1. Der gefährlichste Mann der Welt
Julian Assange, geboren 1971, ist australischer Staatsbürger und Chef von Wikileaks. Im Alter von 16 Jahren beginnt er, sich in Computernetzwerke einzuhacken. Im Jahr 1999 hat er die Idee zu Wikileaks, 2006 geht die Seite online. 2009 wird Assange für die Aufdeckung von Menschenrechtsverletzungen in Kenia mit einem Medienpreis von Amnesty International ausgezeichnet.
Daniel Ellsberg, der 1971 einen geheimen Bericht des Pentagons über den Vietnamkrieg an die Presse weitergegeben hat: »Früher bin ich als gefährlichster Mann Amerikas bezeichnet worden. Jetzt ist Assange der gefährlichste Mann der Welt. Für mich ist er ein Held, aber ich bin mir sicher, dass die US-Regierung viel daransetzt, ihn unschädlich zu machen, möglicherweise auch mit Gewalt.«
Michael D. Horvath, Sicherheitsexperte der US-Armee, in einem internen Bericht vom 18. März 2008: »Julian Assange ist bekannt für sein linkes Gedankengut und seine antiamerikanische Einstellung.«
Ingi Ragnar Ingason, isländischer Filmemacher und Wikileaks-Mitarbeiter: »Manchmal ist es schon frustrierend. Wir präsentieren das größte Archiv an Militärgeheimnissen aller Zeiten, und die erste Frage, die mir Leute stellen ist: Warum hat sich Julian die Haare gefärbt?«
Daniel Domscheit-Berg, ehemaliger Sprecher von Wikileaks: »Julian Assange ist ein Mann mit einer Vision, der bereit ist, dafür zu kämpfen. Aber er bezieht andere nicht mit ein. Obwohl ich sein Sprecher war, wusste ich oft selbst nicht, was Sache ist.«
Assange wird gefeiert wie ein Popstar, als er am 23. Oktober 2010 in London 391 832 geheime Armeeprotokolle über den Irakkrieg präsentiert: Seine Anhänger jubeln, minutenlang blitzen die Kameras. Am Ende der Pressekonferenz steht Assange auf und will erklären: Was die Abkürzungen in den Dokumenten bedeuten, wie man die Texte durchsuchen kann. Doch man versteht ihn nicht, denn sofort ist der schmächtige Mann von Fotografen umringt.
Julian Assange: »Wir haben die Dokumente anfangs ohne Nennung unserer Namen auf unserer Internetseite veröffentlicht, denn es ging uns nur um die Sache. Aber unsere Zurückhaltung bewirkte das Gegenteil: Alle wollten wissen, wer hinter Wikileaks steckt. Darum habe ich Wikileaks ein Gesicht gegeben. Als Aushängeschild und Sündenbock. Ich bin der alleinige Gründer von Wikileaks. Ich habe in den letzten vier Jahren nichts anderes gemacht, als mich um Wikileaks zu kümmern. Wenn ich verhaftet werde oder verschwinden sollte, gibt es einen Notfallplan. Wikileaks wäre auch ohne mich handlungsfähig, aber weniger effektiv.«
2. Die Organisation
Jay Rosen, Professor für Journalismus an der New York University: »Wikileaks ist die weltweit erste staatenlose Nachrichtenfirma. Somit entgeht Wikileaks den Greifarmen einer jeden Regierung. Nehmen wir an, Sie sind ein Informant, der heikle Daten preisgeben will. Wem würden Sie sie geben? Einer Zeitung mit einer offiziellen Postadresse, die ebenso wie Sie die nationalen Gesetze achten muss – oder einer Organisation wie Wikileaks, die staatliche Vorladungen nicht einmal beantwortet, aber Dokumente vollständig veröffentlicht, wenn sie verifiziert sind? Ich sage: Die Zeitung würde den Wettstreit verlieren.«
Daniel Domscheit-Berg, ehemaliger Sprecher von Wikileaks: »Wikileaks wurde so konzipiert, dass es unzensierbar ist. Und das ist es auch.«
Julian Assange: »Wenn Unrecht nicht länger vor der Öffentlichkeit versteckt werden kann, müssen sich Generäle, Politiker oder Unternehmensführer zweimal überlegen, ob sie bestimmte Aktionen nicht gleich bleiben lassen. Die Vertuschung solcher Pläne muss zu einem extrem teuren und unkalkulierbaren Risiko für sie werden.«
Steven Aftergood, amerikanischer Experte für Geheimdienste: »Es gibt gute Enthüllungen und schlechte Enthüllungen. Gute Enthüllungen erweitern die Verantwortlichkeit von Regierungen und fördern bürgerliches Engagement. Schlechte Enthüllungen bringen Menschen in Gefahr, beflecken ihre Reputation oder dringen unerlaubt in ihre Privatsphäre ein. Wikileaks hat sowohl gute als auch schlechte Enthüllungen veröffentlicht. Und über sich selbst verrät die Organisation so gut wie nichts.«
Julian Assange: »Unsere Mitarbeiter, die für den Schutz unserer Quellen zuständig sind, müssen ungestört im Hintergrund arbeiten können. Wir können nicht jeden unserer Schritte publik machen, das würde unsere Arbeit gefährden. Uns liegen 22 Angebote für einen Dokumentarfilm und Anfragen aus Hollywood vor. Wir dokumentieren unsere Arbeit aber lieber selbst und haben Kameraleute engagiert, die uns filmen. Irgendwann werden wir einen Film über uns veröffentlichen.«
In Schweden wird wegen sexueller Belästigung gegen Julian Assange ermittelt. Sein Antrag auf Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis wird am 18. Oktober 2010 abgelehnt.
Julian Assange: »Nach meinen Recherchen üben die USA einen enormen Druck auf westliche Regierungen aus, uns nicht zu unterstützen. Wohin könnten wir also gehen – nach Kuba? So tief ist unsere Gesellschaft zum Glück noch nicht gesunken. Alles, was wir wollen, ist Rechtssicherheit, damit investigative Journalisten wie ich nicht länger rund 70 Prozent ihrer Zeit damit verschwenden müssen, sich gegen staatliche Überwachung und Angriffe zu wehren.«
Das Geld und die Aussteiger
3. Das Geld
Julian Assange: »Wir finanzieren uns über Spenden. Wir haben auch schon über eine Art Abonnement nachgedacht, sodass man gegen Bezahlung früher auf Dokumente zugreifen kann.«
Hendrik Fulda, stellvertretender Vorsitzender der deutschen Wau-Holland-Stiftung, die seit Oktober 2009 als Haupteinnahmequelle von Wikileaks gilt. Ihr Konto ist bei der Commerzbank Kassel registriert: »Es gab Zeiten, da stand Wikileaks finanziell mit dem Rücken zur Wand, die Internetseite musste sogar mal abgeschaltet werden. Das ist heute nicht mehr so. Meist werden kleine Beträge gespendet, etwa 20 Euro – es hat aber auch Großspenden über 50 000 Euro gegeben. Es sind etwa 750 000 Euro an Spenden auf dem Konto zusammengekommen, rund zehn Prozent davon wurden bereits an Wikileaks ausbezahlt. Die meisten Spenden bekommen wir unmittelbar nach einer großen Enthüllung. Um die Seite ständig aufrechtzuerhalten, braucht Julian etwa 200 000 US-Dollar im Jahr. Wenn er aber ein paar Mitarbeiter angemessen bezahlen wollte, wären es 600 000 US-Dollar jährlich.«
Aus einer E-Mail von Daniel Stromberg, Manager des Online-Bezahlservice Moneybookers, der Spenden an Wikileaks bearbeitete, veröffentlicht im Oktober 2010: »Das Wikileaks-Konto wurde gesperrt, da die Firma in Australien und den USA auf einer schwarzen Liste steht. Wir erklären unsere Geschäftsbeziehung mit Wikileaks deshalb für beendet.«
Julian Assange: »Früher haben wir ehrenamtlich gearbeitet, mittlerweile haben wir rund zehn bezahlte Mitarbeiter. Ich möchte Wikileaks in vier unabhängige Abteilungen aufteilen: eine für den Schutz der Informanten, eine für den Schutz unserer Daten, eine für die Überprüfung der Dokumente und eine, die für Finanzierung und Veröffentlichung zuständig ist und den Laden am Laufen hält. In jeder Abteilung wird es bezahlte Mitarbeiter geben, die die Arbeit von unseren rund 800 freiwilligen Helfern koordinieren.«
4. Die Aussteiger
Der deutsche Informatiker Daniel Domscheit-Berg war bis September 2010 neben Julian Assange das bekannteste Gesicht von Wikileaks. Er verließ die Organisation im Streit, weil Assange ihm vorwarf, Interna an die Presse weitergegeben zu haben.
Daniel Domscheit-Berg: »Ich habe keine Lust mehr, die ganze Zeit so zu tun, als wäre Wikileaks Teil eines mysteriösen Agentenfilms, bei dem permanent jemand verfolgt wird.«
Der Journalist Kevin Poulsen auf der Webseite des Magazins Wired am 27. September 2010: »In einem Dominoeffekt aus Rücktritten hat ein halbes Dutzend Mitarbeiter die Webseite Wikileaks verlassen: als Reaktion auf die einseitigen Entscheidungen des selbstherrlichen Gründers Julian Assange.«
Julian Assange: »Als Daniel Domscheit-Berg mir über die Presse empfohlen hat, einfach mal in Urlaub zu fahren, empfand ich das als hinterlistig. Wir befinden uns mitten in der Konfrontation mit einer Supermacht, und ich soll mich in die Ferien zurückziehen? Das würde unsere Arbeit zerstören. Ich bin mir sicher, dass das FBI mit einigen Tricks versucht, Leute anzuwerben, um unserer Organisation zu schaden. Wenn ehemalige Mitarbeiter heute öffentlich sagen, dass wir aufhören sollen, immer nur Dokumente aus Amerika zu veröffentlichen, frage ich mich schon, ob da nicht vielleicht Geld geflossen ist. Denn im engsten Kreis gab es solche Diskussionen nie. Viele der angeblichen Aussteiger waren nie wirklich wichtig für Wikileaks.«
Herbert Snorrason, Isländer, 25, ehemaliger Helfer von Wikileaks, verabschiedet sich am 25. September 2010 über Twitter mit den Worten: »Fuck off, Julian.«
Die Feinde und der Verrat
5. Die Feinde
Christian Whiton, ehemaliger Berater des US-Außenministeriums, am 25. Oktober 2010 auf Fox News: »Ich habe ein paar konkrete Vorschläge, was die US-Regierung gegen Wikileaks tun könnte: 1. Julian Assange wegen Spionage anklagen. 2. Die Möglichkeiten sondieren, wie man Wikileaks-Mitarbeiter als feindliche Kämpfer einstufen könnte – das würde den Weg für außergerichtliche Aktionen gegen diese Organisation frei machen. 3. Alle Guthaben und Konten von Wikileaks einfrieren, Transaktionen unterbinden. 4. Dem neu gegründeten US Cyber Command die Möglichkeit bieten, sich zu beweisen, in dem es Wikileaks elektronisch angreift und ihre Kommunikationswege zerstört.«
Julian Assange: »Es gab kurz vor der Veröffentlichung der Irak-Dokumente einen Angriff auf unser internes Kommunika-tionssystem. Solche Angriffe haben sich nach unseren Veröffentlichungen von internen Dokumenten aus dem Pentagon verstärkt. Aber auch viele Medien hetzen gegen uns.«
Jonah Goldberg, Kolumnist der Chicago Tribune, schreibt am 29. Oktober 2010: »Warum wurde Julian Assange nicht schon vor Jahren in seinem Hotelzimmer erdrosselt? Ihn zu töten ist gegen das Gesetz, aber ich erwarte von meiner Regierung, dass sie ihn zumindest stoppt.«
James Lewis, Berater der US-Regierung: »Wikileaks versteht es sehr gut, geheime Daten zu verschlüsseln. Eine Cyberattacke von uns wäre zwecklos. Wir sind besser beraten, uns weiter über diesen sonderbaren Chef von Wikileaks lustig zu machen.«
Nachdem der amerikanische Programmierer Jacob Appelbaum im Juli 2010 bei einer Konferenz in New York als Wikileaks-Sprecher auftritt, wird er am Flughafen Newark mehrere Stunden festgehalten und nach dem Aufenthaltsort von Julian Assange befragt. Seine Handys werden konfisziert. Er hat sie bis heute nicht wieder.
Hillary Clinton, US-Außenministerin, am 24. Oktober 2010, kurz nach der Veröffentlichung der Irak-Protokolle: »Die Veröffentlichung geheimer Information ist zu verurteilen, da sie das Leben von Soldaten und Zivilisten aus den USA und ihren Partnerländern in Gefahr bringt.«
Untersuchungsbericht des australischen Verteidigungsministeriums vom 26. Oktober 2010 über die Afghanistan-Dokumente: »Keine örtlichen Informanten der Regierung wurden darin identifiziert.«
Das Pentagon hat im Juli eine Task Force aus 120 Computer- und Sicherheitsexperten gebildet, die den Schaden durch Wikileaks in Grenzen halten sollen.
Major Chris Perrine, Pentagon-Sprecher, per E-Mail am 26. Oktober 2010: »Alle Reporter, mit denen ich in den vergangenen Wochen gesprochen habe, sagen, dass sie Wikileaks gründlich satthaben. Sie würden ihre Artikel nur schreiben, weil ihre Chefs es verlangten. Die meisten sind genervt von Wikileaks, weil in ihren Veröffentlichungen sowieso nichts Neues steht.«
Jay Rosen, Professor für Journalismus an der New York University: »Wenn in den Enthüllungen angeblich nichts Neues steht – wie kann es dann unsere nationale Sicherheit gefährden? Und überhaupt: Gefährdung der nationalen Sicherheit – als ob diese Worte noch irgendeine Bedeutung hätten bei all dem Missbrauch, der damit in den vergangenen Jahren betrieben wurde.«
Julian Assange, über Twitter am 22. Oktober 2010: »Das Pentagon sagt, dass in Wikileaks-Veröffentlichungen ›nichts Neues‹ steht. Sie meinen wohl: nichts Neues für das Pentagon.«
6. Der Verrat
Bradley Manning, 23, ist ein ehemals im Irak stationierter Soldat des US-Militär-geheimdienstes. Aus Unzufriedenheit über Handlungen der US-Armee soll er zwischen November 2009 und Mai 2010 Tausende Geheimdokumente an Wikileaks weiteregeben haben. Doch er kann seine Tat nicht für sich behalten und vertraut sich einer Internetbekanntschaft an: Adrian Lamo, 29, der in dem Dokumentarfilm »Hackers Wanted« als ethisch einwandfreier Hacker porträtiert wurde.
Adrian Lamo in einem von ihm veröffentlichten Chat: »Was ist dein Ziel?«
Bradley Manning: »Hoffentlich eine weltweite Diskussion und Reformen. Ich möchte, dass Menschen die Wahrheit erkennen. Wie soll sich die Öffentlichkeit denn sonst eine Meinung bilden?«
Lamo fürchtet, dass er als Mitwisser verhaftet werden könnte. Er postet auf Facebook »too many secrets« und zeigt Manning an. In einem »Starbucks«-Café in der Nähe von Sacramento übergibt er dem FBI die Protokolle seiner Chats. Am 26. Mai 2010 wird Manning festgenommen. Er sitzt derzeit in einem Militärgefängnis in Quantico, Virginia. Ihm drohen bis zu 52 Jahre Haft wegen Hochverrats. Für seine Verteidigung wurden knapp 90 000 Dollar gespendet.
Michael D. Horvath, Sicherheitsexperte der US-Armee, in einem internen Bericht vom 18. März 2008: »Informanten von Wikileaks zu identifizieren, zu verfolgen, fristlos zu entlassen und öffentlich bloßzustellen wäre ein Weg, andere davon abzuhalten, ähnliche Dinge zu tun.«
Zitat auf Handzetteln, die im Juli 2010 bei einem Vortrag von Adrian Lamo in New York verteilt werden: »Adrian Lamo ist ein dreckiger Lügner, der die Hacker-Kultur verraten hat. Haltet in seiner Gegenwart bloß den Mund!!«
Michael Moore, Filmemacher, hat 5000 Dollar an Mannings Anwalt gespendet: »Nicht Manning hat Amerika in Gefahr gebracht, sondern diejenigen, die uns mit ihren Lügen diesen Krieg überhaupt erst eingebrockt haben.«
Adrian Lamo schreibt an dem Tag, nachdem die Verhaftung Mannings bekannt wurde, auf Facebook: »Manning war wie ein Kind, das mit einer geladenen Pistole herumspielte. Ich fühle mich beschissen, dass ich ihn anzeigen musste, aber sonst wäre sicher etwas Schlimmes passiert.«
Julian Assange: »Ich kann nicht sagen, ob Manning unsere Quelle war, denn alle Einsendungen bei uns sind anonym. Aber sein Fall ist eine Tragödie. Man kann sich das sicherste Computersystem ausdenken, doch Menschen wollen über ihre Taten reden. Bradley Manning scheint sich selbst verraten zu haben. Man kann Menschen nur schwer vor sich selbst schützen.«
Fotos: Reuters, AFP