Der Mann, den sie in Uri »Staatsfeind Nummer eins« nennen, wartet in einem gelben Smart am Bahnhof Luzern. Ein untersetzter, rothaariger Mann. Unruhige Augen, ein paar hektische Bewegungen. Tür auf, Tür zu. Der Mann fährt los.
Zwei Monate ist es her, dass er das Gefängnis verließ. Am Tag darauf, dem 1. April 2015, werde er eine neue Stelle antreten, erzählt er, während das Auto in ein Gewerbegebiet einbiegt. Ein Summen, dann öffnet sich das Tor zu einer Tiefgarage. Kein Mensch ist zu sehen. Der Smart rollt in die Dunkelheit.
»Versuchter Mord, versuchte vorsätzliche Tötung« – dafür wurde er schuldig gesprochen, Strafmaß: 15 Jahre. Mehr als vier Jahre saß er im Gefängnis, jetzt ist er plötzlich frei. Seinen Namen kennt die ganze Schweiz. Sein Gesicht war, mit schwarzem Balken und ohne, auf Zeitungen und Fernsehbildschirmen zu sehen.
Auf der Visitenkarte, die er sich zugelegt hat, steht sein erster Vorname: Paul. »Ich will einen Neuanfang machen«, sagt er, Ignaz passe da nicht mehr so gut. Paul Walker also.
Die Büroräume, einige Stockwerke über der Tiefgarage, sind gerade erst bezogen worden, Kisten und halb aufgebaute Möbel stehen herum. Es gehe um Versicherungen, sagt Walker. Er sei »im Back-Office«, eine halbe Stelle und eben der kleine gelbe Dienstwagen. »Nicht ganz das, was man von einem Puff-Betreiber erwartet, oder?« Walker bricht in lautes Lachen aus, verstummt aber gleich wieder.
Die Zeiten, in denen er ein Cabaret hatte, ein Tanzlokal mit ausländischen Frauen, mitten in Erstfeld, Kanton Uri, sind die guten alten Zeiten für ihn. Glaubt man Walker, wurde er überlistet. Verurteilt für ein Verbrechen, das er nicht beging. Aus Frust, weil man ihm jahrzehntelang nichts nachweisen konnte. Der ganze Kanton, besonders aber dessen Justiz, habe sich gegen ihn verschworen.
Heute ist das Cabaret kaum mehr als ein Kellerloch. Die Spiegel unter der Theke werfen flackernd das Licht der Taschenlampe zurück. Seit Juli 2014 ist der Betrieb geschlossen, der Strom ist abgestellt. Highheels mit Nietenaufsätzen, leere Schampusflaschen, schmuddelige Separees, dünne Fäden als Vorhang. Esther*, eine der vier Schwestern von Walker, führt über eine schmale Holztreppe. »Hier sind die Frauen hinunter in Bar gekommen, das war eine Show! Da oben haben sie gewohnt.« Neben der Treppe liegt ein Kondom, eingeschweißt.
Zwischen Tanzlokal und Bordell wird in der Schweiz strikt unterschieden, wer sich nicht daran hält, macht sich strafbar. Dass Walker es damit nicht so genau nahm, ist ein offenes Geheimnis.
Ignaz Walker, Cabaret-Besitzer aus Erstfeld. Schon lange bevor er inhaftiert wurde, war sein Name im ganzen Kanton Uri bekannt gewesen. Noch ein Cabaret gab es nicht. Zwischen Vierwaldstättersee und Gotthardtunnel leben etwas mehr als 30 000 Menschen. Hohe Berge, Täler, Autobahn und Zugstrecke. Zwischen den Häusern weite grüne Wiesen. Walker, Jahrgang 1968, ist hier aufgewachsen, als jüngstes von sechs Kindern.
»Ja, der Chalchi.« Paul Jans, früher Wirt im »Frohsinn« und Gemeindepräsident von Erstfeld, klopft nachdenklich gegen seine Kaffeetasse. »Der Chalchi. Der tut jetzt so, als wäre er ein unschuldiges Lamm. Weiß. Dabei kennen wir ihn besser.« Wieso er ihn Chalchi nennt? Jans lacht. »So weit ich weiß, haben seine Vorfahren ein Haus mit zu viel Kalk gebaut. Es ist schnell in sich zusammengefallen. Und die Besitzer, seine Vorfahren, haben den Namen Chalchi bekommen.« Und was diesen besonderen Chalchi angeht, der habe schon als Junge bewiesen, dass er kriminell sei. Einbrüche, Waffen, zu schnelles Fahren, zählt Jans auf – und jedesmal sei der Chalchi irgendwie davongekommen.
Als junger Mann wird Walker eine der umstrittensten Personen des Kantons. Intelligent, ja, aber ein Querulant. Auf alten Zeitungsausschnitten ist Walker mit einer Jugendtheatergruppe zu sehen. Der Chalchi habe sich engagiert, das sagt selbst Jans. Wenn einer Probleme hatte, konnte er zu Walker kommen. Mit seinem Taxiunternehmen fuhr Walker die nach Hause, die nicht mehr laufen konnten. Im Cabaret, das er einige Jahre später gründete, verwahrte er die Geheimnisse des Ortes.
In der Schweiz, besonders in den kleinen Ortschaften, geht es scheinbar harmonisch zu. Kaum etwas scheuen die Menschen so wie den direkten Streit mit ihren Nachbarn. Ignaz Walker dagegen ging zum Anwalt, wenn er sich im Recht sah. Auch Jans traf ihn vor Gericht. Das Hotel »Frohsinn« grenzt an das Cabaret. Es gab Streit um Mindestabstände, Jans’ Kleintierzucht war zu nah an Walkers Grundstück.
Und wenn er nicht im Recht war? Wuselte er sich irgendwie durch. »Einmal, als ihn die Polizei angehalten hat, weil er zu schnell gefahren war, hat er seine Taxischeibe gefressen. Kann man sich das vorstellen? Und dann konnte man ihm wieder nichts nachweisen.« Jans schüttelt den Kopf. Dieser Chalchi.
An einem Dienstagabend im Dezember 2006 kommen fünf Personen, vier davon Polizeibeamte in Zivil, ins Cabaret. Sie sind angetrunken – und, nach den Zeugenaussagen von Walker, seinen Angestellten und einigen unbeteiligten Gästen, gewalttätig. Einer kippt Walker ein Glas Bier über die Hose, andere beleidigen seine Frau und die Tänzerinnen. Hure, Trottel, Arschloch, in deiner Bar gibt es nicht einmal richtige Weiber zum Bumsen. Walker ruft die Polizei. Bei einem der Gäste klingelt kurz darauf das Handy.
»Du Idiot hast der Polizei telefoniert. Ich bin die Polizei. Wir können auch rausgehen und das unter uns regeln.«
Ein Bierglas fliegt hinter die Theke, es verfehlt Walkers schwangere Frau, Nataliya K., um ein paar Zentimeter. In den Zeugenaussagen heißt es, der Polizist M. habe geworfen.
Es ist nicht das erste Mal, dass der Polizist M. und Walker aneinandergeraten. Walker sagt, M. sei mit einer »Lederjacken-Gang« unterwegs gewesen, einer Gruppe, die sich immer wieder über das Gesetz stelle und zu der auch Polizisten gehörten.
An diesem Abend werden die angetrunkenen Beamten abtransportiert. Walker verlangt eine Entschuldigung. Da sie nicht kommt, zeigt er drei der vier Polizisten an.
Die Verfahren werden eingestellt. Dafür sind bei der nächsten Fasnacht die betrunkenen Polizisten ein beliebtes Motiv. Der ganze Kanton lacht. Der Sieger der Geschichte heißt Ignaz Walker. Wieder einmal.
Wenn seine Freunde und Verwandten beschreiben, wie er in dieser Zeit war, dann mit einem verschmitzten Lächeln. Ignaz blieb immer ruhig, Ignaz hatte alles im Griff. Trotz Protesten, trotz seiner Außenseiterrolle war es ihm gelungen, im Dorf eine Gastwirtschaft mit Cabaret zu führen. Er habe die Frauen anständig behandelt, sagen sie, die meisten seien immer wieder gekommen.
Es ist wohl die erfolgreichste Zeit im Leben von Ignaz Walker. Im Mai 2007, wenige Tage nach der Geburt seines ersten Sohnes, wendet sich das Blatt.
Der Algerier Ali Sebti richtet im Cabaret ein Blutbad an. Mit einem Küchenmesser tötet er zwei Erstfelder, mit denen er kurz zuvor aneinandergeraten war. Ein dritter überlebt schwer verletzt. Ignaz Walker, der mit Pfefferspray eingreift, trägt Stichwunden davon. »Das war das schlechteste Timing überhaupt. Meine Frau lag im Wochenbett und ich drei Etagen drüber, mit drei Messerstichen. Wir konnten beide nicht gut damit umgehen.«
Von da an, sagt Walker, sei es zwischen ihm und seiner Frau bergab gegangen. Anzeigen wegen häuslicher Gewalt, Streit auf offener Straße, ein Umzug ins Frauenhaus. »Einen Monat später ist sie wieder in meine Nachbarschaft gezogen. Sie musste nie Angst vor mir haben. Aber sie hat das allen erzählt: Ich habe jetzt Angst vor Ignaz.«
Die Polizei nimmt die Aussagen der Eheleute auf, es sind gegenseitige Beschuldigungen. Einmal soll Nataliya K. ihren Mann mit einem Messer attackiert haben, ein anderes Mal werden Kratz-verletzungen in seinem Gesicht und blaue Druckstellen an ihren Armen festgestellt. Das ganze Dorf bekommt die Auseinandersetzungen mit. Walker reagiert, wie er sagt, mit Rückzug. Übernimmt ein zweites Cabaret im Nachbarkanton Obwalden und ist dort fünf Tage pro Woche. Freunde und Familie sagen, Walker sei gehetzt gewesen, habe Dinge durcheinandergebracht, immer weniger geschlafen.
Mit juristischen Tricks rechnet er sein Einkommen so klein, dass er keinen Unterhalt zahlen muss. Und er treibt die Scheidung voran. Für Nataliya K., ukrainische Staatsbürgerin, ist das heikel. Ihr Bleiberecht in der Schweiz ist auch an diese Ehe geknüpft.
Im März 2009 wird ihr ein Ausweisungsbescheid zugestellt: Sie und ihre Kinder müssten den Schengen-Raum bis zum 15. Juli verlassen. Die Ehe mit Walker sei zu kurz gewesen, weniger als die erforderlichen drei Jahre, der gemeinsame Sohn sei noch so klein, dass er sich auch in der Ukraine einleben werde, und für die neunjährige Tochter, erst 2008 nach Erstfeld nachgeholt, gelte das Gleiche. Nataliya K. legt Widerspruch ein – und hat schließlich Erfolg. Sie dürfe bleiben, bis das Verfahren gegen Walker beendet sei, heißt es. Doch die Behörden zweifeln an ihrer Opferrolle. Dass häusliche Gewalt vorgekommen sei, bestätigen die Akten. »Es kann allerdings nicht zweifelsfrei festgestellt werden, welche Rolle Sie dabei gespielt haben.«
Schon bei der Trennung im Mai 2008 sagt Nataliya K. bei der Polizei aus, ihr Mann trachte ihr nach dem Leben. Am 11. November 2010 reicht Walker die Scheidungsklage ein. Am 12. November wird auf Nataliya K. geschossen. Eine Kugel trifft sie in den Rücken. »Mordanschlag auf Serviertochter – jetzt spricht das Opfer«, steht am 13. November 2010 in der Boulevardzeitung Blick. Dann folgen die Details:
Es ist dunkel bei den Wohnblöcken am Bärenbodenweg in Erstfeld UR gestern nach 0.30 Uhr nachts. Serviertochter Nataliya K. (31) hat nur noch wenige Schritte bis zu ihrer Haustür.
Plötzlich knallts. »Ich hörte drei Schüsse«, sagt ihr Freund Claudio V. (52). Da klingelt sein Telefon. »Es war Nataliya. Sie sagte: ›Claudio, komm runter! Ich habe Schmerzen!‹«
Unten findet er die Ukrainerin mit einer Schussverletzung am Rücken. »Sie hat noch selbst Polizei und Sanität alarmiert«, sagt Claudio V.
BLICK weiss: Nachdem man Nataliya K. eine Kugel aus dem Körper operiert hatte, sagte sie aus, die Umrisse des Schützen hätten nicht ausgesehen wie ihr Mann. Hat Ignaz W. seine Drohung wahr gemacht und einen Killer auf seine Noch-Ehefrau angesetzt?
Um 2.30 Uhr stürmen die Beamten das Cabaret. Ignaz Walker wird festgenommen. Walker hat ein Alibi, er war den ganzen Abend in seiner Bar. Doch die These, die Nataliya K. am nächsten Tag der Boulevardzeitung diktiert, wird bald auch zur These der Polizei: Walker hat einen Auftragskiller engagiert.
Am 13. November 2010 verfasst Ignaz Walker einen handschriftlichen Brief an das Urner Landgerichtspräsidium. Es ist ein Dokument der Arroganz. Geschrieben von einem, der sich ganz sicher ist. »An der vorgeworfenen Tat fehlt nicht nur das Motiv, es ist auch nach einem halbwegs gesunden Menschenverstand sehr unwahrscheinlich, dass ich diese Tat begangen habe.«
»Warum sollte ich die Scheidung einreichen und zugleich ihren Tod planen?« »So wie ich aber die Kantonspolizei Uri kennengelernt habe, ist eine neutrale Untersuchung eines Vorfalles genau so häufig wie eine Mondlandung.«
Am 17. November 2010 trifft sein Schreiben bei den Behörden ein. Die Haftentlassung, auf die Walker hofft, kommt nicht. Stattdessen trifft Ignaz Walker bei den Vernehmungen auf alte Bekannte.
Werner Zgraggen, Gemeindepräsident von Erstfeld und Nachfolger von Paul Jans, spricht ungern über diese Konstellation. Wenn er zugibt, dass die Polizei eine Rechnung mit Walker offen hatte, wirft das kein gutes Licht auf die Justiz im Kanton. Zgraggen ist Politiker. Er findet, dieser Fall habe genug Schaden angerichtet. Dann ringt er sich zu dieser Aussage durch: »Natürlich hätte der Polizist M. nicht mehr gegen Ignaz Walker ermitteln dürfen. Er war befangen. Diese Geschichte von 2006 hat viel Groll verursacht.«
Doch der Polizist M. ermittelt. Und es kommt schlimm für Walker. Ein zweiter Fall, der schon fast im Sand verlaufen war, wird wieder aufgewärmt: Neun Monate zuvor, im Januar 2010, soll Walker vor seinem Lokal auf einen Gast geschossen haben. Einen Niederländer, P., der direkt darauf eine Aussage macht.
Der Niederländer hat bei seiner Einvernahme 2,58 Promille. Walker sagt, P. sei einige Tage später auf ihn zugekommen und habe sich für seine Falschaussage bei ihm entschuldigt. Die Polizei habe ihn zur Lüge überredet. P. will sich korrigieren. Walker fährt den Niederländer zur Polizeistation. Er sagt, er habe P. nachgesehen, wie er in das Gebäude gegangen sei. Doch als Walker bei der Urner Polizei nach dieser zweiten Aussage des Niederländers fragt, bekommt er die Antwort: Da gebe es nichts. P. sei kein zweites Mal dagewesen.
Von einer abgefeuerten Patronenhülse, die in der Nähe des Cabarets gefunden wird, nimmt der Polizist M. eine DNS-Probe. Spätestens im Februar 2010 liegt M. das Ergebnis vor: Demnach stimmt die DNS mit der von Ignaz Walker überein.
Augenscheinlich ein klares Indiz. Es belegt, dass Walker diese Waffe geladen hat. Dass er damit auf den Niederländer geschossen hat, wäre naheliegend. Mehrere Zeugen haben in dieser Nacht einen Schuss gehört. Die Beweislage scheint eindeutig. Doch zunächst passiert nichts. Der Polizist M. hält den Fund erst im September 2010 in einem Bericht fest. Und auch jetzt bleibt Walker frei. Erst nach den Schüssen auf Nataliya K. wird die DNS zum entscheidenden Indiz.
Die Waffe, mit der in beiden Fällen geschossen wurde, wird im Dezember 2010 gefunden, bei der Freundin eines jungen Serben namens Sasa Sindelic. Er sagt aus, Walker habe ihm die Waffe unmittelbar nach der Tat gegeben. Eine umgebaute Schreckschusspistole.
Ein Gutachten wird später zeigen: Genau zu treffen ist damit fast unmöglich. Die Projektile überschlagen sich schon nach kurzer Distanz, sie schlagen nicht in der Mitte der Zielscheibe ein, sondern viel weiter oben links. Nicht gerade die Waffe, die man einem Auftragskiller gäbe, argumentiert Walkers Verteidiger. Vor allem nicht, wenn diese Waffe bereits in einem polizeibekannten Delikt verwendet wurde.
Die beiden Fälle, die Schüsse auf den Niederländer P. und jene auf Nataliya K., werden später zusammen vor Gericht gebracht. Trotz der 2,58 Promille wird die Aussage des Niederländers verwendet.
P. sei seit Jahren unauffindbar, sagt die Polizei.
Auch sonst gibt es vieles, was in diesem Fall nicht zusammenpasst. Etwa die Notrufe von Nataliya K. und ihrem Freund Claudio V.: Warum sagt Claudio V., der wenige Minuten nach dem Notruf seiner Freundin noch einmal die Polizei anruft, zu Nataliya K., die bei ihm in der Wohnung ist: »Hat er ausgesehen wie ein Ausländer? Wie diese Typen da?« Warum schimpft er mit ihr (»Natalie, das ist Scheiße!«), als sie sagt, es sei zu dunkel gewesen, um den Schützen zu erkennen?
Und warum übergeben Nataliya K. und ihr Freund der Polizei wenige Tage nach der Tat ungefragt eine Zusammenstellung von Walkers möglichen Tatmotiven, darunter eine CD mit Liveaufnahmen einer angeblichen Morddrohung von Walker? Warum werden diese Motive, besonders ein Erbschaftsstreit, in dem es um den gemeinsamen Sohn Pawel geht, von der Polizei übernommen? Ist glaubwürdig, dass Nataliya K. und Sasa Sindelic einander nicht kannten, obgleich sie in einem Lokal bedient hat, das er häufig aufsuchte? Warum sollte Walker, frisch verliebt und in Erwartung eines zweiten Kindes, seine frühere Ehefrau umbringen?
Trotz dieser Widersprüche bleibt Walker in Haft. Dem Cabaret geht es zusehends schlechter. Seine neue Freundin Sofia*, ebenfalls eine ehemalige Tänzerin, übernimmt das Geschäft. Am 16. Februar 2011 kommt sein zweiter Sohn Dennis* zur Welt.
Briefe ins Gefängnis und hinaus:
Esther an ihren Bruder Ignaz, Februar 2011:
»Hallo Ignaz, ich hoffe, es geht dir so weit gut? Meinst du nicht, dass du nun lange genug in den ›Ferien‹ warst? Sofia und Dennis hoffen auf deine Rückkehr. Ich hoffe sehr, dass du dich bald um sie kümmern kannst.«
Ignaz an Esther, Februar 2011:
»Mit deinen ironischen Sprüchen betreffend Ferien, die du mir jedes Mal schreibst, erreichst du bei mir kein müdes Lächeln. (…) Es vergeht kaum eine Minute, bei der ich nicht nachdenke, wer und vor allem warum auf Nati geschossen wurde.«
Ignaz an seine Ex-Freundin Sabina*, Februar 2011:
»Ich werde am 22. März vor dem Landgericht kämpfen und gewinnen. Dazu ist es nicht nötig mit Dreck zu werfen oder eine kranke Frau in die Enge zu treiben. Also bitte ich dich, nicht weiter über unsere Ehe-Probleme zu sprechen. (…) Ich freue mich rauszukommen, die Sonne zu sehen, mein Kind in die Arme zu nehmen, Tränen zu trocknen und das Leben zu geniessen.«
Ignaz an seine Freundin Sofia, März 2011:
»Ich hatte nun genug Zeit, die Situation der GmbH zu überarbeiten und neue Ideen zu entwickeln, um aus der Krise herauszukommen. (…) Schreibe mir nicht zurück, wir sehen uns bald.«
»Reiss dich mal zusammen und schreibe dringend schnell«
Walker wird in dieser Zeit immer wieder wegen Magenproblemen untersucht. Das Essen im Gefängnis rührt er nicht an. Auf einem Transport klappt er zusammen. Die Beamten vermuten, er simuliere einen Hungerstreik nur und esse heimlich die Portionen seiner Mitgefangenen. Walker dagegen sagt: »Der Stress schlug mir auf den Magen, ich musste alles auskotzen, was ich gegessen habe. Dann hatte ich Angst vor den Schmerzen und konnte nichts mehr essen, nichts mehr trinken. Ich habe nur noch gedacht: Ich will jetzt hier raus!«
Esther an ihren Bruder Ignaz, Mai 2011:
»Sofia macht das alles nicht mehr lange mit. Sie ist total mit den Nerven fertig und hat kaum die Kraft, sich um das Baby und das Geschäft und alles zu kümmern… Reiss dich mal zusammen und schreibe dringend schnell.«
Ignaz an alle Verwandten und Freunde, September 2011:
»Ich bin unschuldig, zumindest bei den Vorwürfen, die mir die Staatsanwaltschaft zur Last legt.«
Walker bleibt im Gefängnis. Eines Tages sieht er sich eine amerikanische Krimiserie an. Es geht um DNS-Beweise – und darum, wie schnell diese kaputtgehen, wenn sie in der prallen Sonne liegen. »Da habe ich mich gefragt: Wie kann es sein, dass meine DNS an einer abgefeuerten Hülse gefunden wird? Beim Abfeuern wird es doch extrem heiß.« Sein Anwalt beginnt zu forschen. Tatsächlich.
Das Forensische Institut Zürich stellt in einem Gutachten fest: »Wir haben in schätzungsweise 20 bis 40 Fällen Sicherstellungen von allfälligen DNA-Spuren an Hülsen vorgenommen, jedoch ohne je eine verwertbare DNA-Analyse zu erhalten.« Auch Experten in den Niederlanden, die mit hochentwickelten Verfahren arbeiten, haben bisher kaum verwertbare Ergebnisse gewonnen, wie das Schweizer Fernsehen später herausfindet.
Das, was dem Polizisten M. in Uri mit einem Wattestäbchen gelungen sein soll, könnte man eine forensische Sensation nennen. Mit anderen Worten: fast unmöglich. Dass ihm tatsächlich Walkers DNS vorliegt, ist kaum strittig. Die Frage ist allerdings, ob die Probe wirklich vom Projektil stammt.
2012 wird Walker vom Landgericht zu zehn Jahren Haft verurteilt. Die Zweifel an dem DNS-Beweis spielen da noch keine Rolle. Der angebliche Auftrags-killer, Sasa Sindelic, bekommt acht- einhalb Jahre. Sowohl Walker als auch Sindelic legen Berufung ein, Letzterer zieht sie aber später zurück. Walkers Fall kommt vor die nächsthöhere Instanz, das Urner Obergericht. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Bruno Ulmi sagt vor Gericht: Ignaz Walker, mit dem auch er in den Jahren zuvor immer wieder aneinandergeraten ist, habe »das Profil eines Höchstkriminellen«, seine Karriere spreche eine eindeutige Sprache. Außerdem erklärt Ulmi im Prozess: »Zu berücksichtigen sind nur jene Zweifel, die erheblich sind.«
Das Urner Obergericht verurteilt Walker 2013 zu 15 Jahren Haft.
Für Paul Jans, Werner Zgraggen und die meisten anderen Urner ist die Sache erledigt. In der überregionalen Presse beginnt der Fall erst jetzt. Die Rundschau des Schweizer Fernsehsenders SRF 1 lässt sich die Akten kommen. Forensische Sensation im Kanton Uri? Ausgerechnet beim Prozess gegen den berüchtigten Bordellbetreiber Ignaz Walker, der der Polizei seit Jahrzehnten auf der Nase herumtanzt?
Die Vorgeschichte im Cabaret, der Polizist M. und sein DNS-Beweis, wird neu aufgerollt. Wer zum ersten Mal von diesem Fall hört, kann es kaum glauben. Korruption, Schurkenstaat, diese ländlichen Regionen, Bananenrepublik. Im Inter- net sind sich Kommentatoren aus Basel, Weinfelden, Zürich einig wie selten.
Walkers Anwalt breitet nun auch andere Ergebnisse in den Medien aus: etwa dass die Kugeln aus der Tatwaffe eine derart schiefe Flugbahn haben, dass sie die Schaufensterpuppe in seinem Versuch in den Rücken trafen – wenn auf die Handtasche gezielt wurde.
Im Dezember 2014 entscheidet das Bundesgericht: Der Fall wird neu verhandelt, die DNS-Probe darf nicht mehr als Beweis verwendet werden.
Anfang Januar 2015 ändert Sasa Sindelic im Schweizer Fernsehen seine Aussage. Er sei Teil eines Komplotts gewesen, Ziel: Walker ins Gefängnis zu bringen. Urheber des Komplotts: Nataliya K. und ihr Freund Claudio V.
Ende Januar kommt Ignaz Walker frei. Er beginnt, ein neues Leben aufzubauen. Die halbe Stelle in Luzern, der gelbe Smart. Seine Freundin Sofia hat sich von ihm zurückgezogen. Sein Sohn Dennis, inzwischen vier Jahre alt, wächst zum Teil bei seiner Schwester Esther und ihrer Familie auf. Dennis ist rot-haarig, ein bisschen rundlich, ein Energiebündel. »Na, der kann den Vater nicht verleugnen«, murmelt einer, als der Kleine im Erstfelder »Hirschen« herumrennt, mit einem Smartphone Fotos macht und die Kellnerin charmant um eine zweite Limonade bittet. Esther seufzt. »Ignaz hätte sich mehr um die Familie kümmern können, das ist schon wahr. Aber eben. Es ist so vieles dazwischengekommen.« In den Wochen nach seiner Freilassung fährt Walker nur noch selten in seinen Heimatort.
Erstfeld, Bahnhof, einer der ersten heißen Tage des Jahres 2015. An der Gotthardstraße, Richtung Gotthardpass, sind Restaurants, Hotels, Supermärkte und Ortsverwaltung aufgereiht. Das Häuschen mit der abgeblätterten Aufschrift »Polizei« ist verlassen. Paul Jans, der sein Restaurant »Frohsinn« inzwischen an einen Chinesen verkauft hat, steigt ins Auto, das wie früher direkt hinter dem »Frohsinn« parkt. Er fährt vorbei an schnurgeraden grünen Wiesen und dunklen Holzhäusern. Im Hintergrund Tausende Meter hohe Berge, die jahrhundertelang den Zugang zur Außenwelt begrenzten.
Vor einem baufälligen Haus hält er an. »Hier ist er aufgewachsen. Sein Bruder, F., wohnt noch immer da.« Jans lacht. »Und dieses Holzgerüst, das ist auch schon ewig da. Ob je damit gebaut wurde? Ich sag immer, man sollte es als Kulturerbe unter Schutz stellen.«
Vor dem Haus rupft eine ältere Frau Unkraut. Jans legt den Rückwärtsgang ein. »Das ist die Mutter von Nataliya K., die jetzige Frau vom F. Wenn er jetzt auch noch rauskommt … Ich sag mal, der nächste Journalist, der bei ihm vor der Tür steht, bekommt sicher Ärger.«
Mit der Berichterstattung über Ignaz Walker ist auch seine Familie in den Fokus geraten: Esther, die seit Jahren unermüdlich zu ihm hält. Sein Bruder F., der ihn 2005 zur Hochzeit in die Ukraine begleitete und sich dort in die Mutter der Braut verliebte. Und sein Vater, der 2012 im Alter von 91 Jahren starb – acht Tage nachdem er sein Testament zu Ungunsten von Ignaz Walker geändert hatte. Ein handschriftliches Dokument, von dem nur F. wusste – und das F. erst vorlegte, als der Vater kremiert war.
Wenn es noch etwas brauchte, um das Bild vom Kanton Uri einzurahmen, dann das: Brüder, die Mutter und Tochter aus der Ukraine heiraten. Staatsanwaltschaften, die den Tod eines alten Mannes nicht richtig untersuchen. Ein letztes Heidelbeerdessert im Hause des Sohnes – der kurz darauf ein Testament zu seinen Gunsten hervorzaubert.
Bis heute streiten die Geschwister, ob das Dokument gültig ist. F. sagte bei der Polizei aus, er traue seinem Bruder einen Mord zu.
Paul Jans wartet an einer Vorfahrtsstraße, grüßt ein paar Radfahrer, eine Fußgängerin, ein entgegenkommendes Auto. Zwei Straßen weiter bleibt er wieder stehen. »Das ist es«, sagt er und deutet auf ein niedriges Häuschen: »Darum streiten sie sich.« Die Immobilie des Vaters sieht, vorsichtig gesagt, nicht besonders wertvoll aus. Jans schüttelt den Kopf. Versteh einer den Chalchi.
Am Abend die Nachricht: Ignaz Walker ist erneut festgenommen worden. Jans schickt eine SMS: »Wird wohl wieder etwas ausgefressen haben.«
Jans liegt falsch. Die drei Monate, die Walker in Freiheit verbracht hat, verliefen ruhig. Dass er festgenommen wurde, hat einen anderen Grund: Die Behörden fürchten, Walker könne Zeugen beeinflussen, Beweise manipulieren.
Für die Urner Justiz ist der Fall mehr als unangenehm. Etwa 250 Franken pro Tag werden für ungerechtfertigte Haft veranschlagt, sagt Walkers Anwalt. Sein Klient habe inzwischen mehr als 1500 Tage im Gefängnis gesessen. Dazu Anwaltskosten, Unterbringung – und die psychischen und wirtschaftlichen Folgen für Walker. Jeder Einzelne der 30 000 Einwohner von Uri kann sich ausrechnen, was ihn die Sache gekostet hat.
Sasa Sindelic tritt im Juni 2015 erneut im Schweizer Fernsehen auf und beschreibt das Komplott in seinen Details. Es sei um Geld gegangen, 60 000 Franken habe er sich erhofft. Geschossen habe ein anderer – den Namen will Sindelic nicht öffentlich machen, nur das Schweizer Fernsehen kennt derzeit noch den Namen. Eine Staatsanwältin aus Obwalden, die zu Beginn gegen Sindelic ermittelt hat und den Fall später nach Uri abgeben musste, erklärt öffentlich, sie habe schon damals Zweifel an dessen Täterschaft gehabt.
Thomas Imholz, Oberstaatsanwalt und Nachfolger von Bruno Ulmi, ist anderer Meinung: Die neuen Aussagen von Sindelic seien Teil einer »Hetzkampagne« und besäßen »unbestrittenermaßen keinerlei Beweiswert«. Durch das Urteil des Bundesgerichts müsse man eben auf die DNS verzichten, die Schüsse auf den Niederländer P. und jene auf Nataliya K. getrennt betrachten. Es gebe aber immer noch eine Fülle von Indizien, die gegen Walker sprächen.
Gerüchte, wonach Sasa Sindelic bedrängt werde, nicht weiter von einem Komplott gegen Ignaz Walker zu sprechen, werden laut.
Der Gemeindepräsident Werner Zgraggen ist kein stiller Typ. Doch jetzt sagt er lange nichts. Dann nickt er nachdenklich. »Dass Sindelic zum Schweigen gebracht werden soll? Ja, sicher, das ist möglich. Nataliyas Freund Claudio V. wird sicher keine Freude haben im Moment.« Und von offizieller Seite? Aus der Urner Justiz? »Ja. Auch das kann sein. Ich weiß es nicht.«
Einiges lasse ihn an der bisherigen Version zweifeln: Walker sei als sehr intelligent bekannt. Und er habe durch seine Arbeit im Rotlichtmilieu Kontakt zu Kriminellen gehabt, zu Profis. Begeht so einer eine Tat, die sofort auf ihn zurückfällt? Hat so einer nur eine umgebaute Schreckschusspistole zur Hand? Zgraggen sagt: »Es ist sicher so: Man hat von Anfang an angenommen, er war es. Viel anderes hat man nicht gesucht.« Es ist Juli 2015. Ein Politiker des Kantons geht offiziell auf Distanz zur Justiz.
Am 19. Oktober 2015, wenn die Verhandlung gegen Ignaz Walker neu eröffnet wird, werden die Schüsse auf seine Ex-Frau fast fünf Jahre her sein. Zwei Monate vor dem Prozessbeginn kommt Bewegung in den Fall. Das Obergericht hat fast alle Beweisanträge der Verteidigung zugelassen.
Der inhaftierte Schütze Sasa Sindelic wird als Zeuge befragt. Das Spurenbild am Tatort wird mit seinen Aussagen abgeglichen. Die Schüsse auf Nataliya K. werden nachgestellt. Ein Beweisantrag von Walkers Anwalt wird abgelehnt. Darin geht es um das Motiv von Ignaz Walker: Vor Gericht wurde angeführt, Walker habe zugunsten seines Sohnes auf das Erbe seines Vaters verzichtet. Allerdings habe Walker gedacht, er könne nach dem Tod von Nataliya K. wieder über das Geld verfügen. Doch eine Notiz vom Juli 2010 belegt, dass Walker wusste, dass nicht er, sondern die Vormundschaftsbehörde im Erbfall über das Geld verfügen würde. Ein zentrales Tatmotiv wäre damit vom Tisch.
Man könnte sagen: Der Kanton Uri wird über seine eigene Rechtsprechung befinden. Am 22. September 2015 kommt Ignaz Walker erneut frei. Er darf die Gemeinde Erstfeld nicht betreten und zu vielen der beteiligten Personen keinen Kontakt aufnehmen.
Vor dem Untersuchungsgefängnis warten an jenem Dienstag der Entlassung sein Anwalt und einige Journalisten auf ihn. Walker, weinrotes Hemd, blau glitzernde Krawatte, schlecht sitzender Anzug, schiebt einen kleinen Wagen zum Auto seines Verteidigers: eine Reisetasche, zwei Pappkartons, eine Supermarkttüte. Ein Buch, auf dessen Titel das Wort »Menschenkenntnis« vorkommt, ein Medikament gegen Magenkrämpfe. Seine roten Haare kurzgeschoren, seine Haut schlecht, unterhalb des Wangenknochens eine dicke, blau unterlaufene Stelle.
Er wolle »hier weg«, sagt Walker, Journalisten fahren dem Jeep seines Anwalts hinterher. Auf einem Parkplatz, einen Kilometer vom Untersuchungsgefängnis entfernt, gibt Walker einige kurze Interviews. »Ich bin zuversichtlich«, sagt er immer wieder.
Mitarbeit: Carmen Epp; Illustrationen: Benjamin Güdel