Nel blu dipinto di blu, heißt es in der heimlichen Nationalhymne Volare: das Blau ins Blau gemalt. Besungen wird der dick aufgetragene Pinselstrich von Himmel und Meer. Dazu das flirrende Silbergrün endloser Olivenhaine, das Rot glühender Lava, die sich von den daueraktiven Vulkanen Stromboli und Ätna ergießt: Italien ist der Farbkasten des Kontinents. Doch in Matera im äußersten Südosten Italiens ist davon nichts zu sehen. Die Stadt hat kein Feuer, kein Meer und eigentlich auch keine Farbe. Nur Steine, so weit das Auge reicht.
Die Höhlenwohnungen von Matera heißen Sassi. Und das Wort bedeutet nichts anderes als: Steine. Sie sind überall, von den Häusern und Höhlen bis in die Schlucht des Flüsschens Gravina, aus der Matera herauszuwachsen scheint. An den Hängen sprießen gräuliches Gras, Ackersenf und Wegwarte. Ein Ton in Ton gemaltes Bild der Kargheit. In der Mode würde man sagen: nude. An diesem wolkenverhangenen Frühlingstag verschmelzen die übereinandergeschachtelten Grottenhäuser mit dem Himmel.
Im Gewirr der Höhlen und Häuser hat sich ein Hort vitaler Ordnung erhalten: ein Gemüsegarten, fein abgezirkelt, nicht mehr als zwanzig Quadratmeter groß. Tief grüner Mangold wächst hier in Reih und Glied, an der Ecke blüht zartrosa ein Pfirsichbaum. Derart intensiv wirkt dieser Farbfleck, dass die Touristen Schlange stehen, um ihn aus dem besten Winkel zu fotografieren. Man hört Sprachen aus aller Welt. Russisch, Amerikanisch, Französisch. Auch italienische Rentnergruppen hören sich Anekdoten aus dem Höhlenleben an, die von lokalen Fremdenführern berichtet werden. Wie arm das Leben hier früher war und wie wichtig die Gemeinschaft. »Es spielte sich ja alles draußen ab, gemeinsam, jeder kannte jeden«, sagt die Frau vom Touristenamt. Die Rentner nicken bedeutsam, den Blick in den Mangold vertieft. Dann geht es weiter, zur Grand Tour durch die Steine.
»Die Steine leben«, sagt Vincenzo Grossi, »sie verändern sich je nach Witterung und Licht.« Und er meint: »Sie haben so viele Farben! Grün vom Regen oder rosa von der Morgensonne.« Grossi, 37, drahtige Gestalt, dunkle Haare und dichter Bart, arbeitet mit jenem Material, das die Leute von Matera »tufo« nennen, obwohl es kein vulkanischer Tuff ist, sondern Kalkstein aus vorsintflutlichen Schnecken und Muscheln. Dass er frisch geschnitten gelblich schimmert, kann man auf der Baustelle sehen, wo der Maurer Grossi jetzt Steine schichtet, die ein Kollege mit einem winzigen Raupenfahrzeug die Treppe hinaufgebracht hat. Hier soll im kommenden Jahr, wenn Matera Kulturhauptstadt Europas wird, ein »demo-ethno-anthropologisches« Museum über das Leben in den Höhlen eröffnen. Dazu werden verlassene Wohnstätten wieder hergerichtet.
Im Grunde sind die Sassi von Matera ohnehin ein riesiges Museum aus Höhlen, Häusern und Kirchen, verbunden durch Gassen, winzige Plätze und steile Treppen. Seit der Steinzeit haben die Menschen sich hier Wohnungen aus dem Fels geschlagen, um in den Leib der Erde zu ziehen. Das alte Matera ist eine Stadt wie ein Uterus, archaisch und organisch: Mutter Erde, Vater Stein. Allerdings lebt kaum noch jemand in diesem einzigartigen Gebilde. 1954 verbot die italienische Regierung das Wohnen in den Sassi. Damals waren die Höhlen ein international berüchtigtes Schandmal für Italien, mit 18 000 Menschen, die auf engstem Raum gemeinsam mit ihren Tieren in großer Armut unter unerträglichen hygienischen Bedingungen lebten, nahezu ohne Licht und Luft, mit einem Loch im Boden als Klo. Viele machte das krank. Und als man aus den Statistiken las, dass in Matera fast jedes zweite Neugeborene starb, griff der Staat ein. Die Höhlenmenschen wurden in neu gebaute Wohnviertel umgesiedelt, in Häuser mit Fenstern, fließendem Wasser, Heizung. Und mit Schatten spendenden Bäumen vor der Tür.
Dort, oberhalb der Höhlen, wuchs Matera weiter, zu einer ganz normalen Stadt mit 60 000 Einwohnern, mit bunten Fassaden, Schaufenstern und schmalen Straßen, in denen sich zur Rushhour die Autos stauen.
Die Sassi verfielen, bis 1986 ein neues Gesetz für ihre Erhaltung erlassen wurde. Italien hatte für Matera Unesco-Schutz beantragt und bekam ihn 1993 tatsächlich. Seither gehört das steinerne Labyrinth offiziell zum Weltkulturerbe. »Matera will den Süden ganz Italiens, ja ganz Europas repräsentieren«, heißt es im offiziellen Text zum Projekt Kulturhauptstadt. »Wir stehen für jene vergessenen Kulturen, die dennoch alle Krisen überlebt haben.« Wie der Mensch ans Eingemachte geht, kann man hier sehen. Wie er seit Jahrtausenden versucht, der Natur eine Behausung abzuringen, sie mit einfachsten Mitteln würdig zu gestalten. Und wie er im Einklang mit dieser Natur lebte, den Berg aushöhlte, statt Flächen zu versiegeln, das Regenwasser in Zisternen sammelte, die Wärme seiner Tiere nutzte.
Ein Gebot der Armut, gewiss, aber ein halbes Jahrhundert nach der Auflösung der Höhlenstadt gelten die Sassi plötzlich als nachhaltig, und ihre Farblosigkeit ist chic. Mehr als achtzig Prozent der Immobilien dort gehören immer noch dem Staat, der sie der Stadt Matera zur Verwaltung überlassen hat. Und nun überwacht ein »Sassi-Amt«, dass jeder, der eines der 2652 Grottenhäuser gepachtet hat, sie auch anständig renoviert. Vor allem heißt das: keine Farben, jedenfalls nicht an den Außenmauern. Der Stein soll nackt bleiben. Drinnen ist weiße Wandfarbe zur rohen Gewölbedecke erlaubt, und bei den Fensterrahmen sogar Fantasie. Die Fenster bilden den einzigen individuellen Punkt in der Stadtlandschaft, mal sind sie mintgrün, mal lavendelblau.
Bis vor ein paar Jahren gab der Staat großzügige Zuschüsse für die Instandsetzung. Doch inzwischen sind die Kassen leer. Ohnehin ist kaum einer der früheren Bewohner in die Höhlenstadt zurückgekehrt. Die Sassi mögen einmalig und geschichtsträchtig sein, Komfort bieten sie nicht. Sie bleiben eng, dunkel und feucht. Und mit dem Auto geht hier gar nichts.
Ein französisches Touristenpaar sucht sein Hotel. Sie haben sich verlaufen, treppauf, treppab sieht alles gleich aus. Der Mann wischt nervös über sein Smartphone, dessen Navigationssystem kläglich versagt, die Frau will jetzt einen Kaffee. Immerhin das ist kein Problem, denn an Lokalen mangelt es nicht. Wohnungen gibt es kaum noch in den Sassi, dafür jede Menge Pensionen und Hotels, Bars und Restaurants. Sie alle werben mit dem Markenzeichen von Matera: Ursprünglichkeit.
Auch die lokale Küche wirkt archaisch, mit ihren Hülsenfrüchten und Wildgemüsen. Die in den Restaurants servierte Wegwarte kommt aus der Gravina-Schlucht, die roten Kichererbsen dazu von den Feldern der nahen Hochebene. Und das Brot aus Hartweizengrieß hat exakt die Farbe der Steine. Billig zu haben ist das Gesamtkunstwerk Matera nicht. Ein Zimmer in den Sassi kostet doppelt so viel wie eine Unterkunft außerhalb. Schlichtheit ist offenbar der wahre Luxus unserer Zeit. Besonders augenfällig wird das im Hotel »Le Grotte della Civita«. Seine achtzehn Höhlen-Gasträume haben nackte Wände, einen Terrakottaboden und schlichte, dunkle Holzmöbel. So viel Einfachheit kostet ab 280 Euro die Nacht.
Was früher die Farblosigkeit der Armut war, gilt heute als eleganter Minimalismus. In den Sassi gibt es keine Übersättigung, keinen Dauerreiz der Sinne. Die nackten Steine sind still, durch sie bewegen sich allenfalls lautlos die Katzen, deren graugetigertes Fell sie eins werden lässt mit dem Labyrinth der Höhlen. Der Regen ist ausgeblieben, und abends, wenn gelbe Laternen alles in honigfarbenes Licht tauchen, wirkt die uralte Siedlung endgültig entrückt in ihre eigene Zeitlosigkeit. Eine perfekte Kulisse für die ganz großen, substanziellen Themen. Tatsächlich ließ Pier Paolo Pasolini sein 1. Evangelium - Matthäus in den Sassi spielen und Mel Gibson Die Passion Christi. Es ist, als habe die Höhlenpyramide ihre eigene Spiritualität. In der modernen Oberstadt, wo die grellen Farben der süditalienischen Gegenwart herrschen und der »struscio«, das abendliche Flanieren durch die Geschäftsstraßen, praktiziert wird, stößt man auf die neuen Armen von Matera. Es sind Dutzende von jungen Afrikanern, die vor den Eissalons und Keramikläden betteln. In die Sassi setzen sie keinen Fuß.