Die Aufgabe: 2 x+1 + 5 x 2 x-1 = 36. Anne* steht an der Tafel und weiß nicht weiter. Welche Zahl ersetzt x, sodass die Exponentialgleichung aufgeht? Annes Schultern sinken herab, die Kreide in der Hand setzt sie nur pro forma an die Tafel an.
Der Mathematiklehrer der 10 b an einem Münchner Gymnasium hält sich nicht lang mit Anne auf. »Wie haben wir das gestern gemacht?«, fragt er in die Klasse, während er im typischen Lehrergang durch die Reihen federt, allzeit bereit, sich blitzschnell in Richtung seines erhobenen Zeigefingers zu drehen. Kein Schüler kennt die Antwort. »x ist gleich drei«, sagt Lehrer R. in einem Ton, der meint: Ist doch kinderleicht. Der Lehrer für Mathematik und Physik schreibt in dieser Stunde noch drei Exponentialgleichungen an die Tafel, den Lösungsweg gleich dazu. Am Ende gibt er die Hausaufgaben bekannt und den Schnitt der Physik-Ex: 4,6. Manche Schüler werden die Hausaufgaben bewältigen, die meisten nicht – und die nächste Stunde werden sie bei Herrn R. verbringen, wie sie die vorhergehenden verbracht haben: ohne irgendetwas zu begreifen.
Es gibt viele schlechte Noten in der 10 b des Luisengymnasiums, besonders in Mathe und Physik. Ein Drittel der Klasse wiederholt die Jahrgangsstufe, und nur sechs Schüler gelten als nicht gefährdet.
Mathematik: das Hauptfach. Politiker verweisen auf die jüngsten Ergebnisse des PISA-Tests. Zehn Jahre nach dem Schock hätten die Matheleistungen deutscher Schüler letztes Jahr deutlich über dem OECD-Mittelwert gelegen. Dieses positive Ergebnis ist jedoch kein Grund zur Erleichterung. Anhand der Fragebögen der Pariser Bildungsforscher wird geprüft, ob ein Schüler in der Lage ist, einen Fahrplan zu lesen oder den richtigen Button auf einer Internetseite anzuklicken. Bei PISA geht es nicht um Mathekompetenz, sondern um Lebenskompetenz.
Über die Fähigkeit deutscher Schüler, Exponentialgleichungen zu lösen oder mit Brüchen richtig umzugehen, sagt die Studie nichts aus – wohl aber die Untersuchung Rechnen in Deutschland, die fast zeitgleich mit den neuesten PISA-Ergebnissen veröffentlicht wurde. Sozialforscher von Forsa ermittelten, dass ein Fünftel aller Schüler im »letzten Zeugnis in Mathe mit einer Vier oder schlechter benotet wurde«.
Mathematik, das Angstfach. Matheklausuren oder -schulaufgaben gleichen Wundertüten: Hat der Schüler Glück, dann ist unter den Aufgaben viel Pflicht und wenig Kür. Dann gibt es eine Chance, dann kann man das Gelernte anwenden, die Formel hinschreiben und die bekannten Größen einsetzen, das bringt schon mal Punkte. Überwiegt die Kür, ist also abstraktes Transferwissen gefragt, ist bei den meisten Schülern die schlechte Note programmiert.
Wer Mathe nicht versteht, hat in der Schule schlechte Karten. In Deutsch oder Englisch gibt es Referate und andere mündliche Beiträge, mit denen man die Note retten kann. In Mathe nicht. Und: In keinem Fach können Lehrer die Schüler besser auflaufen lassen als in Mathematik, wie das diesjährige Abitur in Bayern beweist, das die letzten Schüler, die noch neun Jahre das Gymnasium besuchten, gerade geschrieben haben.
Auf Austauschplattformen zum Thema Schule und Studium beschreiben geschockte Abiturienten ihr Versagen. Manche haben gleich ein leeres Blatt abgegeben, andere nur die Hälfte geschafft. Ein Prüfling berichtet von einer Abiturprüfung mit Aufgabenstellungen, die man davor noch nie behandelt hatte. Rainer Richter, der Mathe- und Physiklehrer, weiß, warum die Schüler so versagt haben: »Denen hätte man früher sagen müssen: Ihr seid dem nicht gewachsen. Man kann denen nur raten: Macht mal den Quali, dann könnt ihr in den M-Zweig der Hauptschule gehen und versuchen, die mittlere Reife zu machen.« Übersetzt heißt das: Gymnasiasten sollen mit dem qualifizierten Hauptschulabschluss das Gymnasium verlassen und, statt auf die Realschule zu wechseln, die bayerische Variante wählen und auf der Hauptschule die Prüfung zur mittleren Reife ablegen.
Bettina Hannover, Professorin für Psychologie und Erziehungswissenschaft an der FU Berlin, weiß aus Untersuchungen, dass Mathelehrer denken, Mathematik sei ein Fach, »in dem es nur richtig oder falsch gibt«. Aus richtig und falsch wird im Sinne der Schüler gut und schlecht. Schüler leiden unter der mangelnden persönlichen Wertschätzung ihres Mathelehrers. Und entwickeln eine große Abneigung gegen das Fach. Oder eben Angst. Was noch nicht untersucht wurde: Sind Lehrer, die andere Fächer unterrichten, besser? Oder woran liegt es, dass kaum einer Deutsch oder Englisch als Angstfach bezeichnet?
Es gab ja Jahrzehnte, vielleicht von den Siebzigerjahren bis zur Jahrtausendwende, da galten Schüler, die gut in Mathe waren, als Spießer und Streber. Wer dennoch Einser schrieb oder gar Spaß an Mathe hatte, musste sich heftig anstrengen, um auf anderem Gebiet Lässigkeit auszustellen. Heute haben alle begriffen: Mathe zu verstehen ist cool, kann einen weit tragen und nicht zu vergessen: Es mindert die Schulangst unendlich.
Die 16-jährige Sophia zittert vor jeder Mathestunde. Die Zehntklässlerin eines Münchner Gymnasiums hat Angst davor, an die Tafel zu müssen. Auch ihr Mathelehrer sagt Sätze wie: »Entweder man kann es gleich, oder man lässt es.« In anderen Hauptfächern hat Sophia keine Probleme, nur in Mathe kommt sie nicht mit. Schon ihr älterer Bruder hat unter dem gleichen Mathelehrer gelitten, Mathe und der Lehrer sind in Sophias Familie ein Dauerthema, eine Belastung. Die Eltern zerbrechen sich den Kopf darüber, wie man den Mathelehrer dazu bringt, mehr Übungsblätter zu verteilen und zu korrigieren und im Unterricht gezielt auf die Verständnisprobleme der schwächeren Schüler einzugehen. Immer wieder appellieren Sophias und andere Eltern aus der Klasse an den Lehrer, seine pädagogischen Pflichten endlich wahrzunehmen – bisher ohne Erfolg. Was sollen die Eltern machen gegen diese Lehrer, die ihr Fach und nicht die Schüler unterrichten? »Es gibt keine Instanz, an die man sich wenden könnte«, beklagt der Vater einer Mitschülerin Sophias.
So versuchen sich die Eltern selbst in der Arbeit am Lehrer. Doch in allen Sprechstunden lässt er ihre Worte an sich abperlen, sagt, dass »er es nicht sehr schätzt, wenn Eltern kommen und sich bei ihm beschweren«. Klassenelternsprecher sammeln E-Mails anderer ratloser Eltern mit den Kommentaren der Mathematikpädagogen: »Er werde schon dafür sorgen«, zitiert ein Gymnasiast seinen Lehrer, dass »hier einige auf die Realschule wechseln werden.«
Sophias Vater versucht nach dem Abendessen und am Wochenende, die Versäumnisse des Mathelehrers auszugleichen. Mit seiner Nachhilfe schafft sie es gerade auf eine Vier. Andere zahlen. In Deutschland geben Eltern 1,5 Milliarden Euro für Nachhilfe aus. Spitzenreiter bei den Buchungen ist, laut des Verbandes der Nachhilfeinstitute, das Fach Mathematik.
Sollte Sophia in Mathe nicht besser werden, wird es ihr so gehen wie vielen diesjährigen Abiturienten: Die Mathenote wird ihren Abi-Schnitt verschlechtern, die Eins vor dem Komma ist passé und damit die Chance auf einen der Studienplätze in Germanistik oder Geschichte, die wegen des großen Ansturms zulassungsbeschränkt sind.
Aber es gibt freie Studienplätze für Schülerinnen wie Sophia. Mathematik-Lehramt, zum Beispiel, kann jeder Abiturient, egal mit welcher Endnote, studieren. Gute Mathe-Abiturienten gibt es zu wenige. Deswegen muss Kristina Reiss auch die schlechten mit offenen Armen empfangen. Die Fachdidaktikerin für Mathematik an der TU München will ihre Studenten zu einem neuen Typus Mathelehrer erziehen. Die neue Generation soll die Fehler der Kinder ergründen können, der neue Lehrer kann Schüler für das trockene Fach interessieren, indem er geschichtliche Zusammenhänge erläutert, etwa wie Lehrsätze und Formeln entstanden sind. Außerdem: Richtiges Rechnen, so die Erkenntnis der Fachdidaktiker, klappt bei Schülern viel besser, wenn der Lehrer vermittelt, warum all die Rechenoperationen wichtig sind.
*Namen aller Schüler geändert.
Wer Mathematik nicht versteht, ist nicht automatisch faul oder dumm.
Den vorangegangenen Absatz sollten Schüler mit schlechten Mathenoten und deren Eltern ruhig zweimal lesen als Genugtuung. Spricht er doch eine Wahrheit aus, die Lehrer gern an sich abprallen lassen: Wer Mathematik nicht versteht, ist nicht automatisch faul oder dumm, es könnte auch am Lehrer liegen. Und an seiner unzureichenden Ausbildung.
Kristina Reiss erzählt, dass mit dem Beginn der »Mittelstufe ein dramatischer Interessensverlust an Mathematik« einsetzt und viele Gymnasiasten schon das Bruchrechnen nicht richtig beherrschen. »Prozesse laufen im Matheunterricht suboptimal, weil Schüler abgehängt werden, aber Mathematik ein Fach ist, in dem die Schritte sehr stark aufeinander aufbauen.« So kommt es, dass Mathelehrer Klassen unterrichten, in denen nur ein paar wenige Schüler begreifen, was an der Tafel steht. So kommt es, dass Lehrer dazu neigen, sagt Kristina Reiss, »Kinder aufzurufen, die keine Fehler machen«.
Die neue Lehrerbildung an der TU München will diese Frustspirale in einen Positivkreislauf umdrehen. Besser ausgebildete Mathelehrer und auch ein insgesamt anderes Image des Fachs bringen bessere Schüler hervor und damit wieder bessere Mathelehrer. Denn umgekehrt hat auch die Vorstellung, Mathe könne man nicht lernen, sondern könne man oder eben nicht, dazu geführt, schlechte Noten in Mathematik mit Schicksal zu erklären.
»School of Education« heißt das neue Ausbildungskonstrukt für Mathe-Lehramtsstudenten, das künftig das Fachstudium von Anfang an didaktisch, pädagogisch und praktisch begleiten soll. Bisher wurde praxisorientiertes Lernen auf die letzten beiden Jahre der Ausbildung geschoben, Didaktik und Pädagogik führten ein kümmerliches Leben neben dem reinen Fachstudium. Nun schwärmen schon die Erstsemester an die bayerischen Gymnasien aus, zusammen mit Lehrern und Personal von der TU halten sie Unterrichtsstunden vor Schülern aller Jahrgangsstufen. Anschließend gibt es Kritik von allen Anwesenden. Wer das nicht aushält, kann in ein reines Fachstudium wechseln und erspart so den kommenden Klassen die Konsequenzen seiner beruflichen Fehlentscheidung.
Die Initiative für eine bessere Ausbildung der Mathelehrer kommt nicht von den Lehrern selbst, nicht von Eltern, nicht von einer Ethikkommission zur Verbesserung des Mathematikunterrichts. Die Industrie hat Interesse. Die Didaktik-Lehrstühle für Mathematik an der School of Education in der Schellingstraße in München werden zum Großteil von Siemens, BMW und der Telekom finanziert. Auch an anderen deutschen Universitäten bezahlt die Industrie Professoren und Dozenten für eine bessere Ausbildung – nicht nur der Mathematiklehrer. Auch Schulfächer wie Informatik und Naturwissenschaften, abgekürzt: MINT-Fächer, leiden an schlecht qualifiziertem Personal.
Siemens, BMW und die Telekom sorgen sich um den Bestand ihrer Mitarbeiter. Wie soll Deutschland im internationalen Wettbewerb bestehen können ohne genügend MINT-Cracks? Die Unternehmen wünschen sich einen Pool an gut ausgebildeten Mathematikern und Informatikern, aus dem sie sich die Besten herauspicken können. Der bisherige Unterrichtsstil der Mathelehrer ist für die industriellen Geldgeber kontraproduktiv. Zu wenige Schüler überstehen die Selektion im Matheunterricht in gut und schlecht. Die meisten sind froh, wenn sie Mathematik nach der Schule für immer los sind. Ein Mathe-Lehramtsstudium kann, inklusive Referendariat, acht Jahre dauern. Ob die deutsche Industrie so lange durchhält, ist ungewiss. Die Finanzierung des Personals für zusätzliche Lehrveranstaltungen und die Praktika hat die Telekom, einer der größten Geldgeber, auf drei Jahre begrenzt. Vorläufiges Ende: nächstes Jahr.
Neben dem Typ Mathelehrer mit Haarkranz und Bart, bequemen Schuhen und hartem Koffer, gibt es auch Schimanski-Typen, die man auf Demos gegen Castor-Transporte antreffen könnte und die ihre Unterlagen in alten Ledertaschen über der Schulter tragen. Günter Decker ist so einer. Der Mathelehrer am Luise-Schröder-Gymnasium in München-Allach hält nichts davon, Schüler an der Tafel zu verunsichern. In seinem Unterricht muss nie ein Schüler an die Tafel. Seine Schüler sollen sich die Lösung zu den Rechenaufgaben selbst erarbeiten. Seine Rolle ist die des Beobachters und Beraters. Hat ein Schüler Fragen, bekommt er Unterstützung von Decker. Diese reformpädagogische Methode hat der 54-Jährige aus seiner Zeit als Rektor des Montessori-Gymnasiums am Starnberger See mitgebracht. Der Vater eines Sohnes erkannte dort: »Je öfter wir die Kinder dazu bringen, für sich selbst zu entscheiden, desto mehr Identifikation haben sie mit dem, was sie tun, desto kreativer und nachhaltiger lernen sie.«
Kreativ, nachhaltig. Das sind revolutionäre Attribute, die Decker nun an der Regelschule Luise-Schröder-Gymnasium für den Matheunterricht einzuführen versucht – zunächst in einer fünften Klasse. Das darf er. Laut Artikel 59 des Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes kann ein Lehrer so unterrichten, wie er will – es sei denn, der Rektor sabotiert seine Methode. Bisher hat Robert Laslop, Rektor des Luise-Schröder-Gymnasiums, Decker gewähren lassen. Für das reformpädagogische Projekt seines Mathelehrers hat er eine ganze Etage bereitgestellt. Das könnte sich ändern, denn für den Rektor zählt nur, was »hinten herauskommt«, und die Leistungen in Mathematik seien, sagt Laslop, in Deckers Projektklasse bisher unterdurchschnittlich. Das stimmt nicht hoffnungsfroh, wenn ein engagierter Mathelehrer nur unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielt. Dabei muss das gar nichts bedeuten.
Der Durchschnitt nämlich, um den sich alles dreht, wird erhoben, ausgewertet, verglichen – und dann verdrängt. Bestes Beispiel: der Jahrgangsstufentest Mathematik, ein Vergleichstest, den alle bayerischen Gymnasiasten in der zehnten Klasse ablegen müssen. Warum der Test so schlecht ausgefallen sei, möchte ein Vater auf der Versammlung der Klassenelternsprecher eines Schwabinger Gymnasiums wissen. Die Antwort: Die Schüler hätten nichts gelernt, zudem sei der Schnitt von 3,8 an bayerischen Gymnasien »ganz normal«. Der Vater ist sprachlos. Dieter Götzl, Ministerialrat am bayerischen Kultusministerium, sagt: »Dieser Test fällt nicht schlecht aus, das sind ganz normale Ergebnisse.« Erklärtes Ziel des bayerischen Mathematiktests sei nämlich, »dass die Schule sich innerhalb des bayerischen Ergebnisses einordnen kann. Wenn die Schule unter den 400 bayerischen Gymnasien Rang 120 belegt, kann die Schule sagen: Wir sind im oberen Drittel gerade noch dabei.« Ministerialrat Götzl, selbst ehemaliger Mathe- und Physiklehrer, kümmert sich um die bayerische Schnitterhebung in diesen Fächern, er kennt sich aus mit Begriffen wie relativ und absolut. Und die absoluten Zahlen, also all die Fünfer und Sechser, sind schlechter auszuhalten als die Relation.
Wenige Spitzenschüler – nicht nur in Mathematik, aber da ganz besonders – schönen die Statistik. Deshalb legt das Bildungsestablishment so viel Wert auf Hochbegabtenförderung und Elitebildung. Es braucht die Guten, damit die normale Schnittkurve nicht vorn flach bleibt, hinten gefährlich steil ansteigt und damit den Schnitt in den Keller fallen lässt. Man braucht diejenigen, die immer Einser haben, die alles verstehen, mit oder ohne Lehrer. Die Guten haben Macht über Lehrer und Politiker, man sorgt sich um sie, denn mit ihrer Hilfe lässt sich darüber hinwegtäuschen, dass der ganze große Rest auch weiterhin im Unterricht wenig bis gar nichts verstehen muss. Und solang es diese Guten gibt, muss man sich nicht fragen, was man besser machen müsste für all die anderen.
Foto: ohneski / photocase.com