Erinnert Sie dieses Foto eines Gefangenentransports auch an Ihre Zeit in der RAF und den Deutschen Herbst, Herr Dellwo?
Karl-Heinz Dellwo: Als ich es zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich, es könnte aus den Siebzigerjahren stammen. Mit den langen Haaren, das Alter des Gefangenen, der Hubschrauber – das passt. Das Bild zeigt Daniel S., das deutsche Mitglied einer Gruppe islamistischer Terroristen, die im Sommer mehrere Autobomben in Deutschland zünden wollte. Könnten Sie mit ihm sprechen, was würden Sie ihn fragen?
Mich würde interessieren, welche Beweggründe er hatte, so zu handeln.
Können Sie die Motivation anderer islamistischer Attentäter nachvollziehen?
Nach Jahrhunderten der Erfahrung der Unterdrückung, nach dem, was im Irak passiert, nach Abu Ghraib, nach Guantanamo – da kann ich die Wut verstehen. Und ich kann mir das Bedürfnis nach Abgrenzung als Motivation vorstellen. Das war es dann aber auch.
Interessant ist doch außerdem: Daniel S. ist jung und stammt aus einem gutbürgerlichen deutschen Haushalt – wie viele frühere RAF-Mitglieder.
Das ist eine zu oberflächliche Verbindung. Wenn Sie einen Zusammenhang mit uns suchen, dann, dass die Islamisten die Weltordnung für ungerecht halten und sich gegen diese Weltordnung stellen. Aber sie tun das mit Religion und Restauration, also mit der Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die nur deswegen golden erscheint, weil sie von scheinbar unumstößlichen Werten geprägt war. Der RAF ging es im Kern um soziale Befreiung, darum, vorhandene Herrschaft und Unterdrückung
aufzuheben. Sie wollte die sozialen Widersprüche politisieren. Was sich hier als bewaffneter Islamismus vermittelt, hat dagegen keinen sozialen Bezug, sondern einen nationalen oder geografischen. Die Islamisten suchen keinerlei Kommunikation mehr, sie stempeln die Metropolen pauschal zum Feind. Sie wollen den Bruch mit den westlichen Gesellschaften.
Zum Beispiel mit den USA. Die RAF war ebenfalls von einem tief verwurzelten Anti-Amerikanismus bestimmt.
Die 68er waren stark von der amerikanischen Kultur beeinflusst und inspiriert, als Beispiel die Musik, die Hippie-Bewegung, die Rebellion der Studenten und der Schwarzen. Die RAF hat die Konzerne und die Regierungspolitik in den USA abgelehnt, sie war aber nicht anti-amerikanisch.
Auch die RAF sah Gewalt als ein Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele. Woran machen Sie den Unterschied zwischen einem islamistischen Attentäter und einem Mitglied der RAF fest?
Im Begriff von gesellschaftlicher Befreiung. Und der Tod anderer Menschen war im Gegensatz zu einem Selbstmordattentäter zu keinem Zeitpunkt unser Ziel. Was uns selbst anging, musste man zwar bereit sein, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Anders ging das nicht. Aber es war nie ein Selbstzweck.
Das Bild des entführten Hanns Martin Schleyer stand in Deutschland jahrelang für den Terrorismus an sich. Inzwischen ist es von den Geisel-Videos aus dem Irak abgelöst worden.
Ich sehe das anders. Sicher, das Bild von Schleyer sollte auch ausdrücken, dass man einen Vertreter der Gegenseite gefangen genommen hat, also auch eine Machtposition hat. Aber Schleyer verkörperte auch die Kontinuität der Macht in der BRD, die in den Nationalsozialismus zurückreichte. Konkrete Forderungen und deutsche Geschichte kamen hier zusammen. Diejenigen, die im Irak Geiseln nehmen, wollen mit ihren Bildern auch Gegenmacht demonstrieren. Aber die Geiseln dort verkörpern nicht Mächtige, die sich plötzlich in der Situation der Ohnmacht wiederfinden.
Fühlen Sie sich eigentlich manchmal selbst von der Gefahr
islamistischer Anschläge bedroht?
Wenn ich auf einem belebten Platz bin oder in einen Zug steige, dann macht mir das keine Angst. Aber kürzlich stand ich vor einer Moschee, die auch einige Attentäter des 11. September besucht hatten. Da kam eine Gruppe Muslime heraus, die ich als fremd, uneinschätzbar und damit auch bedrohlich wahrnahm. Es war erschreckend festzustellen, wie schnell sich das gesellschaftliche Klima so wandeln kann, dass man ganze Gruppierungen von Menschen als potenzielle Feinde wahrnimmt.