Minuten vor der Messe, wenn nur die Mesnerin es sehen kann, wandelt er sich. Manche Priester ziehen Messgewänder an wie einen Panzer, Lage um Lage, jede beladen mit Bedeutung: Schultertuch, Schatten Gottes. Zingulum, Strick der Stärke. Stola, das Joch Jesu. Sie rüsten sich für den Gottesdienst wie Soldaten für die Schlacht. Er zählt zu den anderen. Er kleidet sich an, aber es ist, als lege er ab. Am Ende tritt er federnd an die Tür der Sakristei und streckt die Arme aus, als stehe er auf einem Sprungturm. So fällt der Stoff schön. Gleich ist es so weit. Dann ist egal, woher er kommt. Dann ist nur noch wichtig, wozu er hier ist.
Als er in Uganda aufbrach, hatte Francis Ssengendo seine Erwartungen an Deutschland gezügelt. Er wolle die Heimat des Papstes mit offenem Herzen erleben, sagte er. Nun ist er drei Tage da, ein ugandischer Pfarrer in Unterfranken. Sein Deutsch zerschellt am Dialekt der Menschen. Sein Magen ringt mit Sauerbraten, sein Kopf mit Namen: Haßberge der Landkreis, Rauhenebrach die Gemeinde. Sie haben ihn in den Steigerwald geschickt, wo sich die wenigen Dörfer in weitläufigen Buchenwäldern verlieren. In wenigen Tagen werden drei Pfarreien, 15 Kirchen und fast 3000 Christen seiner Seelsorge anvertraut sein, einen Sommer lang.
Auch Pfarrer haben Anrecht auf Urlaub. Zu ihrer Vertretung holt die katholische Kirche jedes Jahr Hunderte Priester aus dem Ausland, vor allem aus Asien und Afrika. Einige studieren in Rom, die meisten arbeiten schon als Seelsorger. Manche kommen seit Jahren, manche das erste Mal, wie Francis Ssengendo in die Diözese Würzburg. Wie er-lebt ein afrikanischer Priester deutsche Kirche?
Kurz nach der Frühmesse, Ssengendo sieht den Pfarrer, den er vertreten wird, aus der Kirche kommen, den Arm voll angebrochener Weinflaschen. In Afrika wäre das ein seltsamer Anblick, ein Priester, der flaschenweise Messwein aus der Sakristei schafft. Ssengendo fragt nach dem Grund. Der deutsche Pfarrer Kurt Wolf erklärt, er sei inzwischen so selten in den einzelnen Kirchen der Gemeinde, dass der Messwein sauer wird. Erst glaubt Ssengendo, er verstehe falsch. Aber es ist wahr. Der Messwein versauert.
Er ist ein hagerer Mensch. Schmale Brille, kahl geschorener Kopf. Immer trägt er Pries-terkragen. Trotzdem wirkt er auf flüchtigen Blick wie ein Jüngling. In der Gemeinde lautet das erste Urteil: keine 25 und sicher frisch aus dem Seminar. Ssengendo ist 39. Er leitet in Uganda das Knabenseminar von Kisubi, ein Internat für Jugendliche, die den Gedanken hegen, Priester zu werden. Es erstaunt ihn, dass es dieses Modell in Deutschland kaum mehr gibt.
Die ersten Gottesdienste feiert er noch an der Seite Kurt Wolfs. Er spricht nur wenige Worte: wie er heißt, woher er kommt. Dann sein Wunsch. »Ich hoffe, viele neue Freunde zu machen. Aber Sie müssen sprechen langsam. Ja okay. Danke schön.« Einmal wartet vor der Kirche eine Handvoll alter Frauen, sie loben ihn für sein Deutsch. »Welche Sprache in Uganda?«, fragen sie. Seine Muttersprache ist Luganda, aber er spricht auch Lusoga, Lutooro, Lunyoro, Lunyakole. Latein noch. Griechisch liest er nur. Er antwortet: »Englisch. In Uganda wir sprechen Englisch.« Die Frauen sagen, er rede besser Deutsch als der Pole, der früher Aushilfe war.
Nur noch eine Messe im Monat
Die Sprache war seine Angst. Er lernt erst seit zwei Jahren Deutsch. Er fürchtete, bei der Lesung Fehler zu machen: die altertümliche Sprache der Bibel und ihre sperrigen Worte. Schnell stellt er fest, dass die moderne Sprache der Kirche in Deutschland schwieriger ist.
Pfarreiengemeinschaft: So nennt sich das Konstrukt seiner deutschen Gemeinde, 15 Kirchen in 15 Dörfern, aufgeteilt auf drei Pfarreien, die einst eigenständig waren und dann zusammengelegt wurden, weil die Priester fehlten.
Kirchenverwaltungswahl: der Termin im November, der Pfarrer Kurt Wolf so beschäftigt, weil er fürchtet, dass sich zu wenige zur Wahl stellen für dieses Ehrenamt, das über die Finanzen einer Pfarrei bestimmt.
Glaubensverlust und Priestermangel und Missbrauchsskandale: So heißen die Ängste, die die katholische Kirche in Deutschland hat. Die beiden Priester sprechen viel miteinander in diesen ersten Tagen, immer abends, nur dann hat Kurt Wolf Luft. Seit diesem Sommer ist die Stelle des Kaplans in der Pfarreiengemeinschaft gestrichen, der als angehender, aber schon geweihter Priester auch Sakramente spenden durfte. Jetzt ist Kurt Wolf der Einzige, der die Beichte hören, die Kranken salben oder die Messe lesen kann. Die Gemeinde muss deswegen die Gottesdienste neu takten, Zielvorgabe: Zahl der Gottesdienste um 50 Prozent kürzen. In den meisten Kirchen wird es nur noch eine Messe im Monat geben.
In seinem Tagebuch hält Ssengendo die Situation in der Kürze eines Gedichts fest.
»Deutschland: Wenig Leute in Kirchen, Geld.
Uganda: Mehr Menschen, arm.«
Dann ist er allein. Sein erster Gottesdienst führt ihn nach Obersteinbach, er findet dafür eine kleine braune Ampulle vor. Messwein, portioniert.
Vor den Menschen verbirgt er seine Verblüffung über das Leben hier. Im Pfarrhaus hat er eine eigene Dusche, einen eigenen Kühlschrank. Der Luxus daran sind die Voraussetzungen dafür: fließend Wasser und Strom rund um die Uhr. Ssengendo war als Priester auch schon in die USA eingeladen, da ging es ihm genauso: Die selbstverständliche Allgegenwart von Strom und Wasser bestürzte ihn mehr als die Fülle überall.
Erlebt er einen Kulturschock? Er hasst diesen Begriff. Es ist das erste Mal, dass er aus sich fährt, was solle das heißen, sagt er, Kulturschock? »Kulturschock ist ein falsches Wort«, sagt er. Es macht die Menschen klein, vor allem die auf der anderen Seite des Vergleichs, Kultur, Afrika, Schock, wie klingt das? »Ich will, dass wir von Wirtschaftsschock sprechen«, sagt er. Er ist ins Englische gewechselt, er will seine Gedanken nicht von Sprache bremsen lassen. »Darum geht es, um Unterschiede in der Entwicklung: Jeder hat ein Auto hier und einen Telefonanschluss im Haus und Trinkwasser und Elektrizität die ganze Woche lang – das haben wir nicht.« In Kisubi pumpen sie ihr Wasser aus dem Viktoriasee, abends läuft ein Generator, und damit geht es dem Seminar gut. »Aber das ist nicht Kultur«, sagt er. »Kultur ist das Leben der Menschen.«
Dinge, die ihm auffallen: die Hast der Menschen, dass in den Gräbern mehrere liegen, dass keiner die Linie seiner Ahnen weiter als zu den Großeltern seiner Großeltern kennt.
Eine Taufe. Als sie ihm das Kind an die Kirchentür bringen, ist Francis Ssengendo aufgeregt. Er hat versucht, alles auswendig zu lernen, aber jetzt muss er ablesen: »Was erbittet ihr von der Kirche Gottes?« – »Die Taufe.« Er war von den Eltern im Taufgespräch beeindruckt, sie bewegten sich so sicher durch die Liturgie: Lieder, Taufspruch, Fürbitten, alles schon ausgewählt. Danach rechnete er damit, die Eltern in den Gottesdiensten zu sehen. Sie kamen nie. Das gab ihm zu denken: Gehen nicht in die Kirche, glauben an die Taufe.
Nun tauft er ihren Sohn Nils, danach steht er lächelnd zwischen der Mutter im Dirndl und dem Vater in Lederhose und sagt ihnen, wie besonders das war. In Uganda tauft er 50 auf einen Streich.
Eine Kirche, verschiedene Kulturen.
Eine Kirche, verschiedene Kulturen. Er hat sich diese Erfahrung erhofft, die Liturgie im Licht einer anderen Welt. Der Gottesdienst ist gleich, aber hier gibt es Glocken noch in der kleinsten Kirche. Niemand tanzt. Alle knien. Und Orgeln überall. Er feiert Messe in Kirchen, die älter sind als der katholische Glaube in Uganda, aber kaum ein junger Mensch darin. Einmal nimmt ihn ein altes Ehepaar nach Würzburg mit, sie führen ihn von Gotteshaus zu Gotteshaus, Stift Haug, Neumünster, Marienkapelle, ein Sturmlauf durch die Pracht und die Macht, die die katholische Kirche besaß. Am Ende stehen sie am Käppele, der Wallfahrtskirche hoch über Würzburg, unten liegt die Stadt in der Sonne, ein Schattenriss aus Kirchturmspitzen. »Der Glaube steckt in Gebäuden«, sagt er.
Francis Ssengendo stammt aus einer armen Familie. Sie waren 13 Geschwister, er ist der jüngste. Sein Vater starb, als er klein war. Sie hatten ein wenig Land, so konnte die Mutter allein für die Familie sorgen. Vier seiner ältesten Geschwister starben an Aids, bald darauf ihre Partner. Seine Mutter nahm auch deren Kinder auf. Die Stärke dafür habe sie aus ihrem Glauben gezogen, sagt Ssengendo. Sonntags war Gottesdienst Pflicht, werktags beteten sie die Psalmen. Mit 14 trat er ins Seminar ein. Die Schulgebühren musste er selbst verdienen, als Wasserträger. Als er es einmal nicht schaffte, warfen sie ihn raus. Er lieh sich das Geld von Nachbarn, alle arm wie er selbst, eine Scham, die ihn lang begleitete. Mit 30 wurde er Priester.
Seine Herkunft hat ihn geprägt. Er ist hart, vor allem zu sich selbst. In Uganda beginnen seine Tage früh um fünf, vor Mitternacht ist er nie im Bett. Er arbeitet nebenbei als Lehrer für Mathematik an einem privaten College, mit dem Geld zahlt er Waisen aus seinem Dorf die Schule. Seine Ansichten über Armut sorgen manchmal für Streit mit anderen Priestern. Wie kann man von der Rettung der Seele sprechen und über den Rest schweigen? »Wenn du an Hunger stirbst«, sagt er, »ist es schwer, an Gebete zu glauben.«
Kirchweih. Vor dem Feuerwehrhaus von Obersteinbach steht festlich geschmückt der neue Kirchweihbaum, der Gottesdienst war voll. Ssengendo scherzt mit den Menschen, er lässt sich fotografieren, er lacht, als ein kleines Kind seine Haut abreiben will. Dann bitten sie ihn zum Essen. Sie führen ihn am Spalier der Torten vorbei, lassen ihn Hutkrapfen kosten, dann gibt es große Portionen Sauerbraten mit Blaukraut und Knödel, acht Euro der Teller. Er muss nichts zahlen, er ist der Pfarrer. Aber den Preis hat er gesehen. Er setzt sich zwischen die Feiernden auf eine Bierbank und isst still. Er erklärt es erst, als niemand zuhören kann. Acht Euro sind mehr als 25 000 ugandische Schilling, von so viel Geld könnte er einem Waisenkind daheim drei Monate die Schule zahlen. Später wird klar, dass er jeden Preis umrechnet, dem er begegnet. Die Fahrkarte vom Flughafen. Ware in Schaufenstern. Kosten einer SMS. Und jedes einzelne Essen, zu dem ihn jemand aus der Gemeinde einlädt. Er kann nicht anders.
Er erzählt nur wenigen von seinen Skrupeln. Nach einer Messe sagt jemand, er habe sich jetzt mal die Slums in Uganda auf Google Earth angesehen. Ssengendo lächelt. Am Abend liegt er lange wach. Was hätte er sagen sollen? Dass er nicht glaubt, dass man Armut googeln kann?
Dann lädt ihn die Lobpreisgruppe ein, ein loser Kreis, der sich im Turm der Kirche neben dem Pfarrhaus trifft, um zu singen. Hier, wo nur eine Handvoll Menschen Zeugen sind, fängt er an zu erzählen. Hier bekommt er das erste Mal Geld.
Jeder Priester, den die Hauptabteilung Pastorales Personal der Diözese Würzburg als Ferienvertretung einlädt, bekommt dafür 500 Euro Stipendium. Dazu kommen 100 Euro Zuschuss zu Reisekosten. Unterkunft und Verpflegung sind frei. Die Höhe des Stipendiums ist in den deutschen Diözesen ähnlich, eine Absprache: Geld soll nicht der Grund sein, sich bei einem bestimmten Bistum zu bewerben.
Es ist kein Geheimnis, dass Geld ein wesentlicher Grund für ausländische Priester ist, in Deutschland Pfarrer zu vertreten. Viele hoffen auf Spenden für ihre Heimat. In Würzburg kam früher die Masse der Bewerbungen aus Polen; als das Land der Europäischen Union beitrat, war damit Schluss. Auf Nachfragen erfuhr das Personalreferat, es lohne sich nicht mehr. Inzwischen stellen Priester aus Indien und Afrika das Gros der Bewerbungen. Wer wie Francis Ssengendo das erste Mal aushilft, bekommt danach eine Bewertung, in der unter anderem eine Rolle spielt, ob es zu exzessiver Sammeltätigkeit gekommen ist.
Mal geht es zum Schnitzeltag nach Prölsdorf
Der Flug von Francis Ssengendo hat 860 Euro gekostet, er weiß die Zahl so exakt, da er sich das Geld dafür leihen musste. 860 Euro Flugkosten gegen 600 Euro Stipendium, für einen Mathelehrer ein Minus. Als Priester dachte Ssengendo an die Bergpredigt und sah sich schon vor Abflug im Plus. »Gebt, dann wird euch gegeben werden«, sagt er.
Anfangs wissen nur wenige, dass Ssengendo Schulden machte, um als Pfarrer aushelfen zu können. Die Geschichte sickert durch die Gemeinde. Die Lobpreisgruppe legt nach einem Gottesdienst zusammen, 552 Euro. Nach der Kirchweih sammelt eine Frau in Obersteinbach, 300 Euro. Ssengendo notiert jede Gabe sorgfältig.
Er bekommt Kinderkleider gespendet. Er prüft die Gewichtsbestimmungen seiner Fluglinie. Seine Gewissensbisse, weil er keinesfalls alle Kleiderspenden für Afrika in den Koffer bekommen kann, schwächen sich ab, als die Wintersachen aussortiert sind.
Einladungen zum Essen häufen sich. Ssengendo ist im Pfarrhaus versorgt, aber nun nimmt sich auch der Kaffeeklatsch seiner an, der Stammtisch der Frauen: Mal machen sie Frühstück, mal geht es zum Schnitzeltag nach Prölsdorf, da gibt es freitags Spezialitäten wie Schnitzel Hawaii oder Schnitzel Bolognese zum Einheitspreis.
Manche Menschen kümmern sich auch einfach so. Eine Frau bringt ein Tablett mit Tortenstücken vorbei. Eine andere einen Marmorkuchen. Ein Dritter Tüten voller Zwetschgen. Wurst. Obst. Bier aus der Brauerei. Alle meinen es gut. Das macht es noch schlimmer. Er kann das nicht aufessen. Er kann es auch nicht wegwerfen. Jeder Pfirsich, der schimmelt, schmerzt ihn.
In Uganda hat er die Gewohnheit, ohne Ziel durch die Straßen zu streifen, wenn ihm alles zu viel wird. Er sagt, er sehe dann Sorgen genug, dass seine verblassen. Im Steigerwald geht er durch die Dörfer und rechnet den Reichtum um. Jede Familie ein Haus. Selbst Feldwege geteert. Er weiß genau, dass es auch hier Sorgen gibt, sehr große sogar, er erfährt sie, wenn er die Kranken salbt, wenn er sich allein in die Kirche stiehlt und auf einmal einem Menschen gegenübersteht, der vor Verzweiflung weint.
Aber er kann sich nicht dagegen wehren, hinter allem wie einen Schatten die Situation in Uganda zu sehen. Einmal riefen sie ihn auf einem Dorffest panisch herbei, eine alte Frau war zusammengebrochen, Sanitäter und Notärzte und zwei Krankenwagen, Gott sei Dank wurde dann doch kein Priester gebraucht. Später quälte ihn, was er angesichts der arbeitenden Ärzte gedacht hatte. So eine alte Frau. So ein kleines Dorf. Zwei Krankenwagen.
Er hat nicht lang gebraucht, bis er die Namen der Dörfer beherrschte, die Fabrikschleichach heißen oder Wustviel. Einmal am Tag feiert er Gottesdienst, immer in einer anderen Kirche, abends meist. Manchmal sind da nur zehn Menschen. Manchmal sitzen in jeder Bankreihe ein paar. Was ist los mit dem Glauben?
Er hat über die Eltern von Nils nachgedacht: nie in der Kirche, aber die Taufe. Als er zum Taufgespräch bei ihnen war, sah er einen Rosenkranz an der Wiege hängen. Er zog den Schluss: Vielleicht werde der Glaube nicht gelebt – aber da ist er. »Ich denke, das ist kein Verlust an Glauben. Das ist Schweigen. Die Menschen sind im Glauben verstummt.«
Ein Satz nach einem Gottesdienst, der ihm in Erinnerung blieb: »Früher sind unsere Missionare nach Afrika gegangen, heute holen wir Priester aus Afrika.«
Er hat zugenommen. Er hat einmal versucht, seine Qual mit dem Essen zu erklären, als er einen Gratulationsbesuch absolvierte, Goldene Hochzeit. Sein Deutsch stockte. Die Hausherrin sagte, er solle sich keine Sorgen machen, in einem Sommer sei noch niemand dick geworden.
Er macht sich Sorgen. Er hat das Gefühl, ein Missverhältnis zu erleben. Es ist so wichtig geworden, woher er kommt. Ist nicht wichtiger, wozu er hier ist? Er will den Menschen ein guter Pfarrer sein. Er will kein Sinnbild sein, nicht für Afrika, nicht für Armut.
Er nimmt sich zusammen. Sein Leben war immer von Selbstbeherrschung bestimmt.
Ein 80. Geburtstag, Bürgermeister und Pfarrer kommen, um zu gratulieren. Es gibt Cremerolle und Käsekuchen, auf dem Tisch steht ein Tablett mit Wurst- und Käsebroten, in denen Salzstangen stecken. Er versucht sich zu drücken, vergebens. Den Nachschlag wehrt er ab, und weil er die Tochter des Geburtstagskindes von ihrem amerikanischen Ehemann sprechen hörte, ergreift er die Chance, auf Englisch zu erklären. Es bricht aus ihm heraus. »Wenn ich an die Menschen denke, die hungern – ich verliere meinen Appetit«, sagt er. »Ich fühle mich selbstsüchtig«, sagt er. »Ich schäme mich«, sagt er.
Er blickt in verdutzte Gesichter. Dann klingeln die Nachbarn, Glückwunsch und Geburtstagsständchen, der Moment ist fast verflogen, als sie sich zurück zu ihm wenden. Aber da befiehlt die Beherrschung wieder über ihn.
Neudorf, wenige Tage vor seiner Abreise. Er tritt aus der Sakristei, zwei Schritte nur zum Altar. Eigentlich hat er zum Abschied eine kleine Rede vorbereitet, die er in den letzten Gottesdiensten verliest: »Vielen Dank, Gottes Segen, hoffentlich bis nächstes Jahr.« Aber hier, in dieser intim kleinen Kirche, ist es anders. Er steht nur da und sagt lange nichts. In den Bänken sitzen elf Menschen und wissen nicht, warum ihm die Worte fehlen. »Ich habe«, sagt er schließlich, »viel gelernt. Dies ist ein gutes Land.«
Fotos: Robert Brembeck