Ein sonniger Herbsttag in Niedersachsen, auf einer Anhöhe nördlich von Hildesheim hat sich eine fröhliche Gemeinschaft versammelt, die eine Vorliebe für veganes Essen, Bionade, Afro- und Reggaemusik verbindet. Und die Ablehnung der staatlichen Schulpflicht. Aus dem ganzen Land sind Familien angereist, die sich dem Zwangsunterricht widersetzen und mit den Behörden streiten oder - wenn sie Glück haben - von ihnen geduldet werden. Schon der Ort des »Schulfrei-Festivals« - mitten im Wald, mit Bus oder Bahn kaum zu erreichen - deutet an: Wer in Deutschland den Traum vom Leben ohne Schule auslebt, begibt sich an den Rand einer Gesellschaft, die eher mehr als weniger Schule will, angeblich im Interesse der Kinder.
Drei Tage dauert das Festival, gut 300 Besucher lauschen Referenten aus Frankreich, England und Kanada, wo es Eltern erlaubt ist, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten. Auch Christiane Ludwig-Wolf hält einen Vortrag, über die rechtliche Situation von Schulverweigerern in Deutschland. Sie kennt sich aus, ihre drei Söhne gingen sechs Jahre lang nicht zur Schule. Immanuel, ihr Ältester und Mitorganisator des Festivals, steht am Eingang und kassiert für Eintritt und Essensmarken. Das damit verbundene Rechnen fällt dem 25-Jährigen etwas schwer, und sofort drängt sich der Verdacht auf: Ist das der Preis der Schulabstinenz? Doch sein jüngerer Bruder Juri hat ebenfalls sechs Jahre geschwänzt - und war trotzdem wenige Wochen nach der Einschulung in eine Regelschule Klassenbester in Mathe. Die Geschichte der Brüder Wolf liefert keine schnellen Antworten, dafür einige erstaunliche Erkenntnisse und jede Menge Zweifel am Sinn gängiger Schulbildung.
Anfang der Neunzigerjahre, in einem Dorf auf der Schwäbischen Alb. Immanuel Wolf besucht die zweite Klasse einer Waldorfschule. Jeden Morgen, wenn ihn sein Vater dort abliefern will, schreit und tobt er, wehrt sich buchstäblich mit Händen und Füßen gegen die Schule. Die Eltern stehen vor einem Rätsel. Ein Pädagoge rät, den Jungen einfach sechs Wochen lang in die Schule zu bringen, dann werde das Geschrei schon aufhören. Das entspricht nicht den Vorstellungen der friedensbewegten Eltern. Sie haben sich Anfang der Achtzigerjahre bei einer Sitzblockade gegen die Raketenbasis in Mutlangen kennengelernt und teilen ein Hobby, dem zu dieser Zeit viele junge Menschen nachgehen: ziviler Ungehorsam. Der Sohn wird also an der Schule krank gemeldet und Christiane Ludwig-Wolf, die Mutter, taucht tief in die alternative Pädagogik ein. Sie hört auch einen Vortrag von Olivier Keller, der Familien aus der Schweiz und Frankreich untersucht hat, die sich der konventionellen Schulbildung verweigern, und voller Bewunderung ihre Lebensgeschichten erzählt. Sie denkt: »Wenn andere Familien das hinkriegen, schaffen wir das auch.«
Weil dieser Bildungsweg heute wie damals in Deutschland nicht vorgesehen ist, flunkert Christiane Ludwig-Wolf, Immanuel erhalte nun in Österreich Blockunterricht. Die Behörden scheinen mit der Auskunft zufrieden zu sein, jedenfalls hakt niemand nach, auch nicht, als Semjon dem Beispiel des größeren Bruders folgt und sich ebenfalls der Schule verweigert. 1999 siedelt die Familie nach Sachsen-Anhalt um, den Vater, gebürtiger Ostfriese, hat es wieder in den Norden gezogen - in eine Landschaft mit weiten Feldern, Kühen und Pferden, Backsteinhäusern und bis heute erstaunlich vielen Funklöchern. Die Familie kauft sich ein altes Bauernhaus mit großem Garten in Baars. Der Ort liegt südlich von Salzwedel und besteht aus einer Straße, links und rechts davon zehn Häuser. Auch an Juri, dem dritten Sohn, ist die Einschulung mittlerweile vorübergegangen, dafür hat sich das Erziehungskonzept von Christiane Ludwig-Wolf verfestigt: Kinder seien von Natur aus in der Lage, selbst alles zu lernen, was sie für ihr Leben brauchen, auch die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen, wird sie später an die Behörden schreiben. Die Schule mit ihrem Zwangscharakter störe diesen Prozess nur. Bei ihr zu Hause finde Lernen »im Leben, in Zusammenhängen statt« und es sei »von außen häufig nicht sichtbar und auch dem Lernenden selber nicht bewusst«. Das Gelernte sei »innerhalb dieser Lebenszusammenhänge zwar selbstverständlich verfügbar, in einem isolierten, abstrakten Raum aber nicht abfragbar«. Ihre Kinder lernten beim Bau eines Modellautos, beim Spielen mit Sand oder Wasser, beim Basteln und Bauen mit Holz. Sie konstruierten mit Bauklötzen und Fischertechnik, erfänden Rollen- und Brettspiele. Auch einen Lernraum gebe es zu Hause »mit unzähligen Büchern zu unterschiedlichsten Themen« sowie Übungsmaterial für die Fächer Mathematik, Deutsch, Englisch, Erdkunde.
Trotz ihrer Vorstellungen weitab von jedem Lehrplan erzieht Christiane Ludwig-Wolf ihre Söhne nicht zu Sonderlingen: Semjon fährt gern BMX-Rad und spielt mit selbst gebastelten Waffen, Juri programmiert gern seinen alten Computer, den ihm sein Onkel geschenkt hat, Immanuel drechselt mit seinem Vater Schachfiguren, liest viel und geht mit seinem Hund spazieren. Sicher, die Brüder heißen nicht Paul, Luca oder Leon wie die meisten Kinder und laufen oft barfuß. Aber dieser unmittelbare Kontakt zur Natur sei pädagogisch wertvoll, sagt der Vater, das habe schon Rudolf Steiner festgestellt: »Erst gilt es, die niederen Sinne auszubilden, dann entfalten sich auch die höheren.«
In der neuen Heimat spricht sich die Geschichte der Jungen schnell herum, beim zuständigen Schulamt in Gardelegen geht eine anonyme Anzeige ein. Als der Schulrat Karl Heinz Mohnert eines Morgens die Familie kontaktieren will, meldet sich eine Bekannte und erklärt, die Mutter und ihre drei Kinder lägen draußen im Garten in ihrem Tipi-Zelt und schliefen noch. Tatsächlich liebt die Mutter die Nähe zur Natur, und weil die Kinder keine Schule besuchen, gibt es auch keinen Grund, früh aufzustehen. Mohnert bestellt die Familie in sein Amt, zwei Welten treffen aufeinander: Im Spätherbst kommen Mutter und Kinder barfuß an, die Mitarbeiter des Amts beobachten die Szene ungläubig und raunen dem Schulrat zu: »Herr Mohnert, Sie müssen da was tun.«
Das Jugendamt schaltet sich ein, es kommt zu einem regen Schriftwechsel. Christiane Ludwig-Wolf argumentiert, Immanuel, Semjon und Juri »verweigern massiv den Besuch einer Schule und ich könnte sie nur unter Ausübung von psychischer und physischer Gewalt zum Besuch einer Schule bewegen«. Die Kinder hätten aber »ein Recht auf gewaltfreie Erziehung, also ist es mir nicht gestattet, Gewalt gegen sie auszuüben«. Außerdem hätten die Kinder ein Recht auf Bildung. »In einer Situation, in der sie sich nicht wohlfühlen, können sie nichts lernen.« Deshalb sei es für ihre Kinder das Beste, wenn sie zu Hause lernen, wo sie genug unterstützt und gefördert werden.
Die Reaktion der Behörden? Zunächst erstaunlich milde. Zwar erhalten die renitenten Eltern mehrere Bußgeldbescheide, doch gleichzeitig wird der Sonderschullehrer Martin Meißner engagiert, um die Kinder wieder an die Schule zu gewöhnen. Er stößt schnell an seine Grenzen. Wenn er Mathematik unterrichten will, protestiert Immanuel, er wolle jetzt lieber über alte Kulturen am Nil reden. Wenn Meißner in Deutsch über das Akkusativobjekt doziert, fragt die Mutter, wofür die Kinder das eigentlich wissen müssen. Ihm ist schnell klar, dass »die Mutter nicht will, dass die Kinder beschult werden. Sie hat sich das in den Kopf gesetzt und ist nicht mehr bereit, davon abzuweichen«. Damit liegt er richtig, »Mama hatte uns gesagt, seid freundlich zu Herrn Meißner, aber ansonsten macht nur das, was euch Spaß macht«, sagt Semjon heute. Dabei ist Meißner durchaus willens, sich mit den Theorien der Schulverweigerer zu beschäftigen. Er kauft sich sogar das Buch Denn mein Leben ist Lernen, eine Art Bibel der Schulverweigerer von Olivier Keller, der dafür plädiert, das Lernen den Kindern selbst zu überlassen. Meißner kann sich mit dieser Vision nicht anfreunden: »Das hält unsere Zivilisation so nicht aus.« Er macht sich Sorgen, was aus den drei Brüdern werden soll - »wie sollen sie sich in unserem Berufssystem zurechtfinden?«
Nach gut zwei Jahren zieht das Gericht die Daumenschrauben an und droht den Eltern, ihnen das Sorgerecht zu entziehen, wenn die Kinder weiterhin der Schule fernblieben. Nun sieht sich Reinhard Wolf, der Vater, gezwungen einzuschreiten. Er hat ein kleines Bauunternehmen und war viel auf Montage unterwegs. Außerdem haben er und seine Frau sich mittlerweile voneinander getrennt, er lebt nun in Bremen, aber das Sorgerecht teilen sie sich weiter. Er ruft den Richter an und fragt, welchen Spielraum er in der Sache sieht. Nicht viel, entgegnet der Richter, der Tatbestand »Kindeswohlgefährdung durch Bildungsvorbehalt« sei offensichtlich erfüllt. Aber der Fall bereite ihm schlaflose Nächte, das erste Mal in seiner Laufbahn nehme er Kinder aus einer intakten Familie, seine Frau habe ihm auch schon ins Gewissen geredet. Der Vater verspricht, die Kinder aufzunehmen und dafür zu sorgen, dass sie sofort die Schule besuchen.
Die Mutter, die weiter nicht bereit ist, die Freiheit ihrer Kinder zu beschneiden, willigt aber ein, sie selbst über ihre Zukunft entscheiden zu lassen. Immanuel, 15, Semjon, 13, und Juri, 11, schreckt die Vorstellung, womöglich im Heim zu landen. Sie beschließen, zu ihrem Vater nach Bremen zu ziehen und in die Schule zu gehen. Ihr Vater meldet sie im Frühjahr 2003 an einer benachbarten Gesamtschule an, Juri steigt in der sechsten Klasse Hauptschule ein, Semjon in der achten und Immanuel in der neunten.
Bald gibt es Probleme, wenn auch andere als erwartet: Die Schule ist ein wildes Pflaster, die Mitschüler rauchen, klauen und tragen Streitigkeiten mit Messern aus. Immanuel klettert im Pausenhof oft auf die Bäume, um den Schlägen seiner Mitschüler zu entgehen, die ihn als Außenseiter und Opfer auserkoren haben. Bei Semjon wird die Klassenfahrt abgesagt, weil sich die Lehrer weigern, die als besonders undiszipliniert geltende Klasse zu begleiten. In Juris Klasse sitzt eine Schülerin, die depressiv ist und einen Selbstmordversuch unternimmt. Als das bekannt wird, verspotten sie einige Mitschüler erst recht als Versagerin, die wirklich nichts zustandebringt. So viel Missgunst wie in den ersten Wochen haben die drei Brüder in ihrem bisherigen Leben nicht erlebt. Auf groteske Weise bewahrheiten sich die Vorbehalte ihrer Mutter, die immer gewarnt hat, dass Schule Kindern eher schadet als nützt.
Der Stoff selbst bereitet den Brüdern weniger Probleme. Nur anfangs sitzt der Vater mit den Jungen am Tisch und paukt Mathematik, Grammatik und Englisch. Semjon zählt beim Rechnen das Ergebnis immer noch mit den Fingern ab. Auch in Englisch tut er sich schwer, einmal soll er ein Referat über den US-Bundesstaat Utah halten: »Das schaff ich nie, da krieg ich eine glatte Sechs«, stöhnt er, woraufhin der Vater ihm den Vortrag Wort für Wort aufschreibt, in Lautschrift. Der erste Satz lautet: »Ei will giw ju a ripoat on the fedderäl stet juta.« Der Lehrer gibt ihm eine glatte Zwei. Auch die anderen Wissenslücken sind nach wenigen Wochen aufgeholt.
Der New Yorker Lehrer Taylor Gatto hat vor einigen Jahren ein viel beachtetes Buch geschrieben, Dumbing Us Down. Er behauptet, jeder halbwegs motivierte Mensch sei in der Lage, Lesen, Schreiben und Rechnen in hundert Stunden zu lernen. Die Schule sei vor allem ein Ort, der jungen Menschen die Lust am Lernen verdirbt. Das deckt sich mit den Erfahrungen von Juri Wolf, der sehr schnell zum Klassenbesten aufsteigt. Das Vorwissen seiner Mitschüler ist überschaubar, das meiste haben sie, wenn überhaupt, für Prüfungen gelernt und dann wieder vergessen. Dafür hat Juri in ihren Augen einen Vorteil: »Du bist ja noch motiviert«, hört er oft.
Nach wenigen Wochen wechseln er und seine Brüder - ohne eine Stunde Nachhilfe - in die Realschule, die sie ebenfalls problemlos bewältigen. Semjon, der anfangs mit Mathe und Englisch kämpfte, hängt sogar noch das Fachabitur dran, Juri legt mit einem Notendurchschnitt von 2,0 sein Abitur ab. Nur Immanuel bricht die Schule vorzeitig ab, in der elften Klasse des Gymnasiums. Von einer Radtour ist er mit einer schmerzenden Hand zurückgekehrt, ein Arzt entdeckt tags darauf Streptokokken, die sich bereits im ganzen Körper ausgebreitet haben. Einen Tag später, und er hätte die Hand verloren. Immanuel deutet den Vorfall als Zeichen, die Schule zu beenden - schließlich brach die Infektion an seiner Schreibhand aus. Auch Reinhard Wolf, der zwar Wert auf die Schulbildung seiner Kinder legt, aber ansonsten ein Freigeist geblieben ist, respektiert die Entscheidung seines ältesten Sohns: »Das war schon ein krasses Ding - so als hätte sich an seiner Hand etwas ausgelebt, was tief in ihm schlummerte.«
Inzwischen ist Immanuel 25 und verkauft selbst gemachte Fingerpuppen und Sitzkissen aus Filz. Vor Kurzem zog er zu seiner Freundin in die Nähe von Berlin. Zukunftsängste sind ihm fremd: »Ich denke mir, wenn es mir heute gut geht, warum soll es morgen anders sein?« Semjon, 23, hat viel auf dem Bau gejobbt und beginnt demnächst eine Tischlerlehre in den Filmstudios von Babelsberg. Juri, 21, studiert seit einem Jahr Interfacedesign an der Uni Potsdam und entwickelt nebenbei Software für die Berliner Akademie der Künste und das Deutsche Historische Museum. Gegen alle Prognosen von Experten sind die Brüder nicht verwahrlost, sondern haben ihren Platz in der Gesellschaft gefunden und machen einen äußerst zufriedenen Eindruck.
Was also lehrt ihre Geschichte? Schulrat Mohnert, der längst im Ruhestand lebt, sagt: »Ich will gar nicht abstreiten, dass es möglich ist, Kinder ohne staatliche Schule großzuziehen, aber das muss irgendwie kompensiert werden. Denn für mich bleibt die Frage: Was wäre mit den Kindern passiert, wenn wir nicht die Notbremse gezogen hätten? Und wie erfolgreich wären sie erst gewesen, wenn sie von Anfang an die Schule besucht hätten?« Juri, der sich von den drei Brüdern am leichtesten in der Schule tat, entgegnet, er hätte gern auf die Erfahrung verzichtet: »Die Schule hat uns kaputt gemacht«, sagt er einmal zu seinem Vater, sie war für ihn in erster Linie »ein Ort, aus dem es kein Entrinnen gab«. Auch im Berufsleben gibt es Zwänge, pflichtet ihm sein Bruder Semjon bei, »aber ich habe immer die Möglichkeit, auszusteigen, wenn es mir nicht passt.«
Ihre Mutter Christiane Ludwig-Wolf lebt wieder auf der Schwäbischen Alb und hat mit ihrem neuen Partner zwei weitere Söhne bekommen. Sie sind heute neun und elf Jahre alt und haben bisher kaum eine Schule von innen gesehen. Nur ab und zu nimmt die Mutter den Älteren mit, wenn sie an einer benachbarten Schule Unterricht in Handarbeit gibt. Dann zeigt er den Schülern, wie man einen Filzball macht.
Fotos: Gerhard Westrich, Rafael Krötz