Fest im Blick

Viele Menschen haben ein neues Feindbild: Leute, die auf der Straße beim Gehen auf ihr Handy schauen. Aber was soll daran verwerflich sein?

Fesselnd: Immer wieder hat das Handy etwas Neues zu bieten, mit dem man gar nicht gerechnet hat.

Die schönste Art, durch die Stadt zu gehen, ist, dabei aufs Telefon zu schauen. Und einen Artikel zu lesen, ein Spiel zu spielen, Mails zu checken oder ein bisschen in einem Netzwerk zu plaudern. Leider ist diese Art der Fortbewegung nicht bei allen Menschen gleich beliebt. Oft kommen einem die Menschen, die es besonders hassen, wenn man beim Gehen aufs Telefon schaut, ausgerechnet dann entgegen, wenn man beim Gehen aufs Telefon schaut. Sie rufen dann gern »Zombie!«, das hat sich so eingebürgert. Im Gegensatz zum angeblichen Modewort »Smombie« für Smartphone-Zombie. Aber bin ich wirklich ein Zombie, wenn ich mit Telefonblick unterwegs bin? Warum macht es die einen Menschen so wütend, und was ist so schön daran für die anderen?

Natürlich wäre es unsinnig, etwa bei der Besichtigung einer neuen ­ Stadt oder bei der Durchquerung eines unbekannten Stadtteils aufs Telefon zu schauen, von der Natur ganz zu schweigen, falls ich dort ihren Anblick genießen will und nicht nur die gute Luft. Ich möchte mich ja zurechtfinden oder was Neues sehen. Aber dann ist da der Fußweg zur S-Bahn, zum Büro, zur Kita, um das Kind abzuholen, zum Einkaufen, all diese Fußwege, die immer gleich sind, bei denen ich jede Ampelphase, jede Bordsteinsenkung, jeden Radwegverlauf und jeden Parktrick quer stehender Autos kenne. Und wo ich ungefähr weiß, wie viele Leute mir da überhaupt entgegenkommen. Wir reden hier über deutsche Großstadtgehwege abseits von touristischen Attraktionen und Großveranstaltungen. Auf meinen Strecken verändert sich selten etwas, im Telefon ist das anders, dort ist immer was Neues los. Manche nennen es Informationsüberfluss, Nachrichtenstress, ich nenne es: interessant.

Oft habe ich gerade beim Gehen Zeit, mich mit Dingen zu beschäftigen, die zehn bis zwanzig Minuten dauern und für die ich bei der Arbeit oder zu Hause, wenn die Kinder da sind, keine Gelegenheit habe. Ein WhatsApp-Chat mit abwesenden Freunden, eine Diskussion in Social Media, die Besichtigung einer Reihe von Urlaubsfotos, die meine Cousine mir geschickt hat. Warum sollte ich das nicht auch im Gehen tun? Die Literatur­wissenschaftlerin Berit Glanz hat diese Praxis in einem Essay für 54books so beschrieben: »Der öffentliche Raum gehört den Menschen, die sich dort aufhalten, ob sie mit gesteigerter Sensibilität nach Bildern für ihren Instagramfeed suchen, alltagbeobachtend im Kopf Tweets formulieren, versuchen ihre 10 000 täglichen Schritte zu erreichen, das ein oder andere Pokémon fangen, oder eben andere bei ihrem fluiden Wechsel zwischen Vir­tualität und Realität bewerten und beobachten.« Wir bewegen uns ­alle mit gleichem Recht in diesem öffentlichen Raum – mit dem ­Unterschied, dass nur einige von uns als Zombies bezeichnet werden.

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Betörend: Selbst wenn man sich dem, was aus dem Smartphone kommt, ganz entziehen wollte – es ginge nicht. 

Insbesondere Frauen berichten, dass sie beim Gehen auch noch aus einem anderen wichtigen Grund aufs Handy schauen: um nicht von entgegenkommenden Männern angequatscht zu werden und um ­einen unangenehmem Augenkontakt gar nicht erst entstehen zu lassen. Das erste Problem habe ich nicht, das zweite manchmal auch, und ich gebe zu: Ich genieße es, beim ­Handy-Gehen in meiner Welt zu sein. Mag sein, dass ich abhängig von meinem Telefon bin, oder süchtig, aber genauer gesagt heißt das ja: Ich bin abhängig von einer Welt, die ich mir darin selbst geschaffen habe. Apps, Texte, Musik, Bilder. ­An vielen Orten, von denen ich komme und zu denen ich hin muss, gestalten andere mir die Welt, ob es bei der Ärztin ist oder wenn ich mein Fahrrad von der Frühjahrsinspektion abhole. Immer bestimmen andere, was los ist und wie das läuft. In meinem Telefon entscheide ich, was ich sehe und wie lange.

Natürlich ist es nicht ungefährlich, wenn Menschen aufs Handy schauen, während sie sich damit draußen bewegen. In den USA kursiert die magische Zahl 11 000. Nach einer ersten Erhebung gab es dort Anfang der 2000er-Jahre so viele Unfälle beim Handy-Gehen innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren. Inzwischen beträgt die Zahl angeblich 11 000 Unfälle pro Jahr, die beim Gehen durchs Handy verursacht werden. Alles, was man in der Presse findet, sind daher Tipps darüber, wie man es schafft, beim Gehen nicht aufs Handy zu schauen. Was aber, wenn eine Person sich wie ich und viele andere beim Gehen gar nicht vom Handy losreißen will?

Ich glaube, für die Aggression, die gehenden Menschen mit Handy entgegenschlägt, gibt es mehrere Gründe. Und es ist Aggression: Der deutsche Medienwissenschaftler Roberto Simanowski rief in der Neuen Zürcher Zeitung 2017 dazu auf, sich Menschen, die mit Telefon gehen, in den Weg zu stellen. Ein Grund für diese Aggression ist das in unserer Kultur tief verwurzelte Bedürfnis, anderen gegenüber recht zu haben und sie darauf hinzuweisen, dass sie im Unrecht sind. Auf diesem Prinzip beruhen die politische Rhetorik in Deutschland, das Talkshowsystem sowie die Kommentarpraxis auf Internetseiten und in sozialen Medien. Wo nun könnte man dem anscheinend mit noch mehr Berechtigung nachgehen, als wenn einem ein Mensch entgegenkommt, der aufs Telefon schaut?

Also schnauzen oder pfeifen andere einen an, und gern, davon erzählen vor allem Handy-Geherinnen, klatschen sie, wenn sie ganz nah sind, laut und demonstrativ in die Hände. Das heißt, es geht ihnen, genau wie beim »Zombie!«-Ruf, nicht nur darum, das Handy-Gehen zu kritisieren und auf ­dessen Gefahren hinzuweisen, sondern auch darum, das ­Vergnügen der Entgegenkommenden zu stören.

Überraschend: Na, gibt es irgendwelche Neuigkeiten? Ja, sogar sehr viele!

Dies hat auch eine politische Dimension, nämlich das ­Bedürfnis, zu bewerten und zu kontrollieren, wie andere Menschen sich im öffentlichen Raum bewegen. Oder, in den Worten der Literaturwissenschaftlerin Berit Glanz: »Das Gerede von Smombies, die in ihr Smartphone starrend die Sinnlichkeit des öffentlichen Raums verpassen, ist eine reaktionäre Argumentationsfigur, die auch dem Zorn darüber zu verdanken ist, dass sich viele Menschen nicht mehr den etablierten Blickregimes unterwerfen, den Blick zurück verweigern und sich stattdessen teilweise in den virtuellen Raum zurück­ziehen.« Ein möglicher Grund für diesen Zorn ist auch, denke ich, dass Leute, die selbst ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem Telefon haben und sich versagen, ständig, wie sie es nennen, »daran rumzufummeln«, aggressiv reagieren auf Menschen, die ein eher entspanntes oder realistisches Verhältnis zu dem Gerät haben und es darum auch beim Gehen benutzen ­können und möchten.

Wo wäre eigentlich der Unterschied, wenn ich mit einem Buch durch die Gegend liefe? Würden Menschen mich ­anklatschen oder Radfahrer mir »Bist du lebensmüde?!« ­zurufen? Einerseits hätten sie mehr Grund dazu, denn das landläufige Buch ist größer als ein Mobiltelefon und verdeckt daher mehr vom Gesichtsfeld. Andererseits rührt die Menschen traditionell der Anblick eines lesenden Menschen, man gilt dann als »Bücherwurm«. Wenn beispielsweise in Wien jemand ein Buch auf der Straße liest, steht am nächsten Tag in der Zeitung Die Presse eine liebevolle Lokalglosse über den Vorgang.

Allerdings gibt es eine Parallele zwischen dem Buch und dem Handy beim Gehen: Man orientiert sich dabei auf ganz ähnliche Weise. Die Autorin Anna Burns gewann vor zwei Jahren als erste Nordirin den britischen Man Booker Prize mit ihrem Roman Milchmann, in dem es um eine 18-Jährige zu Bürgerkriegszeiten in Belfast geht. Die junge Frau hält sich ihre Umwelt vom Leibe, indem sie beim Gehen Romane des 19. Jahrhunderts liest (»weil ich das 20. nicht mochte«), sie nennt dies »reading-while-walking«. Sie orientiert sich beim »Lesen im Gehen« dadurch, dass sie am Rand des Gesichtsfelds »Orientierungspunkte abhakt«: »Nach einer Seite un­gefähr hielt ich inne, um zu schauen, wo ich war«. Andere werfen ihr vor, sie würde ihre Umgebung ignorieren und ihr »Bewusstsein abschneiden«, was in etwa das Gleiche ist, wie jemanden Zombie zu nennen. Aber gerade das periphere Wahrnehmen der Umgebung ist eine Kulturtechnik, die jahrhundertelang Menschen kannten, die beim Gehen Zeitung oder ­Bücher lasen, und die nun von denen vervollkommnet wird, die das Handy beim Gehen nutzen.

Tatsächlich ist erstaunlich, wie sehr man beim Bildschirmgucken wahrnimmt, ob und wer einem entgegenkommt und ob dieser Mensch einen anmeckern oder einem ausweichen wird. Nicht, dass Telefon-Geherinnen und -Geher automatisch erwarten, dass andere ihnen ausweichen. Es ist nur so, dass immer zwischen Menschen, die einander auf dem Trottoir begegnen, in Sekundenschnelle eine unsichtbare Verhandlung darüber stattfindet, wer wem wie ausweicht. Dies klappt in den allermeisten Fällen, es sei denn, die Entgegenkommenden gehören zu jenem Schlag Menschen, der auf seinem eingebildeten Wegerecht beharrt und nie Platz macht. Ich vermute, dass genau diese Menschen, die selbst nie ausweichen, klatschen, schimpfen oder rempeln, wenn ihnen jemand mit Handy entgegenkommt.

Besonders angenehm ist mir als Handy-Geher die stumme und blicklose Begegnung mit anderen Menschen am Handy, die meines Weges kommen. Manchmal wird wohlwollend gelächelt, aber immer versetzt, nie mit Blickkontakt, denn beide Seiten sind zu vertieft in ihre jeweilige Welt. Noch nie bin ich zusammengestoßen oder hatte Probleme mit einer Person, die beim Gehen auch am Handy war. Wir gleiten aneinander vorbei wie Schiffe, die einander in der Nacht passieren, lebende Schatten, es hat etwas großstädtisch Romantisches. Oder mal ganz einfach gesagt: Wir nehmen Rücksicht. Absichtlich, aber unbewusst. So, wie man sich in der Stadt bewegt, wenn man Respekt vor anderen hat.

Weil es genug Menschen gibt, die für so was wie Respekt und Einfühlungsvermögen keine Zeit haben, gibt es erste Bestrebungen, den Handy-Gehenden eigene Fußwegbahnen zur Verfügung zu stellen, damit sie langsamer schlendern können, ohne andere aufzuhalten oder sich und andere zu gefährden. Die englische Stadt Manchester hat im vorigen Herbst damit den Anfang ­gemacht. Ich finde das okay für touristisches oder shoppendes Handy-Gehen, aber das routinierte Handy-Gehen braucht keine festen Wege. Und, würde ich sagen, auch keine Sicherheitstipps, denn wer einen Weg ein paar Dutzend Male gegangen ist, kennt dessen Gefahren. Und von einem schnellen Fahrrad oder hastig einparkenden Auto kann man auch umgefahren werden, wenn man nicht aufs Telefon, sondern in den grauen Himmel oder das Schaufenster der chemischen Reinigung schaut.

­Ich war deshalb etwas amüsiert über die Tipps einer US-Sicherheitswebsite, wie etwa: die Straße mit Handy nur an passenden Stellen überqueren, also Ampeln. Aber einen Tipp finde ich sehr gut: das Telefon relativ hoch halten, um entgegenkommende Risiken besser sehen zu können. Tatsächlich erweitert sich das Gesichtsfeld, wenn man das Telefon beim Gehen statt auf Bauch- eher auf Kinnhöhe am leicht abgewinkelten Arm hält. Ein weiterer Vorteil: Die leicht demütigende und auf Dauer Nacken schwächende Haltung des Ver­neigens zum Handy bleibt einem erspart. Vor allem aber macht man die Telefonnutzung im Gehen noch offensichtlicher für andere Menschen, sodass sie mehr Gelegenheit haben, ihrerseits mal Rücksicht zu nehmen und auszuweichen. Und auch noch viel mehr Gelegenheit, sich vom nun demonstrativ ausgestreckten Geh-Handy provoziert zu fühlen. Es möge sie abhärten, denn sie werden sich daran gewöhnen müssen.