auftritts als internationaler Business-Engel, der in eine daniederliegende Volkswirtschaft eingeflogen kam, wurde er bald zum beliebtesten Politiker der Republik. Die Medien feierten ihn wahlweise als den »Kraftmacher« (FAZ Sonntagszeitung), den »Mitmischer« (Financial Times Deutschland) oder »den hungrigen Präsidenten« (Spiegel); noch vor einem Jahr hätte die Mehrheit der Deutschen Horst Köhler weit vor Gerhard Schröder zum Kanzler gewählt. Er selbst sah sich als politischen Präsidenten und sagte: »Ich würde die Dinge nicht nur einmalig benennen, sondern notfalls weitere Initiativen ergreifen, wenn ich den Eindruck hätte, man hört mir nicht zu.« Vor fast 100 Tagen wurde Angela Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt. Seitdem hat sie Horst Köhler als beliebtesten Politiker abgelöst, der Bundespräsident spielt in Berlin ungefähr die Rolle, die Merkel schon Helmut Kohl, Friedrich Merz und Edmund Stoiber zugedacht hatte: keine.
Seltsam heimatlos geistert Horst Köhler durch die Republik, seine Anregungen zur Familienpolitik verhallten im Januar fast ungehört obwohl in der Koalition gerade heftig über das Thema gestritten wurde; als Köhler im Dezember deutliche Kritik an Merkels Politik der »kleinen Schritte« übte, erwiderte die Kanzlerin nur, er habe es bestimmt nicht so gemeint. »Der Mohr«, sagt einer aus Merkels unmittelbarer Umgebung, »hat seine Schuldigkeit getan. So richtig ernst nimmt den keiner mehr.« > Das Verhältnis zwischen Bundeskanzlern und Bundespräsidenten war selten einfach, die gestörte Beziehung zwischen Richard von Weizsäcker und Helmut Kohl ist nur der offensichtlichste Beweis: Angetrieben auch von persönlicher Abneigung befanden sie sich ständig im Clinch. Doch kein Bundespräsident ist bislang so instrumentalisiert worden wie Horst Köhler.
Das politische Lehrstück nahm seinen Anfang, als Angela Merkel ahnte, dass Wolfgang Schäuble als Staatsoberhaupt bei der FDP nicht durchzusetzen sein würde. Gleichzeitig brauchte sie jemanden, dem auch CDU und CSU geschlossen zustimmen würden. In einer für die Politik ungewöhnlichen Offenheit beschrieb FDP-Chef Guido Westerwelle die Situation später so: »Ich denke an die Nacht, als Angela Merkel und ich über unseren Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten entschieden haben. Sie war sehr einsam in ihrem Gremium und so leicht hatte ich es in meiner Partei zum damaligen Zeitpunkt auch nicht. Hätten wir in der Bundesversammlung Professor Horst Köhler nicht durchgesetzt oder vielleicht erst im dritten Wahlgang, wäre Frau Merkel nicht Kanzlerkandidatin geworden und ich wäre nicht Parteivorsitzender der FDP geblieben.«
Die Wahl gelang und Angela Merkel stilisierte den gelungenen Coup zu einer »Gestaltungsmehrheit« des christlich-liberalen Lagers und einem Zeichen gegen Rot-Grün hoch. Angesprochen auf Köhlers hohes Ansehen in der Bevölkerung erklärte CSU-Generalsekretär Markus Söder kurz darauf: »Der Bundespräsident bietet dem Bundeskanzler sehr elegant Paroli.« Wie funktional das Verhältnis Merkels zu Horst Köhler war, zeigte sich endgültig, nachdem ein geschlagener SPD-Chef Müntefering nach Neuwahlen verlangt hatte: Vorsorglich, ohne abzuwarten, wie sich der Bundespräsident zu dem verfassungsrechtlich bedenklichen Schritt äußern würde, ließ sich Angela Merkel zur Kanzlerkandidatin küren.
Ein halbes Jahr später, am 22. November, ernannte Horst Köhler Angela Merkel zur Bundeskanzlerin. Und verspielte damit seinen Einfluss. Die Ursachen dafür liegen auch bei Köhler selbst. Das Amt des Bundespräsidenten ist, wenn man etwas bewegen will, eines der schwierigsten politischen Ämter. Es spielt sich in anderen Sphären ab als der Rest der Politik, der Bundespräsident ist ein Mann für den Hinterkopf der Deutschen, einer, der Anleitung gibt, ohne dass er das Volk nervt. Richard von Weizsäcker hat diesen Zwischenton am besten beherrscht, selbst Johannes Rau, der sich anfangs schwer tat mit dem Wechsel vom Stakkato der Tagespolitik in den Barock von Schloss Bellevue, konnte am Ende eigene Akzente setzen.
Doch die Verwandlung Köhlers vom Volkswirt zum Volkshirten ist gescheitert. Er findet in seinem Amt nicht den richtigen Ton, mäandert zwischen Taka-Tuka-Land-Poesie und Endzeitstimmung. Am 25. Dezember vergangenen Jahres erschien er auf den Bildschirmen, wünschte ein gesegnetes Fest und sagte, dass wir vor einem Berg von Aufgaben stünden »dabei sollten wir uns klar machen: Wir können alle nicht zaubern, nur arbeiten«. Draußen schneite es, es war kalt, eine Stimmung wie in einem Märchen von Walt Disney, in dem der gutmütige Eichhörnchenvater gerade zu seinen Eichhörnchenkindern spricht: »Ja, ihr habt schon sehr schön Nüsse gesammelt. Aber ihr müsst noch mehr Nüsse sammeln, der Winter ist nämlich noch lang.«
Kaum ein halbes Jahr zuvor klang die Ansprache noch vollkommen anders. Köhler wollte nur seine Entscheidung für Neuwahlen rechtfertigen, aber es schien, als stünde Deutschland noch einmal vor der Stunde Null: »Unsere Zukunft und die unserer Kinder stehen auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie da gewesenen kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder und wir werden immer älter.« Horst Köhler hatte sich für diese Rede, die eine bedeutende hätte werden können, viel Zeit gelassen, den Spielraum, den ihm die Verfassung gewährt, voll ausgereizt. Was er dann zu bieten hatte, war schlichtestes Drama und die Resonanz entsprechend schlecht. »Horst Köhler ist auch ein eitler Mann«, sagt einer, der ihn gut kennt, »die massive Kritik an dieser Rede hat bei ihm einen ziemlichen Knacks hinterlassen.«
Bisher hatte Horst Köhler seine Ämter immer zur vollsten Zufriedenheit seiner Arbeitgeber ausgefüllt: als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, als Präsident des Sparkassen- und Giroverbandes, als Chef der Osteuropabank und später als geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds. Und als Angela Merkel ihn fragte, ob er Bundespräsident werden wolle, sagte er: »Ich traue mir dieses Amt zu.« Doch diesmal, so scheint es, weiß er sich nicht mehr zu helfen.
Beobachtet man Horst Köhler für einen Monat, bleibt am Ende das unbestimmte Gefühl zurück, als fehle etwas. So, als habe man eigentlich nur den Stellvertreter des Bundes-präsidenten begleitet. Einen »anregenden, intelligenten Amateur« nannte der Intendant des Berliner Ensembles Claus Peymann den Bundespräsidenten nach dessen Rede zum Schiller-Jahr. Das war auf seine Anmerkungen zum Schauspiel bezogen, doch heute klingt es fast allgemeingültig. Die Gründe dafür sind vielfältig fehlendes Charisma, die Tatsache, dass Horst Köhler das wichtigste Machtinstrument des Bundespräsidenten, die öffentliche Rede, nicht wirklich beherrscht.
Seine Kandidatur für das höchste deutsche Staatsamt war ja auch als Experiment präsentiert worden: das erste Staatsoberhaupt, für das dieses Amt nicht der krönende Abschluss einer jahrzehntelangen Politikerlaufbahn ist, der erste Ökonom im Präsidentenschloss. Und genau daran droht er zu scheitern. Denn Horst Köhler ist kein politischer Denker, eine fundamentale Analyse der deutschen Gesellschaft gelingt ihm nicht. Die deutsche Befindlichkeit, der Hang zur Larmoyanz, scheint ihn mehr zu nerven als zu interessieren; wie einen US-Amerikaner, der hier Geschäfte machen will, abends kopfschüttelnd in seinem Büro sitzt und sich sagt: »Those Germans«.
Zu Horst Köhlers sechzigstem Geburtstag hat ihm sein Sohn Jochen ein Album mit den Lieblingssprüchen des Vaters geschenkt. »Alles Leben ist Problemlösen«, steht da an einer der ersten Stellen und: »Wenn man denkt, es geht nicht mehr, hat man immer noch zwei Drittel seiner Kräfte.« Auf solchen simplen Weisheiten fußen dann auch Köhlers Appelle an die Deutschen, »Aufgaben meistern«, »Mentalitätswandel«, »nicht aufstecken«: Motivationskursphilosophie und Pfadfinder-Rhetorik tue jeden Tag eine gute Tat.
Es gibt Bilder von Horst Köhler, da sitzt er als junger Mann schlammverschmiert auf einer Baustelle und löffelt Essen von einem Pappteller, lebendige Bilder. Köhlers Eltern sind aus Rumänien vertrieben worden, nach der Flucht aus Polen und später aus der DDR musste er sich gemeinsam mit seinen Geschwistern in mehreren Auffanglagern in Westdeutschland durchschlagen; ein Bruder blieb als Baggerführer in der DDR, ein anderer baute ein Unternehmen in den USA auf, ein dritter wurde Sozialhilfeempfänger.
Es ist also nicht so, dass Horst Köhler nichts erlebt hätte. Doch statt daraus zu schöpfen, hat er seine Herkunft abgestriffen und sich mit den stereotypen Eigenarten seiner späteren Heimat Schwaben zufrieden gegeben: »Fröhlicher, optimistischer, voller Ideen und Tatendrang«, wünscht er sich Deutschland nach einer Amtszeit. Es ist eine ICE-III-Welt, die Köhler vorschwebt, modern, pünktlich und unaufdringlich. Nur ein wenig »form follows function«-Design, ein paar Holzarmaturen für die Seele und alles schön brav.
Der Mensch ist in dieser Welt ein globalisiertes Fabelwesen des 21. Jahrhunderts: aufgeschlossen, beflissen, allzeit veränderungsbereit, aber ohne jegliche Abgründe. Köhlers offizielle Biografie ist voll von Hinweisen auf seine Furcht, es könnte nicht Maß gehalten werden, da-runter exemplarisch, wie er sein Verhältnis als Student zu den 68ern beschreibt: »Es war nicht so, dass ich die anderen alle für Verrückte oder Revoluzzer gehalten hätte. Inakzeptabel fand ich aber, dass Vorlesungen gestört wurden.«
Nach seiner turbulenten Biografie als Jugendlicher flüchtete sich der Student Köhler in die sicheren Erkenntnisse des Wirtschaftsstudiums. Zahlreiche Positionen als Manager später verbirgt sich hinter Köhlers Anschauungen eine tiefe Demut gegenüber dem Ökonomischen als Lebensmodell, eine geradezu naive Gläubigkeit an die wirtschaftliche Mechanik als allheilende Kraft. Selbst vor dem israelischen Parlament, der Knesset, sprach Köhler vom »deutschisraelischen Wirtschaftspotenzial«, von »mutigen Unternehmern, die auch über die Tagesereignisse hinaus ihre langfristigen Chancen erkennen«.
Es ist richtig, wenn Köhler sagt, »wir haben die Bedeutung der Wirtschaft zu lange unterschätzt«. Aber es stimmt auch, wenn ihm Parteilichkeit vorgeworfen wird zwar nicht im Sinne einer bestimmten Partei, sondern eines Prinzips: Hauptsache Reform. Dabei tut sich in der Politik gerade eine Lücke auf, die der Bundespräsident ausfüllen müsste. Denn das wirklich Neue seit dem Regierungswechsel ist weniger, dass nun eine Frau das Land regiert. Weniger, dass eine große Koalition vielleicht funktioniert. Die größte Veränderung ist der Abschied von der Politik im Schatten von Biografien. Gerhard Schröder, Joschka Fischer, selbst Edmund Stoiber sind durch die 68er sozialisiert worden sei es in Zustimmung oder in Ablehnung. Dies hat ihr Denken maßgeblich geprägt. Mit Angela Merkel, geboren 1954, Frank-Walter Steinmeier, geboren 1956 und Sigmar Gabriel, geboren 1959, regieren nun die »Neorealisten«, wie der Soziologe Heinz Bude schreibt. Eine Generation, die weit gehend frei von Attitüde agiert und »den Ton fürs smarte Durchregieren« angibt. Es herrscht Werktagsstimmung in der Politik.
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Erschienen im SZ-Magazin vom 17.2.2006.