Genau der richtige Papst

Benedikt XVI. ist uneitel, souverän, unbestechlich - und völlig unzeitgemäß. Also ideal für die Gesellschaft, wie sie heute ist. Ein Porträt.

Noch im 7. Jahrhundert wurden Päpste zum Tode verurteilt, weil sie sich gegen Irrlehren wandten. Andere flüchteten nach Avignon oder in die Engelsburg, um von ihren Gegnern nicht massakriert zu werden. Der Stuhl Petri wackelte, und oft genug unter der Last der eigenen Leute, aber er brach nicht. Auch nicht, als der Spiegel einen Karol Wojtyla zu erledigen hoffte. Sofort nach seinem Tod war der schreckliche Kirchenführer, welch Wunder, in demselben Spiegel-Bild ein echter Mega-Typ, »der Jahrtausendpapst« schlechthin.

In zwei Jahren könnte ihn sein Nachfolger altersmäßig überholt haben, aber noch immer ist es gar nicht so leicht, sich ein Bild zu machen. Benedikt XVI.: Die einen mögen ihn nicht kennen, weil ihnen die ganze Richtung nicht schmeckt. Die anderen können ihn nicht kennen, weil es an Information fehlt. Heute kann man beispielsweise den Eindruck haben, nicht die Schulen, in denen der entsetzliche Missbrauch passierte, seien verantwortlich, sondern der Papst in Rom (der als Präfekt strenge Richtlinien herausgab, um Vertuschung zu verhindern). »Was wusste Ratzinger?«, titelte im Sturmgebraus die Online-Ausgabe der Frankfurter Rundschau, »Papst soll zu Odenwald Stellung beziehen«. Odenwald? Eine als Projekt der Reformpädagogik getarnte Klosterschule? Vielleicht will man das nicht hören, aber wer dann in einer der größten Medienkampagnen in der Geschichte der Bundesrepublik den Fokus auf 0,1 Prozent der Täter legt und die anderen 99,9 Prozent (und ihre Opfer) außen vor lässt, macht ein riesiges gesellschaftliches Problem ziemlich klein, um es besser instru-mentalisieren zu können.

Päpste fallen nicht vom Himmel. Wer ist dieser Mensch aus dem Oberbayerischen, dieser »Weltfremde«, der sich partout weigert, sich einer Welt anzupassen, die vor lauter Trash, Finanz- und Öko-Desaster gar nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht? Als Professor erklärte er das Evangelium in einer Frische, als stünde Jesus selbst im Hörsaal. Als Präfekt gab er das Gefühl, die Moderne ganz ausleuchten zu können, sie zu packen mit der Wahrheit des Christentums.

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Früh ahnte er, dass die Gemeinde klein werden würde, klein an Mutigen, klein an Glauben. Der alte Mann und das Meer: »Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche«, ruft er aus, »und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören sollten?« Es ist der Karfreitag des Jahres 2005. Kurz danach ist Ratzinger, wovor er sich gefürchtet hatte: der Pontifex der universellen Kirche mit 1,2 Milliarden Anhängern. Seine erste Amtshandlung ist ein Brief an die jüdische Gemeinde in Rom. Er verkündet im Rahmen der Ökumene das Ziel der vollen Einheit mit der Orthodoxie. Er erweitert durch Wiederzulassung der tridentinischen Messe den liturgischen Raum, ohne hinter die Reform des Konzils zurückzufallen.

Vor allem lehrt er. Unermüdlich und geduldig. Ob auf Weltjugendtagen oder mit seinem Jesus-Buch, das die Christologie auf eine neue Stufe hebt und zeigt, wie Glaube neu zu entdecken wäre: nicht als System von Theorien, sondern als Einladung zur persönlichen Gottesbeziehung. Benedikt XVI. will einen Prozess auf den Weg bringen, der sich eher im Stillen abspielt, die innere Erneuerung. Schnell lässt er einen Stil der Kollegialität, des Dialogs und der Demut erkennen. Und ihm gelingt, was nach einem Giganten wie Wojtyla niemand für möglich hielt: ein bruchloser Übergang der Pontifikate.

Vier Jahre lang geht alles gut. Er könnte Mitglied bei den »Grünen« sein mit seiner Haltung gegen Krieg und Unrecht. Er würde gut zur Linken passen, wie er den Turbo-Kapitalismus geißelt, die immer größer werdende Schere zwischen Arm und Reich. Er entwickelt das Wort vom ökologischen Humanismus, eine Wende des Denkens und des Lebensstils, um der Selbstzerstörung des Menschen durch die Plünderung des Planeten Einhalt zu gebieten. Aber zu diesem Zeitpunkt sind die Regler in den Heimatmedien schon ganz nach unten gedreht: Nur bad news sind good news. Selbst kirchliche Dienste blenden sich aus. Gelegentlich fragt man sich, ob der frühere »Großinquisitor« nicht möglicherweise schon gestorben ist.

(Auf der nächsten Seite lesen Sie, wie Peter Seewald den Papst in persönlichen Begegnungen erlebt hat und was einen guten Papst eigentlich ausmacht.)

Die Williamson-Affäre ist der Bruch. Nirgendwo jedoch erscheint das päpstliche Dekret zur Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen der schismatischen Pius-Bruderschaft im Original. Das ist ja auch die Krux. Der Text nämlich gibt die schiefen Schlagzeilen gar nicht her. Der Papst habe entschieden, heißt es darin, die Situation der Bischöfe »neu zu bedenken«. Sie bleiben kirchenrechtlich weiterhin suspendiert. Es ist ihnen untersagt, ihr Amt auszuüben. Der Schritt bedeutet nicht Versöhnung oder gar eine Rehabilitation. Dass unter den vier Pius-Brüdern einer ist, der in einem bis dahin unveröffentlichten Interview den Holocaust leugnet, war, so simpel ist das, im Vatikan nicht vorstellbar.

Matthäus schrieb: »Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen?« (Mt 9,11). Jesu Antwort kennen wir: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken.« Als ich die Gelegenheit hatte, mit dem damaligen Kardinal einige Interviews zu führen, war ich nahezu erschrocken darüber, wie er eine Frage wirklich auch in ihrer Komplexität auszuleuchten versucht. Von ihm konnte man ein paar Dinge lernen, die sehr einfach klingen, aber so schwer sind, dass man sie leicht vergisst.

Nicht übel nachreden zum Beispiel. Manchmal schaute er einen ein wenig schräg an. So über die Brille. Ernst, aufmerksam, manchmal skeptisch. Die unmittelbare persönliche Kontaktaufnahme war etwas, was er nicht so gut konnte. Umgekehrt war da nicht die geringste Spur von Eitelkeit oder gar einer selbstgerechten Hybris. Mir imponierten seine Souveränität, die unzeitgemäßen Gedanken gegenüber einem Westen, der immer weniger zu hoffen und nichts mehr zu glauben wagt. An der Kirche kritisierte er ihre institutionelle Macht, an der sie zu »ersticken« drohe, am Zeitgeist die Tendenz zu einer subtilen antichristlichen Meinungsdiktatur. Wann ist ein Papst erfolgreich? Wenn er die Mitgliederzahlen verdoppelt? Wenn er gute Umfragewerte erzielt? Es geht um vieles. Vielleicht um alles.

Die Verwundbarkeit dieser Gesellschaft ist unermesslich groß geworden. Wäre es in einer Zeit, die keine höheren Werte mehr anerkennt, die sich der Fälschung und oft genug sogar der puren Lüge, dem Betrug als gesellschaftsfähiger Verhaltensform verschrieben hat, in der so häufig die Blinden die Blinden führen, nicht eigentlich schon sehr großartig, jemanden zu haben, dessen Haltung unbestechlich und dessen Stimme ein verlässlicher Wegweiser ist?

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Im Jahr 1993 brockte das SZ-Magazin Peter Seewald, 55, die Begegnung mit dem "Panzerkardinal" Joseph Ratzinger ein. Der Autor fand damals: "Niemand kritisierte die Gesellschaft so radikal, und niemand so zutreffend." Typisch finde er denn auch Ratzingers Antrittsrede als Papst: "Betet für mich, dass ich nicht mit den Wölfen heule." Aus der Begegnung entstanden die Dialog-Bücher Salz der Erde und Gott und die Welt. Zuletzt erschien von Seewald Jesus Christus. Eine Biografie.

Foto: Contrasto / Laif