Ein Loblied auf den Intercity

Kein Bordbistro, kein WLAN und Sitzbezüge aus der Hölle: Das ist ja gerade das Schöne!

Als Willy Brandt Kanzler war: 1. Klasse Intercity, Abteil, Baujahr 1969 bis 1974.

Manchmal geht ein Seufzen durch einen Bahnsteig voller Menschen. Es ist leiser als das höhnische Stöhnen, wenn die Durchsage kommt, dieser oder jener Zug »erhalte« vierzig Minuten Verspätung. Es ist mehr ein In-sich-Zusammensacken – weil gerade ein Intercity einfährt, als Ersatzzug für einen ICE. Oder weil man einen Intercity zwar erwartet hat, aber nicht einen so sichtlich alten und zusammengewürfelten Zug. Ich aber liebe den Intercity und möchte ihn preisen.

Manchmal, wenn ich ins Rheinland fahre oder nach Ostfriesland oder in abgelegene Ziele im Ruhrgebiet, sagen Menschen, die ich sonst schätze, zu mir: »Du Armer, da fährt ja nur der Intercity.« Den Intercity betreten diese Menschen mit sinkendem Herzen. Weil sie ja wissen, er ist das Zweitbeste, nach dem ICE. Wer soll das Zweitbeste wollen? »Don’t go for second best, baby«, das hat Madonna gesungen, als die gegenwärtige Generation von bahnfahrenden Deutschen sozialisiert wurde. Madonna fuhr meines Wissens nie Intercity.

Das Premium-Produkt der Bahn ist der ICE, und ob man will oder nicht: Das Premium-Produkt setzt den Standard. Wenn man Intercity fährt, dann, weil auf der Strecke kein ICE verkehrt. Oder weil der ICE ausgefallen ist. Oder weil der ICE so viel zu spät kommt, dass man auf einen Intercity ausweicht, der dieselbe Strecke etwas langsamer zurücklegt (Hamburg-Berlin zum Beispiel plus zwanzig Minuten). Oder weil man diese Woche die Summe wirklich nicht über hat, die das ICE-Ticket mehr kostet. IC-Fahren scheint wie eine Niederlage, aber das ist es nicht.

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Parallelwelt

Mit dem IC fährt man zurück in die Zeit von Muffgeruch und D-Mark.

Meine Tochter sagt, als der IC einfährt: »Oh nein, ist das einer von DIESEN ZÜGEN?« Sie meint, dass es kein WLAN gibt. »Und es riecht so komisch.« Das mag stimmen, sobald im Intercity-Zug aus-hilfsweise ältere Wagen eingesetzt sind. Der Intercity ist noch ein richtiger Zug mit einer Lok und Anhängern, etwas Individuelles. Das heißt, unter seinen bundesweit 1200 Wagen finden sich auch Exoten, zum Beispiel Wagen aus jener Art von Zügen, die man früher »Interregio« nannte.

Vielleicht weil ich zu einer Zeit aufgewachsen bin, als die Dinge noch einen Eigengeruch hatten und niemand erwartete, dass es bei Bahnreisen anders wäre, mag ich den Geruch der älteren Waggons. Vor allem aber leidet meine Tochter unter dem Interieur, wenn wir in einem Interregio-Wagen aus den Neunzigerjahren sitzen. Die seltsam asymmetrische Sitzplatzverteilung, die Mischformen aus Großraum und Abteil, und vor allem: die Farben. Eine Welt, bei der man nicht weiß, wo das Beige aufhört und das Grün anfängt. Wie in einem Bistro-Interieur aus einer Vorabendserie ebendieser Neunziger, wo sich immer ein Freundeskreis traf und in Konflikte geriet.

Dies ist kein Wehklagen über den Zustand von Bahnwaggons. Wenn Bahnwaggons in Deutschland nicht gut sind, dann, weil nervige Leute drin sitzen, und dafür können die Waggons nichts. Die Bahn ist gerade dabei, das sogenannte Rollmaterial der Intercitys zu modernisieren. Ältere Modelle wie mein Interregio-Wagen werden also bald buchstäblich aus dem Verkehr gezogen oder nicht mehr als solche zu erkennen sein. Und in vier, fünf Jahren werden auch diese Wagen ausgetauscht gegen die neuen Intercitys namens »ECx«, im Standard und im, wie es aus dem Produktmanagement der Bahn heißt, »Look and Feel« nah am ICE.

Denn: Die Bahnreisenden wünschen sich einen höheren Standard. Barrierefreiheit, WLAN, Bord-Bistro. Das gehört noch nicht zum Intercity. Vor allem nicht zu den älteren Wagen, die vorzugsweise in »Ersatzzuggarnituren« eingesetzt werden, also wenn das Bahnsystem gerade an seine Grenzen stößt. Oft hat man in so einem Moment schon die eine oder andere Schwierigkeit auf dem Weg von A nach B über ganz schön viel C, D und E erlebt. Vielleicht sind vie­le deshalb gestresst und ungnädig, wenn sie unterwegs auf einen IC treffen.

Ich kenne diese mittlere Verbraucherwut natürlich. Manchmal fühle auch ich mich auf Reisen einsam und verloren, sobald ein paar Dinge nicht klappen. Die Dienstreise war unerquicklich, das Hotelzimmer laut, ich will nur noch weg, aber über das Online-Reservierungssystem kann ich vor meiner Abreise aus Trier im Intercity die letzten freien Wagen nicht anklicken, um mir meinen Platz auszusuchen. Der Rest des Zuges ist voll, und ich denke: Es wird eine Höllenfahrt.

Beim Einsteigen stellt sich aber heraus, dass zwei Wagen im Online-Reservierungssystem nicht erfasst wurden. Es sind alte Erste-Klasse-Wagen, die, daher kommt also das Wort, »deklassiert« worden sind und nun in der zweiten Klasse eingesetzt werden. Die Zugbegleiterin empfängt mich und zwei, drei andere Versprengte wie in einem Märchen: Ja, doch, wir könnten uns hier überall hinsetzen. Sie erzählt, dies seien alte Wagen des »Rheingold«-Zuges, die hin und wieder auf dieser Strecke noch eingesetzt würden. »Den hatte ich in meiner Spielzeugeisenbahn«, sage ich wie der letzte Bahn-Nerd, außerdem gehörte die Bahn wohl eher meinem Vater. Auf der linken Seite zwei Sitze, rechts einer, breit und eckig, die Polster rosa. Es ist mir egal, dass es hier kein WLAN und wegen der vielen Tunnel auf dieser Intercity-Strecke auch keinen Telefonempfang gibt, im Gegenteil: Es ist endlich Ruhe. Ich fühle mich geborgen und beschenkt. Nichts, was mir je im ICE Gutes widerfahren ist, könnte dagegen anstinken.

Also habe ich angefangen, mich über ICs nicht nur nicht mehr zu ärgern, sondern mich über sie zu freuen und schließlich, Stufe drei, sie mir rauszusuchen. Ich fahre gern die Strecke Hamburg-Berlin im Intercity. Der Zug hält in Büchen, Ludwigslust und Wittenberge, Orten, an denen man sonst nur vorbeiswoosht. Das und die Abwesenheit von WLAN führen dazu, dass an Bord weniger Mitreisende sind, die sich für das Allerwichtigste auf der Welt halten. Es herrscht eine erdnähere Atmosphäre, wenn die Leute im Zug weniger von sich selbst gestresst sind. Und wer in einem Intercity sitzt, hat von Anfang an nicht so hohe Perfektionsansprüche wie das Publikum im ICE – Perfektionsansprüche, die im ICE mitunter dazu führen, dass selbst Personenschäden im Großraum mit höhnischem Aufstöhnen quittiert werden, von den schlechten Witzen über das Englisch des Personals zu schweigen. Auf derlei Firlefanz (englische Durchsagen und die arroganten Witze darüber) legen wir Intercity-Reisenden keinen Wert.

Ich will nicht verhehlen, dass der Intercity ein Stück BRD-Nostalgie ist, die dem etwas infantilen Bedürfnis nach Kuscheln in der eigenen Vergangenheit entspringt. Meine Oma kam mit dem Intercity aus ­Koblenz, als der Intercity und ich noch was ganz Neues auf der Welt waren. Dadurch, dass der Intercity mir wie ein Bote der weit entfernten großen Welt erschien, hat er für mich immer noch diesen Zauber. Und er ist für mich der Zug, der am ehesten damit zu tun hat, was vielen beim Bahnfahren verloren gegangen ist: einfach rauszugucken. Im ICE ist einem da entweder eine Plastiksäule, das Rollo-Bedürfnis des Vordermannes oder der eigene Bildschirm im Wege. Hinter dem Intercity-Fenster aber entrollt sich die Welt, er fährt nicht auf schnurgeraden Hochgeschwindigkeitstrassen, sondern oft da, wo es schön ist. Von Hamburg mit dem IC »Königssee« ins Berchtesgadener Land. Von Frankfurt am Main nach Westerland. Oder am Rhein entlang, und vom IC aus sieht man die Loreley.

Diese Intercity-Strecken werden bleiben, aber nicht die mitunter fast fünfzig Jahre alten Wagen, die auf ihnen fahren. In dem neuen »ECx«, den die Bahn gerade in ihr Netz webt, wird man mit fast unmerklicher Erleichterung registrieren, dass alles vertraut und hochwertig aussieht, man wird WLAN und ein volles Bistro und ein besseres Handtrocken-Gebläse auf dem Klo genießen. Aber es wird auch etwas verloren gehen, wenn alles aussieht wie der ICE. Ein ICE ist ein Nicht-Ort, wie die in mittlerer Preislage angesiedelten großen Hotelketten der Welt: vertraut, gleichförmig, unverankert. Es riecht nicht mehr komisch, keine Angst, meine Tochter. Und wenn, dann sind das nicht die Polster, sondern die Tupperdose da drüben. Doch mit allem, wonach wir uns sehnen, löschen wir, wenn es eintrifft, immer auch das aus, was wir eines Tages vermissen werden.

Die Antwort kann nur lauten, in den nächsten Jahren besonders oft Intercity zu fahren. Oder bei DBresale.com einen deklassierten Erste-Klasse-Wagen aus den Siebzigern zu ersteigern und darin an einem Ort eigener Wahl so lange zu sitzen, wie man will.