Ein Tourist, der einfach nur auf den Straßen New Yorks unterwegs ist und hinaufstaunt zu den Spitzen der Wolkenkratzer, sieht die Schnur nicht mal, so dünn und und unauffällig hängt sie da. Passanten, die auf dem Weg zur Arbeit an einer Ampel warten, sehen sie möglicherweise, aber sie denken sich nichts weiter dabei. Ein Stromkabel vielleicht, oder irgendwas mit Telefon. Aber nein, da hängt eine Schnur. Und diese dünne weiße Schnur hat für viele Menschen in Manhattan eine tiefe Bedeutung: Sie erlaubt es gläubigen Juden, am Sabbat Dinge auf der Straße zu tragen.
Orthodoxe Juden arbeiten am Sabbat nicht, sie beten, sie singen, sie feiern den Tag des Herrn. Arbeiten: verboten. Es gibt genau 39 Arbeitsverbote, dazu zählt neben dem Betreiben von Maschinen, allen möglichen landwirtschaftlichen Tätigkeiten und der Verwendung von Elektrizität auch das Tragen von Dingen außerhalb der eigenen vier Wände. Wer zu Hause ist, darf einen Topf von der Küche zum Esstisch tragen oder ein Buch ins Schlafzimmer bringen. Aber mit einem Gegenstand in der Hand die Wohnung zu verlassen und auf die Straße zu gehen: Das ist ein Verstoß gegen die Sabbat-Regeln.
Vor langer Zeit kamen die Juden drauf, dass man einen Wohnbereich vielleicht ein wenig flexibler definieren könnte. Die Menschen lebten in immer größeren Gruppen, die Städte wuchsen. Also wurde festgelegt: Eine Siedlung, die von einer geschlossenen Mauer umgeben ist, kann als gemeinschaftlicher Wohnbereich gelten. Später wurde aus der geschlossenen Mauer eine symbolische Grenze: eine Schnur, die – ganz wichtig: lückenlos – ein Gebiet umschließt. Innerhalb der Schnur Dinge zu tragen ist in Ordnung.
Die Schnur heißt Eruv, es gibt diese Einrichtung auch in anderen Städten mit großer jüdischer Bevölkerung. Aber kein Eruv ist so groß wie der von Manhattan. Dass der Eruv am Sabbat auch wirklich lückenlos ist, dafür sorgt seit 19 Jahren der Rabbi Moshe Tauber. Die Schnur umfasst ein Gebiet von ungefähr 40 Quadratkilometern, jeden Donnerstag fährt Tauber die gesamte Strecke ab. Er notiert alle Stellen, an denen die Schnur gerissen ist. Am Tag darauf kommt er wieder mit zwei Handwerkern, die die gerissenen Stücke ersetzen, neu verbinden, alles instandsetzen. Wenn am Freitag die Sonne untergeht, beginnt der Sabbat. Und wenn Rabbi Tauber und seine Männer ihren Job gemacht haben, dann ist für die nächsten 24 Stunden alles gut.
Das SZ-Magazin hat Rabbi Tauber auf seiner Tour begleitet. Außerdem in der Reportage: Wie der größte Rabbi New Yorks viele Jahre lang einen Eruv verhinderte. Warum echter Glaube manchmal ein paar zugedrückte Augen braucht. Weshalb Orte wie der Times Square oder das UNO-Hauptquartier nicht im Eruv-Gebiet liegen dürfen. Und wieso ausgerechnet der Rabbi selbst am Sabbat trotzdem nie Manhattan betreten würde.
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Foto: Noah Rabinowitz