SZ-Magazin: Koalitionsverhandlungen entwickeln, wenn es gut geht, ein Programm für drei oder vier Jahre. Genügt das? Welche Weichen müssen wie gestellt werden? Richard von Weizsäcker: Notwendig ist die Zivilisierung des Kapitalismus. Das ist keineswegs eine aussichtslose Angelegenheit. Was wir noch national regeln müssen und was wir schon europäisch regeln können, muss den bisher weit gehend ungesteuerten globalen Einwirkungen gerecht werden. Das ist die größte und schwerste Aufgabe für die kommenden Regierungen. Burkhard Hirsch: Die Einflussmöglichkeiten des Staates auf die wirtschaftlichen Prozesse haben dramatisch abgenommen. Das ist gefährlich. Also muss versucht werden, auf einer höheren Ebene als der nationalstaatlichen einen guten Handlungsrahmen für die Wirtschaft zu zimmern. Drei schwierige Punkte kommen für die neue Regierung dazu: Die Staatsverschuldung, die wir in den vergangenen Jahrzehnten herbeigeführt haben, ist enorm hoch. Die demografische Entwicklung ist katastrophal. Und drittens: Die Rolle Deutschlands in der Welt muss geklärt werden. Was wollen wir eigentlich? Ist es wahr, dass Deutschland am Hindukusch verteidigt wird? Ich halte das für Unsinn. Hans Modrow: Was in Berlin abläuft, ist schon seltsam. Da ist immerzu gesagt worden, um die Finanzen stehe es so schlecht, es werde Heulen und Zähneklappern geben. Da wird dem Bürger eingeschärft, dass der Staat seine Interessen künftig nicht mehr wahrnehmen kann. Wozu, bitte, ist der Staat denn da? Es wird ja nicht gern gesehen, wenn man die Bundesrepublik mit der DDR vergleicht. Aber mich erinnert die jetzige Lage schon an alte DDR-Zeiten: Wir hatten in den letzten Jahren unserer Existenz immer das Problem, Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht in Einklang bringen zu können. Und genau das kommt mir jetzt wieder entgegen. Alles, was auf Reformen hinausläuft, kommt mit der Ansage: Seid vernünftig, so viel, wie ihr bisher vom Staat bekommen habt, könnt ihr nicht mehr bekommen. Aber viel mehr als diese Ansage ist nicht zu hören. Leider. Antje Vollmer: So groß die Koalition, so groß ist die Chance, die sie jetzt hat. In den letzten Jahren hat der Bundesrat die Politik blockiert und damit den Stillstand programmiert. Diese Ausrede fürs Nichtstun ist vorbei. Jetzt können die beiden großen Parteien sich wirklich etwas vornehmen. Hirsch: Dazu müssen sie aber vorher zu einer gemeinsamen Analyse kommen. SPD und CDU haben doch bisher völlig konträre Konzepte. Egon Bahr: Das ist etwas Neues, in der Tat. Bisher waren die Bürger der Auffassung, es gebe keine großen Unterschiede zwischen den Parteien. Nun lernen wir alle, es gibt sehr wohl Unterschiede, und zwar große. Dieses fabelhafte Wahlergebnis hat ja zunächst mal eines gezeigt: Die harte Linie, die Angela Merkel vorgegeben hat, ist nicht mehrheitsfähig. Auch die abgemilderte Linie, die Gerhard Schröder zum Schluss einbrachte, hat keine Mehrheit bekommen. Jetzt müssen diese beiden Parteien, die mangels echter Mehrheit zum Koalieren verdammt sind, doch erst einmal die Trümmer wegräumen, die aus dem Wahlkampf übrig geblieben sind. Wenn sie es dann schaffen, drei, vier große Themen in den nächsten drei Jahren anständig zu regeln, wird die Öffentlichkeit ihnen nachsehen, wenn sie das letzte Jahr damit verbringen, zu beweisen, dass der jeweils andere in der Regierung, die 2009 gewählt wird, überflüssig ist. Dass wir uns im Übergang von einem Vier-Parteien-System zu einem mit fünfen befinden, bringt ein paar Komplikationen mit sich, wenngleich es noch nicht ausgemachte Sache ist, ob es eine Linkspartei auf Dauer geben wird. Auch werden wir erst noch sehen, ob die Linkspartei den Weg der Grünen geht. Ich erinnere daran, wie viele Proteste es seinerzeit gab, insbesondere von der CDU, als wir versuchten, die Grünen über den hessischen Landtag zu parlamentarisieren. Das ist so gut gelungen, dass die CDU heute froh wäre, wenn sie die Grünen als Partner bekäme. Vollmer: Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie so an uns gearbeitet haben. Ist es denn richtig zu sagen: Große Probleme benötigen große Koalitionen? Bahr: Nein, es ist nachweisbar falsch. Wir haben doch keine große Koalition gebraucht, um die Sozialgesetzgebung zu machen. Auch nicht, um die unpopuläre Bundeswehr aufzubauen. Wir hätten mit einer großen Koalition die absolut unpopuläre Ost- und Entspannungspolitik nicht geschafft. Wichtige, unentbehrliche Sachen sind stets von einer kleinen Koalition gemacht worden. von Weizsäcker: Langsam! Die westdeutsche Vergangenheit hilft uns nur sehr beschränkt bei der Suche nach dem Ziel der jetzigen großen Koalition. Erhard hatte für den Sozialflügel der CDU nichts übrig. Seit dem Ende der fünfziger Jahre gab es, wenn auch ohne große Koalition, faktisch immer eine »große Koalition« der Sozialpolitiker zwischen SPD und CDU im Bundestag. Die haben viele Entscheidungen gegen ihre Parteien durchgesetzt. Bis heute kämpfen wir mit den Folgen dieser ungeschriebenen großen Koalition der Sozialpolitiker. Bahr: Man könnte sagen: Was eine informelle große Koalition geschaffen hat, kann nur eine formelle große Koalition abschaffen. von Weizsäcker: Das ist eine gute Formulierung.
Das klingt jetzt, als würden Sie die Sozialpolitik der Bundesrepublik in Bausch und Bogen für falsch halten. von Weizsäcker: Nein. Ich will jetzt mal die CDU loben. Wir haben nach Kriegsende versucht, aus der evangelischen Sozialethik und katholischen Soziallehre zu lernen und eine Gesellschaft aufzubauen, die auch in wirtschaftlicher Hinsicht solidarisch ist. Die hinreichend guten wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür waren gegeben. Jetzt sind sie es aber nicht mehr. Inzwischen kann sich die Wirtschaft in einer Form rings um den Globus bewegen, die vom Bundestag nur mit großer Mühe erreicht wird. Deshalb müssen wir in den Unternehmenssteuerwettbewerb der ganzen Welt eintreten. Ist das ein Mittel gegen Arbeitslosigkeit? Hirsch: Investitionen schaffen leider keine Arbeitsplätze. Nach dem, was ich in der Stahlindustrie erlebt habe, dienten die meisten Investitionen zur Rationalisierung: Sie erhöhen die Produktivität und ersetzen einfache menschliche Arbeitskraft. Das war das Ziel: uns von lästiger körperlicher Arbeit zu befreien. Es werden Arbeitsplätze geschaffen, aber andere – vergleichsweise wenige –, höher qualifizierte. Die Produktion von Massengütern kann man glorreich ins Ausland verlagern. Bleibt die Frage: Wo wird intelligente Arbeit geleistet? Von dieser Frage hat sich unsere Bildungspolitik fatalerweise nicht leiten lassen. Sie hat sich auf die Schulen und Universitäten konzentriert, nicht auf die berufliche und die Erwachsenenbildung, die bitter nötig gewesen wäre. von Weizsäcker: Es gibt eine große Diskrepanz zwischen der globalen Bewegungsmöglichkeit der Wirtschaft und der auf das einzelne Land beschränkten sozialpolitischen Verpflichtung, für jene zu sorgen, die sich nicht selber helfen können. Bahr: Wie wäre es mit einer neuen Analyse dessen, was in der Verfassung über die Sozialverpflichtung des Eigentums geschrieben steht? Daraus ergäbe sich die Frage, ob diese fast unbegrenzte Freiheit der Wirtschaft und des Kapitals erträglich ist. Ob dagegen im nationalstaatlichen Rahmen irgendetwas getan werden kann. Ich bin sehr im Zweifel, ob die Koalitionsverhandlungen zu diesem Punkt vorstoßen werden. Sie sollten es aber. Vollmer: Soziale Marktwirtschaft und die Sozialverpflichtung des Eigentums, der Rheinische Kapitalismus eben, haben in der ganzen Welt nur Befürworter gefunden. Die Einzigen, die das ständig bombardieren, sind die Unternehmer, die sagen: In den Fesseln dieses Landes können wir in der globalisierten Welt nicht arbeiten. Und in der jungen politischen Elite gibt es Leute, die das auch finden. Etwa die Entourage von Angela Merkel und Guido Westerwelle. Ein 33-jähriger Spitzenmanager soll jetzt die Bundesanstalt für Arbeit auf Vordermann bringen. Alle Welt ergeht sich in Begeisterungsstürmen. Ich frage mich: Was hat der bisher gelernt? Der hat einen Crashkurs bei McKinsey gemacht – und soll nun für eine so zentrale Stelle wie die Bundesanstalt für Arbeit eine Vorreiterposition haben! Die Begeisterung darüber kann ich nicht teilen. Die große Koalition könnte sich vornehmen, das Modell Rheinischer Kapitalismus, das Modell soziale Bundesrepublik mit ein paar Modifikationen zu verteidigen. Modrow: Vorerst sieht es nicht so aus, als ob die große Koalition das wollte. Sonst wäre die Linkspartei ja wohl auch nicht erfolgreich gewesen. Wir haben jetzt eine starke Opposition im Bundestag: Rot-Gelb-Grün, also eigentlich die Ampel. Nun kommt es darauf an, was sie macht. Bei den Grünen gehe ich davon aus, dass sie nicht nur Opposition der Opposition wegen sind. Die Linke hat mit Lafontaine – ob er von der Sozialdemokratie geliebt wird oder nicht – einen Mann, der deutscher Finanzminister war. von Weizsäcker: Was heißt das? Modrow: Das heißt, dass er auf jeden Fall kein Dummkopf ist. von Weizsäcker: Herr Modrow, ich muss Ihnen jetzt erstmals wirklich widersprechen. Modrow: Die Sozialdemokraten – da will ich mich gern korrigieren – waren so dumm, ihn zu ihrem Vorsitzenden gewählt zu haben. Bahr: Nein, da muss ich ja nun protestieren. Können wir uns von Lafontaine lösen und auf die Arbeitslosigkeit zurückkommen? von Weizsäcker: Ich glaube nicht, dass wir die Arbeitslosigkeit durch ein Programm beseitigen können. Gegen bestimmte Entwicklungen gibt es keine Programme. Unser Land hat sich vom Produktionsland in eine Art Handelsland verwandelt. Was liegt denn unseren großen Exporterfolgen zu Grunde? Wir betreiben, was die Engländer assembly nennen: Wir kaufen in der ganzen Welt alle möglichen Teile ein, bauen sie zusammen, machen daraus ein Produkt, stellen das auf unseren Messen aus und verkaufen es dann. In dieser Ware stecken aber zu wenige deutsche Industrieprodukte und infolgedessen auch einheimische Arbeitsplätze. Auch das ist ein Faktor, der die Beseitigung von Arbeitslosigkeit so schwer macht. Bahr: Wenn die Globalisierung so weitergeht, wäre es schon eine weltmeisterliche Leistung, wenn wir die Arbeitslosigkeit bei vier Millionen stabilisieren könnten.
Wir müssen also von Glück reden, wenn wir irgendwann, aber dann auf Dauer, nur noch vier Millionen Arbeitslose haben? Hirsch: Kurzfristig wird es keine Lösung der Arbeitsmarktproblematik geben. Bei den Jugendlichen ist es auch ein Ausbildungsproblem. Die jugendlichen Arbeitslosen haben zu 80 oder 90 Prozent keine Ausbildung. Das Erste muss sein, diese jungen Leute in eine Ausbildung zu bringen, sonst wächst eine ganze Millionenschicht von Leuten heran, die strukturell nie Arbeit kriegen können. Modrow: Es gibt eine neue Untersuchung aus Magdeburg, warum junge Leute vom Osten Deutschlands in den Westen gehen: Es sind nicht in erster Linie die Arbeitslosen, sondern die mit Job oder guter Ausbildung, die aber im Osten keine Perspektiven sehen. Bahr: Das beunruhigt mich auch. Ich bin entsetzt darüber, dass die Abstimmung mit den Füßen, über die wir während des Kalten Krieges gesprochen haben, weitergeht. Da wünsche ich mir von der neuen Regierung, dass sie ein glaubwürdiges Ziel setzt. Die Fortsetzung der bisherigen Politik ist jedenfalls nicht dazu geeignet, eine Gleichheit der Lebenschancen herbeizuführen. Vollmer: Es liegt aber auch daran, dass das Ideal der Vollbeschäftigung auf immer weitere Kreise ausgedehnt wurde: Ursprünglich bezog es sich auf den arbeitenden Mann in einer Familie. Dann auch auf jede Frau, dann auch auf jeden Jugendlichen. Soll man das zurückdrehen? Vollmer: Man kann fast nie etwas zurückdrehen. Aber das bringt es mit sich, dass nie mehr jeder von seinem 14. bis zu seinem 65. Lebensjahr eine Anstellung haben wird. Natürlich wird es neue Arbeitsplätze geben – im Bereich der Dienstleistung und, vor allem, der Umwelt. In den klassischen Sparten nehmen sie ab. Bahr: Der Appell an Flexibilität und Leistungsbereitschaft genügt da aber nicht. Die Wirtschaft kommt gar nicht mehr vor. Besonders an sie ist aber zu appellieren: Sie soll ihre Zusagen einhalten. Sie hat vom Staat verlangt, diese und jene Erleichterungen für sie zu schaffen. Der Staat hat das getan. Jetzt soll bitte die Wirtschaft ihre Zusagen einlösen. Das hat sie seit 15 Jahren nicht getan. Heißt das: Die Wirtschaft hat den Staat ausgebeutet? Bahr: Der Staat hat im Prinzip alle Wünsche der Wirtschaft erfüllt. Aber sie schert sich nicht um Sätze wie »Eigentum verpflichtet«. Sie sagt: Wir folgen den Wünschen unserer Auftraggeber respektive Aktionäre und investieren nur dort, wo es am billigsten ist. Hirsch: Im Großen und Ganzen haben Sie Recht. Es gibt auch Ausnahmen in den neuen Bundesländern: Opel, BMW oder Volkswagen. Auch in Dresden gibt es vorbildliche Investitionen. Aber es ist richtig, dass insgesamt Kasse gemacht wurde. Was soll nun aber geschehen? von Weizsäcker: Wir haben bei uns zwar nicht die höchsten Löhne auf der Welt, aber Arbeitsplätze sind teurer als anderswo. Dazu kommt die Überalterung. Leider hat keine der beiden großen Parteien offen darüber gesprochen, wie die Lage wirklich aussieht. Beide sagen: Eine Verminderung der Rentenhöhe kommt nicht in Frage. Beide sagen: Eine Erhöhung der Abgaben für die Rentenversicherung kommt auch nicht in Frage. Stimmt beides nicht. Beides droht. Wir brauchen mehr Aufrichtigkeit. Vollmer: Es war eine Katastrophe, dass Reformen mit dem Begriff »Ich-AG« oder »Hartz IV« identifiziert werden, wobei niemand verstanden hat, warum sich hinter diesen Plänen ein Beitrag zur Lösung der Frage nach der sozialen Sicherung verstecken soll. Glauben Sie, es wäre besser, wenn die Reform »Wohlfühlreform« geheißen hätte statt Agenda 2010? Vollmer: Ich rede doch nicht von sprachlicher Lügerei, sondern von einer Idee, in diesem Land ein gutes Leben zu führen, trotz alledem. Dann muss man auch von der Grundsicherung für jeden reden, einer Bürgerversicherung, an der sich alle beteiligen. Die Bürger sollen dafür bezahlen, dass die Industrie hierzulande mehr Profit macht, damit sie nicht abwandert? Hirsch: Die Frage muss anders gestellt werden: Was wollen wir alles von Arbeitnehmern und gewerblichen Unternehmen bezahlen lassen? Welche Lasten, die eigentlich der Allgemeinheit zuzurechnen sind, sollen nur von diesen Gruppen bezahlt werden? Wenn wir jetzt sagen, dass jeder zumindest eine Grundrente bekommt – darauf wird es ja wohl hinauslaufen –, dann muss diese im Wesentlichen aus Steuern finanziert werden. Wenn wir beim jetzigen System bleiben, dann werden wir in etwa 15 Jahren bei einer Rente von 40 Prozent des letzten Einkommens landen. Das kann keiner aushalten. Deshalb müssen die Leute mehr für ihre Alterssicherung tun. Ich bin überrascht darüber, wie wenig die Riester-Rente angenommen worden ist, obwohl es dafür hohe Zuschüsse und viel Werbung gegeben hat. Bahr: Erstens: Wenn das Geld knapp wird, muss die Gerechtigkeit größer geschrieben werden. Zweitens: Wir müssen aufhören, vage über Prinzipien zu reden. Das macht Angst, schreckliche Angst. Es muss mal ausgerechnet werden, was Reformen für den Einzelnen bedeuten. Dann würde hoffentlich – ich bin ja kein Ökonom – herauskommen, dass es nicht so schlimm ist, wie es in der Abstraktion klingt. Im Augenblick sind doch die Menschen voller Angst.
Modrow: Angst ist das eine. Politische Fehler sind das andere. Bleiben wir beim Konkreten: Es gibt in Berlin die Firma Samsung, ein Unternehmen, das Bildröhren produziert, die Technik aber nicht weiterentwickelt hat und nun merkt, dass der Markt nicht mehr da ist. Viele Subventionsmillionen sind in dieses südkoreanische Unternehmen geflossen. Der Steuerzahler hat dafür bezahlt, dass es sich in Berlin niederlässt. Jetzt machen die den Laden dicht – die Steuergelder sind weg, Arbeitsplätze verschwinden. Der wirtschaftliche Mechanismus, wie er im Moment auch von der Europäischen Union mitfinanziert wird, lädt Industrieunternehmen zum Abräumen ein. Solche Beispiele lassen sich im Osten Deutschlands hundertmal erzählen. von Weizsäcker: Fehler werden natürlich immer gemacht. Das ist in einer Marktwirtschaft unvermeidlich. Notwendig ist nicht einfach Fehlerbehebung, sondern etwas Grundsätzliches: Wir brauchen eine Zähmung des Kapitalismus. Niemand hat das schärfer gefordert als der große Milliardär und Mäzen George Soros, der gesagt hat, es gelte zu verhindern, dass der Kapitalismus die Menschheit so dominiert, wie es sonst nur der Marxismus versucht hat. Die Globalisierung ist unser Schicksal, offenbar nicht nur in der Wirtschaft, auch in der inneren Sicherheit. Otto Schily sagt, Bushs Krieg gegen den Terror sei auch unser Krieg. Braucht die große Koalition ein neues Schily-Paket? Hirsch:Diese Frage beantworte ich natürlich mit Nein. Wir haben in den vergangenen 30 Jahren eine innenpolitische Aufrüstung ohnegleichen erlebt. Dann gab es Schily: Schily I, Schily II. Was haben wir nicht alles bekommen! Da ist die enorme Ausdehnung der Polizeirechte in Bund und Ländern. Wir wurden Weltmeister in der Telefonüberwachung und elektronischen Überwachungen aller Art. Auf der Suche nach so genannten Schläfern gab es die erste Rasterfahndung mit religiösem und ethnischem Hintergrund: Das Hauptmerkmal der Fahndung war, dass die Betreffenden polizeilich bisher nicht in Erscheinung getreten waren. Dann gab es die Wanze, getarnt als »großer Lauschangriff«, schließlich das Luftsicherheitsgesetz: Erstmals nimmt der Staat für sich das Recht in Anspruch, nicht nur auf Täter zu schießen, sondern gleich noch die Opfer dieser Täter, die Passagiere eines Flugzeugs, abzuschießen. Ich frage mich schon: Wo kommen wir hin, wenn das so weiter geht? Wäre es denkbar, dass diese Aufrüstung zurückgenommen wird? Hirsch: CDU und SPD haben in diesen Fragen leider bisher wenig Rückgrat gezeigt. Es hängt also am Bundesverfassungsgericht, das darüber entscheiden wird. Das Gericht wird diese Gelegenheit nutzen, ein paar Pflöcke einzuhauen. Die Verfassung schützt die Bürgerfreiheiten. Gegen den globalen Kapitalismus kann sie wenig ausrichten. Die EU ist da auch noch nicht in die Gänge gekommen und der Entwurf wurde deshalb von den französischen Linken ja auch abgelehnt. Ist die Verfassung noch zu retten? Hirsch: Wäre ich gefragt worden, ich hätte dem Verfassungsentwurf auch nicht zugestimmt: Wenn wir Zuständigkeiten an Europa abgeben, soll das Parlament sie bekommen, nicht Ministerräte oder Regierungschefs. Mir sträuben sich die liberalen Nackenhaare, wenn ich das Wort »Staats- und Regierungschefs« nur höre. Ich bin für eine neue Verfassung, die einer Volksabstimmung unterworfen wird und die Chance hat, von der Bevölkerung Europas angenommen zu werden. von Weizsäcker: Ich denke: Dieser Gedanke einer europäischen Verfassung war verfrüht. Die EU hat eine große Stärke: Wir haben den größten Binnenmarkt der Welt. Damit müssen wir ernst machen. Entsprechend brauchen wir eine gemeinsame Außenpolitik. Auf Dauer ist es unerlässlich, dass Großbritannien sich in der EU umfassend engagiert. Die britische Beteiligung am Irak-Krieg hin oder her, es ist auch für die Amerikaner letztlich nicht interessant, es mit einem Land zu tun zu haben, das sich nur lieb Kind macht. Viel mehr nützt ihnen ein Großbritannien, das in Europa führend mitredet. Bahr: Ich finde es schwer zu entschuldigen, dass Tony Blair in der Zeit seiner Präsidentschaft überall für den Ausbau des gemeinsamen Marktes wirbt und mit keinem Wort erwähnt, dass die Europäische Union beschlossen hat, ihre Handlungsfähigkeit sicherheits- und außenpolitisch zu erweitern. Mir scheint, er wird bei dieser britischen Tradition bleiben und uns Kontinentaleuropäer vor die Frage stellen, ob wir unsere Pläne dann ohne Großbritannien verwirklichen. von Weizsäcker: Ach, lassen Sie Tony Blair doch den gemeinsamen Markt loben. Ich glaube nicht, dass die EU als militärisch handlungsfähige Macht so schnell viel Eindruck machen wird, soll sie doch lieber erst einmal mit einer gemeinsamen Außenpolitik wuchern. Auf diesem Gebiet werden wir auch für die Amerikaner immer wichtiger. Hirsch: Wenn sich die europäischen und die amerikanischen Interessen, wie ich annehme, auseinander entwickeln, was machen dann die Engländer? Auf wessen Seite stellen die sich? von Weizsäcker: Warum müssen die sich automatisch auseinander entwickeln? Warum können wir den Amerikanern nicht zutrauen, dass sie aus dem, was sie alles so machen, auch etwas lernen?
Bahr: Die Bush-Regierung wird noch drei Jahre lang am Ruder sein. Alles hängt davon ab, ob der Nachfolger des jetzigen Präsidenten zu einer vernünftigen Politik zurückkehrt, in der Amerika als Primus inter Pares gesehen wird, und sich ansonsten einordnet in die Mechanismen der Welt, wie sie durch die Vereinten Nationen vorgegeben sind. Wenn die nächste Regierung weitermacht wie die jetzige, wird die Kluft zwischen Europa und Amerika wachsen. von Weizsäcker: Das merken auch die Amerikaner. Vor allem merken sie, dass das gar nicht in ihrem Interesse ist. Vorerst sehen wir, dass sogar Europa mitunter sehr gespalten ist. Daran war die amerikanische Politik nicht ganz unbeteiligt. Vollmer: So ist es. Was für Deutschland gilt, muss deshalb für Europa noch viel mehr gelten: Es muss erst einmal werden, was es sein könnte. Die letzten Jahre waren für Europa schlechte Jahre. von Weizsäcker: Das finde ich nun allerdings auch. Was bedeutet das für die Türkei? von Weizsäcker: Wir haben in Europa die Aufgabe, uns zu einer halbwegs zusammenstoßfreien Form des Zusammenlebens mit 1,5 Milliarden Muslimen einzurichten, die uns umgeben. Das ist eine Aufgabe, die sich wie die allermeisten Fragen auf dem Globus nicht militärisch lösen lässt. Vollmer: Egon Bahr sagt seit längerem, man müsse ein Moratorium ausrufen, und zwar auf alle Länder bezogen, die als Mitglieder der EU in Frage kommen könnten. von Weizsäcker: Wie wahr – und wie unerreichbar. Bahr: Jedenfalls braucht Europa eine Pause, um das, was geschaffen wurde, zu verdauen. von Weizsäcker: Ganz richtig. Aber wer gibt uns diese Pause? Wir Europäer sind ständig aufgefordert, uns an Aufgaben zu beteiligen, die uns natürlich irgendwie auch betreffen. Hirsch: Ich würde gern mal von den Türken hören, wie die sich denn Europa vorstellen. Bei vielen Gesprächen mit türkischen Politikern habe ich den Eindruck gewonnen, dass sie von Europa das Bild von 1920 haben, das Bild eines nationalstaatlich geprägten Europas. Ich würde von den türkischen Politikern gern hören, welche Souveränitätsrechte sie wirklich nach Brüssel abgeben wollen. von Weizsäcker: Nachdem wir der neuen Regierung so viele Aufgaben gestellt haben, die wirklich schwer zu lösen sind, möchte ich ihr jetzt eines voraussagen: Es wird ihr gelingen, die öffentliche deutsche Debatte über das Thema Türkei etwas zu beruhigen. Bahr: Ja, in den kommenden vier Jahren steht die Entscheidung über den Beitritt der Türkei nicht an. Es geht dabei aber nicht so sehr um die Türkei und was sie nicht kann, aber doch will, sondern um die EU: Die darf nicht überfordert werden. Vollmer: Dieser alte Kontinent traut sich große Aufgaben nicht mehr zu, weil er faktisch von seinen Eliten vorangepeitscht wird: Jetzt die Türkei, dann Georgien, dann womöglich Algerien, Israel und Palästina. Es ist doch kein Wunder, wenn die Leute erschrecken, weil zu schnell zu viel gewollt und die Rolle Europas dabei nicht klarer wird. von Weizsäcker: Zudem haben wir gewisse bilaterale Probleme noch nicht ganz überwunden. Auch da müssen wir aus Fehlern lernen. Nehmen Sie das französisch-deutsche Verhältnis. Ich hoffe zwar, dass – wenn schon – eher Villepin als Sarkozy zum Präsidentschaftskandidaten gemacht wird. Dennoch dürfen wir nicht übersehen, dass bei dem Wunsch der Franzosen, im Sicherheitsrat der UNO eine große Rolle zu spielen, der markante Auftritt des damaligen Außenministers Villepin eine wichtige Rolle gespielt hat. Das deutsch-französische Verhältnis wird ein bisschen von den französischen weltpolitischen Ambitionen bestimmt. Auch Gerhard Schröder hat versucht, einen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu bekommen. von Weizsäcker: Auch für die Bundesrepublik gibt es den aber nicht gegen den Willen der USA. Die deutsche Position im transatlantischen Verhältnis ist von etwas mehr Zuversicht getragen als die französische. Damit kommt man weiter als mit Allüren, darauf müssen wir uns besinnen. Und keinesfalls dürfen Franzosen und Deutsche als Direktorium in der EU auftreten. Wir Deutsche müssen gerade mit den neuen EU-Nachbarn sorgsam umgehen. Natürlich haben wir großes Interesse daran, mit Russland im Gespräch zu sein. Fatal ist es aber, wenn sich Putin, Schröder und Chirac in Königsberg treffen, ohne dass der polnische und der litauische Präsident dazu auch nur eingeladen werden. Modrow: Die Europäische Union hat sich erweitert. Alle neuen Mitglieder sind auch in die Nato eingetreten. Der Beitritt von Bulgarien und Rumänien steht für 2007 an. Die sind schon NATO-Mitglieder. Die Türkei ist nicht in der EU, aber in der NATO. Jetzt stellt sich die Frage: Wie schließt sich der Kreis? von Weizsäcker: Ja, die NATO! Die ist ein Verteidigungsbündnis und muss nun Antwort auf die Frage finden, was ein Verteidigungsbündnis macht, wenn es seinen Feind verloren hat. Bahr: Die NATO ist wirklich dabei, ihren Charakter zu verändern. Die Amerikaner sind da sehr zielbewusst. Ihre Politik zielt sicherheits- und außenpolitisch nach Südosten: Georgien, Aserbaidschan und weiter. Die USA schaffen vollendete Tatsachen. Die warten nicht, bis Europa eine gemeinsame Position erarbeitet. Da geht es um Mittelasien, ohne dass wir auch nur diskutieren, welche Verbindlichkeiten wir in der OSZE eingegangen sind. Alle waren zufrieden, als die neuen Republiken am Südrand der früheren Sowjetunion die Verpflichtungen der OSZE übernahmen. Aber seither orientieren die sich mehr an ihren südlichen islamischen Nachbarn oder China als an Europa. Nichts davon wird thematisiert. Da werden uns Ergebnisse vorgesetzt werden, auf die wir nicht eingestellt sind – samt der Forderung unserer amerikanischen Freunde, uns hier oder da zu engagieren.
Noch eine Bemerkung zur Türkei: Die Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten beginnen jetzt erst, das ist eine der Folgen des Irak-Kriegs, die man sich besser hätte überlegen sollen, bevor man diesen Krieg begann. Bekanntlich sind die Türken Sunniten. Aber die Frage, ob die EU sich in eine innerislamische machtpolitische, religiöse Auseinandersetzung einmischen soll, ist nie auf den Tisch gekommen. von Weizsäcker: Der Ort, an dem Europa damit zu tun hat, ist zunächst der Iran: ein sehr großes und völlig isoliertes Land mit einer riesengroßen jungen Bevölkerung. Der Iran gehört nicht zu den Arabern, nicht zur indisch-pakistanischen Halbinsel, nicht zu den nördlichen Anrainerstaaten der früheren Sowjetunion. Das Land ist umgeben von Kernwaffen. Die stehen in Pakistan, Indien, Israel, bei den Russen und, was auch heikel ist, bei den Mächten, ob sie Besatzungsmächte genannt werden oder nicht, im Irak. Das ist für den Iran ein großes Problem. Ein lösbares? von Weizsäcker: Es muss unser Ziel sein, dem Iran zu einer Zukunftsperspektive zu verhelfen, selbstverständlich ohne Kernwaffen. Gleichzeitig müssen wir unsere amerikanischen Freunde bitten, die Nichtverbreitungspolitik von Atomwaffen ernsthafter zu handhaben, als das gegenwärtig geschieht, da sie den Indern zu einer atomaren Aufrüstung verhelfen. Der Zwist zwischen Schiiten und Sunniten ist in der Tat ein großes Problem. Aber wir Europäer werden uns in diesen Konflikt nicht einmischen. Wir werden uns hingegen sehr wohl dafür einsetzen, dass die große Bevölkerung des Irans eine gewisse Zukunftsperspektive bekommt. Dazu können wir Europäer mehr beitragen als die Amerikaner. Vollmer: Wir müssen auf das Moratorium zurückkommen. Es wäre als Abwehrmaßnahme gegen die Türkei völlig missverstanden… Bahr: Nein, das betrifft alle! Wir dürfen keine neuen Mitgliedschaften ausloben, keine neuen Gespräche zusagen. Hirsch: Vertiefung vor Erweiterung! Vollmer: Schluss mit der Beschleunigung! Damit nicht ständig weitere Anmeldungen kommen von letztlich noch nicht integrationsfähigen Staaten. Bahr: Mit einer Ausnahme: das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Das ist eine besondere Verpflichtung der Europäer. Und dann soll Schluss sein. Für wie lange? Bahr: Lasst uns doch mal 20 Jahre nehmen oder zehn. Vollmer: Man hätte die Erweiterung nicht durchziehen dürfen, ohne dass die Verfassung stand. Neue EU-Mitglieder sind sozusagen der NATO beigetreten oder einem Wirtschaftsraum. Die politische Idee Europas geriet in den Hintergrund. Das war ein Fehler. Und den macht man jetzt –Augen zu und durch! – immer weiter. Modrow: So ein Moratorium schließt aber eine andere Sache nicht aus: Es ist sehr wichtig, dass wir gute nachbarschaftliche Beziehungen zu Russland, Weißrussland, der Ukraine und Moldawien entwickeln. Dort muss das Gefühl entstehen, es nicht so sehr mit der NATO zu tun zu haben, sondern mit der Europäischen Union. Das ist wichtig, weil es in den baltischen Republiken anders- herum läuft. Es ist klar, dass die russischen Militärs große Manschetten gegenüber der NATO haben und deren Entwicklung nicht mit vergnügter Gelassenheit beobachten. Dem müssen die Europäer entgegenwirken. Bahr: Ja, ich bin fest davon überzeugt, dass Europa ohne die strategische Partnerschaft mit Russland keine Stabilität erreichen wird. Ob und wie die neue Regierung das in ihre erste außenpolitische Erklärung aufnimmt: Darauf bin ich wirklich gespannt. Wenn das fehlte, würde ein ganz wesentlicher Teil der bisherigen Außenpolitik fehlen. Vollmer: Wir brauchen gute Beziehungen zu vielen Staaten, nicht nur zu einem. Das ist ja auch eine der großen Hoffnungen, die Europa ausmachen: die Idee einer multipolaren Welt und der Stärkung der UNO. Diese Hoffnung war 1990 sehr stark und ist seitdem immer nur schwächer geworden. Nicht zuletzt dank der Amerikaner. Ich sähe gern, dass die neue Regierung sich in so einem globalisierten Gesamtkonzept mal definiert. Bahr: Darauf kommt es in Wahrheit nicht an. Die Unipolarität der gegenwärtigen US-Regierung, die in der Sicherheitsdoktrin vom September 2002 festgeschrieben wurde, hält noch drei Jahre. Wir können nur hoffen, dass danach ein Präsident kommt, der das Ding einmottet. Bis zu den nächsten Wahlen in den USA wird sich das Problem nicht stellen. Da nützt es auch nicht viel, wenn wir Deutschen sagen: Wir sind von Kopf bis Fuß auf Multipolarität eingestellt. Hirsch: Herr Bahr, ich bin überrascht über Ihre Bemerkung, diese Frage werde in den kommenden drei Jahren keine Rolle spielen. Wir sehen doch, dass die Bush-Regierung offenbar darauf aus ist, das Verhältnis etwa zu Syrien dramatisch zu verschärfen. Das Gleiche gilt für den Iran. Ich habe keinerlei Vorstellung, was die Leute in Washington wirklich wollen. Das heißt, wir können durchaus in eine Lage kommen, in der die Europäer vor die Frage gestellt werden, ob sie den amerikanischen Kurs miteinschlagen wollen. Bahr: Das heißt, die Frage stellen, ob es dabei bleibt, dass die Bundesrepublik Deutschland sich unter keinen Umständen an einer Aktion der Amerikaner beteiligen wird, die ohne Mandat der Vereinten Nationen erfolgt. Und selbst so ein Mandat der Vereinten Nationen verpflichtet Deutschland nicht automatisch, Ja zu sagen und sich irgendeiner Intervention anzuschließen. Die letzte Entscheidung müssen immer noch Parlament und Regierung fällen. Hirsch: Auch dann, wenn sich Deutschland dem Schulterschluss mit der Nato verweigert. Bahr: Auch dann! Hirsch: Und was macht die Bundesregierung in diesem Fall? Bahr: Das werden wir dann ja erleben.