Die Tage gab es Trichomonaden, Tripper, Syphilis und Feigwarzen zum Frühstück. Mein kleiner Sohn, elf ist er, hatte sie neben seinem Kakao ausgebreitet. »Feigwarzen werden«, nuschelte er mit dem Müsli zwischen den Zähnen, »durch das Humane Pa-pi-loooma-Virus hervorgerufen.« Dann packte er die Spickzettel in seinen Rucksack und schrieb eine 3 in Sexualkunde. Er hatte leider den Unterschied zwischen einem Fötus und einem Embryo nicht gerafft und einen »großen Po« für ein hinreichendes sekundäres Geschlechtsmerkmal von Frauen gehalten. Immerhin hat er eine sehr humorvolle Lehrerin, die schrieb: »Das reicht noch nicht aus, auch wenn der von Jennifer Lopez sehr hübsch ist.« Daneben lachte ein Smiley aus roter Tinte.
Mein großer Sohn kam gestern vom Schulausflug »Präventionsworkshop für sexualisierte Gewalt« zurück. Da hatten zwei Männer, die sexuell missbraucht worden waren, »uns bisschen was erzählt und wir konnten dann Fragen stellen«. Die Mädchen waren in einem anderen Workshop. »Und«, habe ich, interviewtechnisch gut geschult, also hyperzurückhaltend, gefragt, »das war doch bestimmt hart, oder?« Ja. Hat er gesagt. Schon klar. Er wollte lieber weiter an seinen Chicken Wings nagen und Justin Bieber hören, Love Yourself. Als sein Freund neulich erzählte, er habe nach einem dreiviertel Jahr mit seiner Freundin Schluss gemacht, die sei nämlich »spätreif« und wolle nicht knutschen. Da hat mein Großer, 13 ist er, zu ihm gesagt: »Was meinst'n mit Knutschen?«
Mhm. Ich finde es ja wichtig, dass man Menschen aufklärt. Das sollte man, das liegt in der Natur der Sache, machen bevor es zu spät ist. Und natürlich entwickeln sich die Menschen in unterschiedlichem Tempo. Außerdem, das verkompliziert den ganzen Aufklärungskomplex noch mal, entwickeln sich Kinder meist heimlich. Also meine zumindest. Vor allem der Große. Der nicht oft viel redet. Für mich fühlt sich das manchmal an, als murkele sich da was unter einem Teppich entlang, Wochen, Monate, Jahre, und manchmal kommt es hochgebloppt und gibt sich ganz kurz in all seiner Schönheit zu erkennen und ich denke: Wow! Dieser prächtige junge Mensch, das ist mein Sohn: so schlau, so witzig, so mitfühlend und so gut informiert!
Beim Autofahren neulich, wenn mehrere Kinder hinten sitzen und sich unterhalten als wär die Fahrerin Luft. Da wurde mir klar: dirty talken können die jungen Herrschaften rück-, vor- und seitwärts. Aber trotzdem ist es so, dass ich und der Kleine, wir gemeinsam, ihm Ohren und Augen zuhalten, wenn es zu expliziten Sex-Szenen in einem Film kommt, denn er ruft dann immer: »Ich will das nicht sehen!«
Mich beschäftigt diese fehlende Übereinstimmung von Wissen und Spüren. Großes Thema, in jeder Hinsicht. Was hab ich im Kopf? Und kann ich das mit gelebter Erfahrung verbinden? Oder eben nicht? Was die Sexualität betrifft, ist mangelndes Embodiement ja ganz besonders schade. Ich gehöre auf keinen Fall zur anscheinend wachsenden Zahl von Eltern, die Sexualkunde-Unterricht für Schweinkram halten. Aber ich fände es ja so unfassbar schön, wenn der Mensch, jeder, die mit dem Körper verbundenen Empfindungen und Ausdrucksmöglichkeiten auf seine ihm eigene Weise entwickeln könnte. Spüren. Und benennen. Äußern. Und dann mit anderen erleben. Wie es ihm und ihr gefällt. Stattdessen werden da wieder Begriffe und Bilder auf diese kleinen Menschen drauf gepfropft, lang bevor ihre Erfahrungen sich selbst entfalten könnten. Was tun?
Es gibt Sexualforscher, die fordern ein Schulfach: Liebe. Da könnte man lernen, seine Gefühle und Wünsche zu benennen und sie den Anderen zu vermitteln. Und dass Sex nicht entweder geil oder ungewollt schwanger oder missbraucht oder Trichomonaden bedeutet. Sondern Kommunikation. Ich fände das spitze und fordere das auch! Damit nicht noch mehr verhackstücktes Fragmentwissen an die Menschen heran getragen wird. Als ich das Schaubild »Primäre Geschlechtsmerkmale« abfragen sollte, sagte mein Kleiner: »Die Nebenhoden brauch ich nicht, ich muss das eh nur für den Test auswendig lernen.«