Vier Tage in der Hölle

Unser Autor wollte mal richtig in einem Kunstwerk versinken – und verbrachte vier Tage vor dem »Höllensturz der Verdammten« von Peter Paul Rubens.

Zwölf Schritt trennten uns am ersten Tag, zwölf Schritt und dazwischen eine Kordel. Auf der anderen Seite der Kordel lag die Alarmzone, ein schmaler Streifen, den Sensoren sicherten. Hinter dem Streifen hing es.

Es war größer, als ich angenommen hatte. Sein goldener Rahmen war übermannshoch und breit genug, dass ein einzelner Betrachter sich davor verlor. Aus der Ferne sah es aus wie die alten Meisterwerke ringsum, aber jeder Schritt näher offenbarte, wie anders es war. Ein Wirbel von Licht, den Schatten schluckten. Seltsam verschlungene Schemen. Farben, die flohen. Ich hielt inne. Näher wollte ich noch nicht kommen. Ich hatte Zeit. Vier Tage. Ein Bild. Das war der Plan.
Draußen lag die Stadt unter Wolken, ein kalter Wind wehte. Museumswetter. Doch das Museum war fast leer. Die wenigen Besucher verloren sich in den Sälen, verfolgt vom Schmatzen ihrer Schuhsohlen auf dem Parkett. Ab und an schnäuzte sich jemand. Sonst war es still. An der Wand das Bild, groß und gewaltig.

Das Gemälde war eine Empfehlung gewesen. Eine Freundin hatte es sezieren müssen, im Studium. Eine Rotte Kunststudenten, angesetzt auf einen Kanon alter Kunstwerke, am Ende war alle Ehrfurcht Asche. Ein Bild allein blieb in Erinnerung.

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Zwölf Schritt. Auf diese Entfernung wirkte es im ersten Augenblick wie ein Landstrich. Im Norden stand eine Sonne, die ihr strenges Licht weit nach Westen warf. Im Osten ferne Feuer. Der Süden Düs-ternis. In der Mitte ein heller Strudel, aus dem das Auge nach und nach Gestalten schälte. Menschen. Schlangen. Vögel aus Rauch. Kaum möglich, aus diesem Abstand klare Konturen auszumachen. Doch ohne Details, an denen der Blick ankern konnte, wilderte meine Aufmerksamkeit anderswo. Dauernd drängten sich die übrigen Gemälde des Saals in den Sinn – Feldherren, Bluthunde, Gelehrte mit gestärkten Halskrausen. Wenige Stunden später waren die Augen stumpf. Zwölf Schritt, das war zu weit weg.

Der Morgen darauf war Frühling, war Wärme. Eine Menschentraube ballte sich am Eingang des Museums, Schlag zehn öffnete er sich. Schließfach. Kasse. Schnell. Die Treppen rauf, erste Tür rechts, Augen auf und durch den Torbogen – zu spät. Da stand schon einer. Der erste Blick war sein. Ich nahm den alten Platz ein. Mit ausgeruhten Augen betrachtet, gab das Bild mehr von sich preis. Aus der Finsternis am unteren Rand stieg ein Löwenwesen mit zum Angriff erhobenen Tatzen. Einer der Rauchvögel war ein gefiederter Mann, der wie getroffen abwärts trudelte. Da war ein Turm, nein, ein Mast, nein, ein Baum aus Leibern. Zeit, näher zu treten. Schritt um Schritt wichen die übrigen Gemälde zurück, Schritt um Schritt füllte das Bild den Blick mehr aus. Es war gnadenlos. Die strenge Sonne war der Schild des Erzengels Michael, mit flammendem Schwert. Die fernen Feuer ein Mahlstrom aus Menschen, an deren Haaren Geschöpfe zerrten, die auf gehörnten Bestien ritten. Nattern schlugen ihre Fänge in das Fleisch gepeinigter Frauen. Ein Wesen mit Froschaugen, tief und schwarz wie Teiche, schwang eine Schlange als Peitsche. Überall Drachen. Jeder einzelne Mensch im Bild, es mussten Hunderte sein, war nackt.

Als ich aus dem Bild wieder auftauchte, war es spät. Ich ging heim. Ich konnte nicht mehr. Ich hatte mich noch nie so lange einem Kunstwerk allein ausgesetzt. Einmal, vor Jahren, hatte ich in einem übernachtet – im Traumhaus, einer Arbeit von Marina Abramovic´. Es steht in der Präfektur Niigata in Japan; ein altes Bauernhaus, das nur besichtigen kann, wer darin schläft. Die Wände sind mit blutroten Gedichten beschrieben, in einer Ecke steht ein Traum­telefon, und die Schlafräume sind ganz in einer Farbe gehalten, grün, blau, rot, purpur. Zum Schlafen schlüpft man in einen Art Raumfahreranzug der gewählten Farbe, legt sich in eine Kiste, die aussieht wie ein offener Sarg, und schreibt am Morgen seine Träume in ein ausliegendes Buch. Klingt verrückt, ich weiß. War aber gut.

Dritter Tag. Wochenende, ich war spät dran. Auf dem Weg zum Bild sah ich eine Gruppe auf Klapphockern vor einem Gemälde sitzen, reihum erzählten sie ihre Gedanken. Das hätte ich auch gern getan. Allein vor meinem Wimmelbild voller Wahngestalten, das wurde von Stunde zu Stunde schwerer. Kaum zu glauben, dass Rubens das Bild für eine Kapelle geschaffen hatte. Er hatte das Jüngste Gericht zweimal zuvor gemalt, prächtige Gemälde, in denen Gläubige und Sünder gleichermaßen auftauchten. Dann schuf er dieses Bild. Hier kam keiner mehr in den Himmel. Alle fuhren zur Hölle, ohne Ausnahme. Wie dankbar ich war, wenn andere sich an meine Seite stellten, um stumm das Bild zu betrachten.

Dann begann die schönste Zeit im Museum, die Stunde vor der Schließung. Keiner kam mehr. Wer noch umherwandelte, war schon lange da. Die Wachleute kontrollierten verstohlen ihre Armbanduhren, um sich zu vergewissern, dass die Zeit in der Tat so langsam verstrich. Die Säle leerten sich. Niemand mehr. Nichts. Nur das Bild und Stille. Irgendwann ein Räuspern. »Wir schließen jetzt.«

Sonntag war der schönste Tag. Sonntags kostet der Eintritt nur einen Euro, das Museum war voll. Liebespaare. Reisegruppen. Familien mit kleinen Kindern. Bluejeansmädchen und junge Kerle in Jacken aus Ballonseide. Ein Vater schob seinen Sohn, ein Säugling noch, im Kinderwagen von Bild zu Bild und hob ihn hoch, wann immer er gluckste. Alle Stunde schlug irgendwo der Alarm an, und eine leise Robotermelodie wehte vorüber, die so klang, als fahre R2-D2 durch den Raum der flämischen Meister. Das waren die piepsenden Walkie-Talkies der Wächter. Ich genoss jede Ablenkung. Sie machte es einfach, den Höllensturz aus dem Auge zu verlieren.

Irgendwann war ich so weit: Abschied. Ich trat meinem Bild so nahe, wie ich nur konnte, kein Schritt mehr zwischen uns, nur noch die Kordel. Ich spürte die Blicke im Rücken. So nahe mochten sie nicht. Schon gar nicht bei diesem Gemälde. Vor Jahren hatte ein Mann einen Becher voller Beize auf den Höllensturz geschüttet, der Farblöser ätzte durch Sünder und Dämonen, beinahe wäre das Bild vollständig zerstört worden. Er habe so handeln müssen, sagte der Mann später aus – er habe dieses eine Kunstwerk opfern müssen, um alle anderen Kunstwerke, um die Menschheit an sich zu retten. Ich wandte mich um und sah in das Lächeln einer Wächterin. Ein Kunstwerk oder die Menschheit. Ich fragte mich, wie ich mich entschieden hätte.

SCHLAFEN
Im Hotel Olympic, Hans-Sachs-Straße 4, übernachten viele, die aus München weggezogen sind – gutes Zeichen. DZ ab 160 Euro.

ESSEN

Das Café Klenze in der Alten Pinakothek hat wunderbare Torten, besonders zu empfehlen ist die »Mississippi Mud Pie«.

Foto: Fritz Beck