Jede Stadt hat einen Haken

An den Ufern der ­Themse, an der ­Donau in Budapest, im Hafen von Syrakus – in praktisch allen Städten gibt es Angler, die mitten im Touristentrubel ihre Rute auswerfen. Sie strahlen eine ­beneidenswerte ­Würde aus.

Nur die Ruhe: ein Stadtangler am Bosporus in Istanul.

Foto: Dagmar Schwelle/laif

Der ältere Herr steht gleich neben dem An­leger »Zitelle«, wo an diesem Sommersamstag die Vaporetti im Minutentakt Touristenabladen. Er raucht und schaut auf das Wasser, direkt gegenüber liegt der Markusplatz. Aber der interessiert ihn natürlich gar nicht, genauso wenig wie die sich zäh verschiebende Menschenmenge ringsum. Wichtig sind nur die beiden dünnen Schnüre, die gespannt in die Lagune führen, und die Rutenspitzen, die sanft im Takt der Wellen wippen. Deswegen ist er hier. In dem Eimer, der an seinem Fahrradlenker baumelt, liegen zwei kleine Fische.

Diesen Angler gibt es in jeder Stadt mit Fluss oder Hafen. Er sitzt an der Seeprome­nade, die man als Tourist pflichtschuldig abwandert, steht in den Häfen, in denen man mit der Fähre einläuft, oder auf den Brücken, auf denen man romantische Gefühle bekommt. Man bemerkt ihn nicht unbedingt, wenn man nicht darauf achtet, aber er ist immer da.

Die berühmtesten Stadtangler sind die auf der Galata-Brücke in Istanbul, und das ist der einzige Ort, wo sie selbst als Attraktion gelten. Sonst verschwinden sie in der Kulisse, sind leise und schmal an den Rändern des Festlands aufgereiht und verangeln still ihre Zeit. Ich mag die Männer mit ihren Angelruten, ich sammle sie mittlerweile regelrecht, sie haben in der Fremde eine zutiefst beruhigende Wirkung auf mich. Denn es ist ja so: Auf Reisen ist man nicht ganz bei sich. Man wirft sich in die Welt, gibt seinen Halt auf, lässt sich durch die Landschaft treiben und kennt sich dabei meistens nicht so ganz aus. Aber dann sind da diese Angler, die überall nahe­zu gleich aussehen und die deswegen irgendwie vertraut sind. Meist ältere Herren mit leicht erodierten Gesichtern und in ihren bequemsten Hosen, dazu ein Eimer und ein paar Utensilien um sie verstreut und eben ihre Angelruten, wie Hoffnungsantennen. Oft sind es auch mehrere an einer Stelle, aber jeder steht doch ein wenig für sich. Denn Angeln ist kein Stammtisch, sondern eine ernsthafte, pardon, Angelegenheit.

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Diese alten Stadtangler wirken wie übrig geblieben aus einer vergangenen Epoche. Sie sind auch stets ein wenig mürrisch, aber das gehört zum Angeln vermutlich dazu. Es sind nie die modernen Profis, die sich mit viel Ausrüs­tung und Tarnzelten im Gebüsch verschanzen, nicht die eleganten Fliegenfischer oder solche, die gebräunt auf ihrem Boot angeln. Nein, diese stoischen Stadtangler ähneln denjenigen, die in alten Kari­katuren eine Blechdose aus dem Wasser ziehen. Es ist sozusagen die Basisvariante des Anglers, wie er vor 150 Jahren schon aussah.

Alles schiebt und bewegt sich, die Angler aber haben ihren Platz gefunden und bleiben einfach, wo sie sind

Ich habe solche Angler am Hudson beobachtet, während hinter ihnen die Touristen Manhattans auf Leihrädern und Skateboards vorbeirauschten. Sie lehnen an den abgegriffenen Brückengeländern über der Themse oder Seine und machen dort die gleichen sparsamen Bewegungen wie an den namenlosen Wassergräben Thailands. Auf Sizilien stand ich eine Weile neben einem Angler, der im mehr als 2000 Jahre alten Hafen von Syrakus versuchte, Meeräschen zu fangen, während neben uns Rikschafahrer und Straßenver­käufer vorbeilärmten. Meeräschen sind sehr scheu, alte Angler nicht. Es ist ihnen egal, was rings­herum passiert, sie drehen dem Trubel den Rücken zu. In jedem portugiesischen Ferienhafen steht einer auf diese Art und behält traurig das Meer im Blick, in der Bucht von Yokohama werfen Angler zu Hunderten und jeder für sich ihre Köder aus, und ihre Kollegen sitzen auf einem umgedrehten Melasse-Eimer in Budapest an der Donau, angeln zwischen den Segelyachten im Hafen von Auckland oder mitten in schottischen Städten, wo die Flüsse die Farbe von Malzbier haben.

Ich weiß nicht, warum sie sich nicht eine ruhigere Stelle suchen, eine, wo ich und die anderen Touristen sie nicht stören oder blöde Fragen stellen. Ich angle selbst gelegentlich und würde mich dazu niemals mitten auf die Promenade am Starnberger See setzen. Aber irgendwie macht das auch gerade den Reiz der Stadtangler aus, es liegt so eine trotzige Botschaft darin: Das war schon immer meine Stelle. Oder vielleicht auch: Nirgends beißen die Barben eben besser als hier, unter der Unesco-Weltkulturerbe-Brücke.

Die Würde dieser Randfiguren liegt im deutlichen Kontrast zu dem Treiben der Stadt. Alles schiebt und bewegt sich, die Angler aber haben ihren Platz gefunden und bleiben einfach, wo sie sind. Sie nehmen nicht an dem Gewese teil, und ohne es darauf anzulegen, parodieren sie die Unruhe ringsherum sogar. Wenn ich ihnen ein paar Minuten lang bei ihrem schönen Nichterleben zugesehen habe, kommt es mir jedenfalls so vor, als wären sie deutlich näher am Sinn des Lebens dran als ich mit meinem vollgestempelten Reisepass.

Nichts buchstabiert auch so deutlich »Einheimischer« wie eine ans rostige Fahrrad gelehnte Angelrute oder das Nicht­beachten eines einlaufenden Kreuzfahrtschiffs. Vielleicht liegt darin das Beruhigende – die alten Männer am Wasser versichern mir, dass der Ort eine richtige Geschichte hat, dass es ihn wirklich gibt. Er ist nicht nur Instagram-Kulisse, nein, es hat hier noch eine Handvoll älterer Herren, die sich morgens mit ihren Angelruten auf den Weg machen und abends irgendwohin zurückkehren, um zuzubereiten, was ihr Fluss ihnen überlassen hat. Sie verachten uns haltloses Reisevolk natürlich, das ist ihr gutes Recht. Und ist es nicht auch eine Art von Reise, tagein und tagaus auf den Fluss oder das Meer zu schauen? Wenn ich diese Angler sehe, stellen sich jedenfalls umgehend ein schlechtes Gewissen und ein wenig Heimweh ein. Warum noch mal bleibt nicht jeder zu Hause und fischt in seinem eigenen Ozean?