SZ-Magazin Herr Lahm, tut es gut, vermisst zu werden?
Philipp Lahm Ich habe mich nicht gefreut, dass meine Kollegen in den letzten beiden Spielen nicht erfolgreich waren, falls Sie das so gemeint haben.
Verfolgen Sie die Qualifikationsspiele für die Europameisterschaft überhaupt?
Das erste habe ich nicht gesehen, da bin ich mit meiner Frau übers Wochenende verreist und war gerade beim Abendessen. Die Niederlage gegen Polen und das Unentschieden gegen Irland schon. Ich will ja mitreden. Wobei ich schon sicher bin, dass wir uns locker qualifizieren werden.
Sie sprechen noch von »wir«?
Ach, ich würde auch von »wir« sprechen, wenn es um Leichtathletik ginge. Alle reden doch von unserer Nationalmannschaft von 1974, als wir Weltmeister geworden sind. Ich freue mich jetzt schon darauf, die nächste EM mit Freunden beim Grillen anzuschauen. 2002 war das letzte Turnier, das ich am Fernseher verfolgen konnte.
Die vielen Reisen werden Sie nicht vermissen?
Aserbaidschan oder Kasachstan werden mir nicht fehlen. Nicht dass es da hässlich gewesen wäre, aber was soll ich da ohne Fußball? Die Reisen waren das Anstrengendste beim DFB. Man darf sich das auch nicht so vorstellen, dass wir kurz ins Taxi springen könnten, um uns die Sehenswürdigkeiten einer Stadt anzuschauen. Unsere Hotels werden belagert. Wenn man rausgeht, wird man erkannt und bestürmt, das setzt einen unter Stress. Also lässt man’s lieber sein.
Keine Flucht durch den Hinterausgang?
Ich bin nicht der Typ für so was. Ich bin schon neugierig auf fremde Länder, aber das waren ja immer Dienstreisen, auf denen wir uns auf Fußball konzentrieren mussten.
Ist es nicht seltsam, nach fünf Wochen Brasilien oder Südafrika zu Hause nur erzählen zu können, wie die Kabinen in den Stadien aussehen?
In Kapstadt haben wir mal eine kleine Stadtrundfahrt gemacht, anderthalb Stunden oder so. Und von Brasilien hab ich ja durchaus was gesehen: Wir haben in so vielen unterschiedlichen Städten gespielt, da kriegst du auf den Busfahrten vom Flughafen zum Hotel schon einen Eindruck.
Wie haben Sie die Zeit in den Hotels totgeschlagen?
Bücher sind wichtig. Zuletzt hab ich zwei Romane von Harry Kämmerer gelesen, die spielen in München, der eine dreht sich sogar um Fußball. Ich hab mir jetzt drei weitere von ihm schicken lassen. Abends an der Bar spielen wir schon mal Poker oder Schafkopf.
Wer kann schafkopfen in der Nationalmannschaft?
Nicht mehr viele. In Brasilien haben Thomas Müller, Manuel Neuer, Mats Hummels und ich gespielt. Aber der Unterschied zwischen Schafkopf und Skat ist nicht so groß, deshalb haben Thomas Müller und ich uns manchmal beim Skat eingeklinkt, wenn die Betreuer in großer Runde gespielt haben.
Sind Sie gut im Schafkopf?
Überragend.
Findet Thomas Müller das auch?
Ich glaube schon. Aber er spielt auch nicht schlecht.
Wie hoch ist der Tarif in der Nationalmannschaft?
Ich werde jetzt bestimmt nicht den Tarif bei der Nationalmannschaft offenlegen. Aber wenn ich mit Freunden am Tegernsee spiele, dann liegt er bei zwanzig Cent fürs Sauspiel und fünfzig Cent fürs Solo.
Wie weit kann man sein Leben denn überhaupt offenlegen als Prominenter? Verkleiden Sie sich, wenn Sie durch die Stadt laufen?
Ich verkleide mich nur an Fasching. Zum Einkaufen gehe ich ganz normal.
Steht Lahm auf Ihrem Klingelschild?
Nein.
Irgendein anderer Fußballername? Einer Ihrer Kollegen beim FC Bayern soll »Cantona« an der Klingel stehen haben.
Bei mir steht kein Name eines Fußballers. Aber wenn ich jetzt verraten würde, was auf meinem Klingelschild steht, hätte ich ja gleich Lahm draufschreiben können.
Viele Spieler wechseln ständig ihre Handynummer. Sie auch?
Ziemlich oft, die jetzige hab ich gerade mal ein halbes Jahr. Manchmal muss ich meine Nummer rausgeben, wenn ich einen Rückruf erwarte, bei Handwerkern oder bei Bestellungen, die wird leider oft weitergegeben. Dann rufen plötzlich wildfremde Menschen an.
Wer ruft denn an? Frauen?
Eher Kinder.
Sie wissen schon, dass Sie ein Frauentyp sind?
Ein Frauentyp, ich? Wer sagt das?
Allein aus unserer Redaktion drei Kolleginnen. Viele Frauen schwärmen für Sie.
Beim Autokorso nach der Meisterschaft 2010 saß ich mit Thomas Müller und Jörg Butt in einem Wagen. Dem Jörg haben die Betrunkenen »Butt, Butt, Butt!« zugerufen. Die Frauen im besten Alter haben nur Augen für Thomas Müller gehabt. Bei mir haben die Kinder und die über Sechzigjährigen gerufen: Oh, toll, der Philipp!
Halten Sie sich für einen sensiblen Kapitän?
Ja, doch. Aber ich weiß auch nicht, ob ich immer das richtige Gespür für die Probleme meiner Mitspieler bewiesen habe. Ich habe es jedenfalls versucht.
Sensibilität ist eine Eigenschaft, die sich Ihre Vorgänger im Amt des Kapitäns nicht unbedingt zugeschrieben hätten.
Weiß nicht. Vielleicht ist jeder auf eine andere Art sensibel.
Grüßen Sie Michael Ballack, wenn Sie sich heute über den Weg laufen?
Natürlich. Ich war ja auch bei seinem Abschiedsspiel. Ob Sie es glauben oder nicht: Das Verhältnis ist total entspannt.
Bei der WM 2010 hat der Manager von Michael Ballack die Nationalmannschaft »Schwulencombo« genannt. Warum haben Sie darauf als Kapitän nicht reagiert?
Warum sollte ich? Ich war damit nicht gemeint. Auf so einen Angriff müssen andere reagieren, sicher nicht der Kapitän. Es gibt ja auch noch einen Verbandspräsidenten, einen Manager, einen Trainer, erst dann kommen irgendwann die Spieler.
Können Sie denn mit der Unterstellung leben, Sie hätten Michael Ballack beim DFB abgesägt?
Ich war weder derjenige, der ihn vor der WM verletzt hat, noch war ich derjenige, der entscheidet, ob ein Spieler nominiert wird oder nicht. Ich habe ihn nicht abgesägt. Ich weiß das, und alle, die sich auskennen, wissen es auch.
Bei der EM 2008 war die Stimmung schlecht, weil sich jüngere Spieler durch Michael Ballack und Torsten Frings, die Führungsspieler alten Typs, nicht gut repräsentiert sahen. Haben Sie daraus Lehren gezogen für Ihre spätere Zeit als Kapitän?
Eine Lehre war sicher: Wenn man sich zusammensetzt, dann kann auch wieder was entstehen – selbst wenn nicht alle Probleme an- oder ausgesprochen werden. 2008 haben wir nach der Vorrunde offen über vieles gesprochen und so etwas bewegt. Das haben wir 2012 im Mannschaftsrat auch angestoßen, perfekt gelungen ist es da noch nicht, so ehrlich muss man schon sein.
Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Länderspiel im Februar 2004 gegen Kroatien? Ihre erste Ballberührung in der Nationalmannschaft war ein Fehlpass.
Hab ich vergessen. Das ist zehn Jahre her und weit weg, gefühlte 500 Spiele liegen dazwischen. Ich glaube, mein Gegenspieler hieß Dario Kranjcar, dem bin ich danach noch öfter begegnet. Das zweite Tor von Carsten Ramelow nach einem Pass in den Rückraum habe ich auch noch vor Augen.
Erinnern Sie sich an Ihr erstes Länderspiel-Tor?
Das fällt mir nicht schwer, ich habe nur fünf gemacht: gegen Rumänien, Costa Rica, die Türkei, Bosnien-Herzegowina und Griechenland. Dabei zähle ich die Tore gar nicht zu den persönlichen Höhepunkten, da sind andere Szenen viel präsenter, zum Beispiel wie ich die Betreuer umarmt habe nach dem WM-Gewinn, oder wie Olli Kahn 2004, als wir nach der Vorrunde ausgeschieden sind, zu mir kam und sagte: »Junge, an dir lag’s nicht.« Da war ich gerade mal zwanzig.
»Man wächst langsam in so eine Rolle hinein und entwickelt allmählich ein Gespür dafür.«
Versuchen Fußballspieler, sich vor jedem Spiel eine perfekte oder besonders schöne Spielsituation ins Gedächtnis zu rufen, um sich so wie beim autogenen Training aufzubauen?
Perfekt gibt es nie im Fußball, dazu gibt es viel zu viele unterschiedliche Spielsituationen. Schöne Augenblicke gab es viele in 113 Länderspielen. Aber auch die gehen mir nicht vor einem Spiel im Kopf um. Da nehme ich mir nur vor, aggressiv zu sein und die ersten Duelle gleich zu gewinnen.
Als Sie zur Nationalelf stießen, war Oliver Kahn Kapitän. Hat er Sie beiseite genommen und Ihnen erklärt, auf was Sie achten müssen?
Nein, so läuft das nicht, das bekommt man alles einfach mit. Man sitzt beim Essen und fragt: »Müssen wir immer das Gleiche anziehen?«
Gehört es nicht zu den Aufgaben eines Kapitäns, die jungen Spieler einzuführen?
Es gibt in der Nationalelf keine absurden Regeln, die man erläutern müsste. Wenn es um neun Essen gibt, geht man zum Essen. Es ist eher so, dass mir meine Frau im Urlaub erst wieder erklären musste, dass man nicht Punkt sieben erscheinen muss, wenn die Küche ab sieben geöffnet ist.
Aber die Nationalhymne haben Sie lernen müssen.
Die habe ich schon in der Schule auswendig gelernt. Als Kind habe ich ja viele Länderspiele bei meinen Großeltern gesehen, da habe ich die immer mitgesungen.
Was haben Sie als Kapitän der Nationalmannschaft anders gemacht als Ihre Vorgänger Oliver Kahn und Michael Ballack?
Wir sind sicherlich sehr unterschiedliche Charaktere, mein Stellvertreter Bastian Schweinsteiger und ich sind uns viel ähnlicher, aber auch wir beide werden das sicherlich unterschiedlich gemacht haben. Man wächst langsam in so eine Rolle hinein und entwickelt allmählich ein Gespür dafür.
Waren Sie 2014 ein besserer Kapitän als bei der EM 2012 und der WM 2010?
Das kann ich nicht beurteilen, aber ich kann es mir vorstellen. Ich besaß mit dreißig sicherlich mehr Erfahrung, wie man auf unterschiedliche Charaktere eingehen kann, als mit 26. Ich habe 2014 all meine Energie eingebracht, weil ich ja wusste, dass die WM mein letztes Turnier mit der Nationalmannschaft werden würde. Ich habe alles klarer angesprochen als vier Jahre zuvor, in allen Bereichen, dem Trainer gegenüber wie der Mannschaft.
Was muss ein Kapitän klar ansprechen?
Kommunikationsprobleme zum Beispiel, die gab es selten und waren alle lösbar. Vor allem bei der WM 2010, wo die ganze Mannschaft einen super Teamgeist hatte.
Spricht man schon von einem Kommunikationsproblem, wenn zwei Spieler sich auf dem Platz anschnauzen?
Einfach gesagt, ja. Aber nicht jeder Rüffel nach einem schlechten Pass muss vom Kapitän zur Sprache gebracht werden.
Bei der EM 2012 hat Bastian Schweinsteiger bemängelt, nicht alle Ersatzspieler hätten mitgefiebert. Spricht so etwas der Kapitän an oder macht das der Trainer?
Mitunter muss sogar der ganze Mannschaftsrat überlegen, wie wir die wieder einfangen. Braucht jemand eine klare Ansage oder muss man ihn nur im Training besser motivieren? Es ist ein Miteinander, das mehrere betrifft. Wir hatten ja fünf gestandene Spieler im Mannschaftsrat, wenn da drei daraus auf einen Einzelnen zukommen, macht das schon Eindruck. Wenn allerdings einer aus dem Mannschaftsrat den besten Zugang zu einem Spieler besitzt, dann redet der allein mit ihm. Ich hatte das Glück, einen tollen Mannschaftsrat zu haben und in Basti einen Spieler, mit dem ich mich über alles austauschen konnte.
Klingt, als ob es beim DFB fünf Kapitäne gegeben hätte, die gemeinsam die Verantwortung getragen hätten?
Es hört ja nicht damit auf, einzelne Spieler wieder einzufangen. Viele Gespräche habe ich allein führen müssen, bei denen mir niemand helfen konnte: mit dem Trainerstab, dem Präsidenten, der Delegation. Der gesamte Stab ist ja viel größer geworden seit 2004. Allein vierzig Betreuer waren in Brasilien dabei, vom Zeugwart bis zu den Physiotherapeuten sind alle wichtig für die Stimmung, und ich musste jedem das Gefühl geben, dass er mit einem Problem zu mir kommen kann.
Was beredet ein Kapitän mit einem Fußball-Präsidenten?
Das ganze Drumherum. Wolfgang Niersbach will auch wissen, wie es läuft, auf und neben dem Platz. Und wir haben die Prämien verhandelt.
Sie sind offenbar kein guter Verhandler. Im Vergleich zu der Prämie, die die spanische Mannschaft für den WM-Titel erhalten hätte, nahmen sich Ihre 300 000 Euro pro Spieler geradezu lächerlich aus.
Ich kann Ihnen auch nicht sagen, ob ich geschickt verhandelt habe, ich weiß nur, dass es in der jüngeren Geschichte immer mehr für die Spieler wurde, ganz schlecht kann ich mich dabei also nicht angestellt haben. Es gibt ja nicht nur Prämien, und ich weiß nicht, wie hoch die laufenden und turnierbezogenen Sponsorengelder bei den Italienern ausfielen, die sind bei uns nicht gering.
Kommen die Spieler auch zu ihrem Kapitän, wenn sie den Rasen zu stumpf finden oder mal längeren Ausgang bekommen wollen?
Das ist vorgekommen, aber viele Spieler haben auch kein Problem, den Trainer direkt zu fragen. Die jüngeren Spieler haben weniger Scheu, die Dinge von sich aus anzusprechen. Sie wollen auch gerne eine Erklärung haben. Die Generation nach mir ist lockerer.
Wäre »Klassensprecher« eine passende Beschreibung für das Kapitänsamt?
Ich war nie Klassensprecher, und in der Nationalmannschaft gibt es mehr zu tun als in der Schule. Aber der Vergleich stimmt schon einigermaßen.
Muss der Kapitän einer Fußballmannschaft auch Witze reißen oder am längsten am Tisch sitzen bleiben, um von seinen Mitspielern akzeptiert zu werden?
Man muss nicht zwingend gesellig sein. Sicherlich ist es für einen Kapitän nicht von Vorteil, als Erster aufzustehen und aufs Zimmer zu gehen. Dann bekommt man ja auch weniger mit.
Heißt Spaß am Reden auch, mit dem Trainer die Aufstellung zu diskutieren?
Man tauscht sich aus. Ich will meine Meinung gesagt haben, was ich für richtig hielte, aber er muss die Mannschaft aufstellen und mit den Konsequenzen leben.
Hat der Trainer Sie je vorgeschickt, um anderen Spielern zu erklären, warum sie nicht spielen?
Nein. Das erledigt der Trainer heutzutage meistens selbst im Einzelgespräch.
Hat Jogi Löw vor jedem WM-Spiel zwölf Einzelgespräche geführt?
Sicherlich nicht, nicht alle durften davon ausgehen zu spielen. Es gibt in der Mannschaft eine Hierarchie, und man weiß ungefähr, wer spielen wird und wer nicht. Den Spielern das mitzuteilen gehörte nie zu meinen Aufgaben, ihnen zu vermitteln, dass sie dazugehören, dagegen schon.
Wie vermittelt man so ein Gefühl?
Zeigen ist das treffendere Wort, vermitteln bedeutet ja, dass es nicht so wäre. Man spricht sie im Training an, sagt: guter Pass. Wie oft trainieren wir acht gegen acht, da braucht man alle für ein gutes Training. Man muss wegkommen von der Vorstellung, dass man zu zweit auf dem Zimmer sitzt und sagt: Du bist gut, du gehörst dazu. Man zeigt jemandem jeden Tag mit Kleinigkeiten, wie wichtig er ist.
Trösten mussten Sie die Ersatzleute nicht?
Niemand kam zu mir, um sich trösten zu lassen, wobei natürlich jeder gedurft hätte. Aber ich würde auch nicht sagen: Junge, das wird schon, oder so. Sondern ich würde versuchen, jemanden zu motivieren. Schlimm ist ja nicht, wenn ein Spieler enttäuscht ist über eine Nichtnominierung. Problematisch wird es, wenn er sich hängen lässt. Schauen Sie sich Per Mertesacker an, der bei der WM vier Spiele gemacht hat und dann gar nicht mehr zum Einsatz kam. Er war nicht beleidigt, sondern hat die anderen unterstützt, das war vorbildlich. Oder wie Mats im ersten Spiel nach seinem Tor zur Bank gerannt ist, das war ein Zeichen, wie wichtig auch die anderen sind.
Hätten Sie sich als Kapitän auch so einen Wutausbruch wie Per Mertesacker vor der Kamera nach dem Algerien-Spiel erlauben
können?
Als Kapitän muss man sich nicht mehr zusammenreißen als jeder andere auch. Aber Per hat nur gesagt, dass ihm die Fragen und die schlechte Stimmung nicht gefielen. Das war schon okay so.
Haben Sie Joachim Löw gesagt, wie Sie das Algerien-Spiel gesehen haben?
Selbstverständlich. Ich will mir hinterher nicht vorwerfen müssen, etwas nicht angesprochen zu haben. Deshalb war die WM in Brasilien auch so anstrengend für mich: Ich wusste vorher, dass es meine letzte ist, deshalb hab ich all meine Energie reingelegt. Ich habe mir zum Beispiel alle unsere Spiele jeweils hinterher noch mal angesehen. Wir hatten ein super Computerprogramm, da konnte man zum Beispiel Spielszenen übereinanderlegen, und da hab ich dann hin- und her analysiert. Ich hatte ein super Verhältnis zu Jogi Löw, deshalb hatte ich keine Bedenken, auf ihn zuzugehen. Entschieden hat immer er.
Haben Sie ihm auch gesagt, welche Mannschaft Sie im Viertelfinale aufstellen würden?
Ich werde bestimmt nicht öffentlich machen, was ich mit dem Trainer unter vier Augen besprochen habe. Das waren einfach fußballtaktische Sachen, die mir aufgefallen sind.
Taktik und Namen sind oft nicht zu trennen.
Ich gehe aber nicht zum Trainer und sage: Der muss raus und der muss rein.
Und andersrum? Hat der Trainer Sie jemals gefragt: Philipp, wen würdest du auf dieser oder jener Position aufstellen?
Das könnte in den letzten acht Jahren schon das eine oder andere Mal vorgekommen sein.
Auch in Brasilien?
Wir haben uns auch in Brasilien ausgetauscht.
»Ich glaube, dass ich schon immer sehr sachlich und analytisch war. Emotionen schiebe ich eher beiseite.«
Philipp Lahm
begann seine Karriere bei der FT Gern und wechselte als Elfjähriger zum FC Bayern, mit dem er später fünf deutsche Meisterschaften und einmal die Champions League gewann. Mit der deutschen Nationalmannschaft wurde er Vize-Europameister, zweimal WM-Dritter und zuletzt in Brasilien Weltmeister. Nach dem Endspiel gegen Argentinien erklärte er im Alter von dreißig Jahren seinen Rücktritt aus der
Nationalmannschaft.
Es heißt, aus der Mannschaft wurde der Ruf laut, Sie sollten aus dem Mittelfeld wieder auf die rechte Verteidigerposition wechseln. Stimmt das?
Das kann schon sein. Das wäre ja auch nichts Ehrenrühriges, wenn man hinten rechts als Verstärkung betrachtet wird. Ich selbst war aber in keiner Besprechung dabei, in der Trainer oder Spieler gesagt hätten: Kannst du bitte wieder Rechtsverteidiger spielen! Aber das kann auch ohne mich besprochen worden sein, das wäre ja auch durchaus normal. Ich weiß ja, dass der Trainer nicht nur mit mir spricht.
Wo haben Sie gelernt, so diplomatisch zu sein?
Ich glaube, dass ich schon immer sehr sachlich und analytisch war. Emotionen schiebe ich eher beiseite.
Wie haben Sie als Kapitän gelernt, Pressekonferenzen zu halten?
Man bekommt allmählich ein Gespür dafür, was man sagen darf und was nicht. 2010 etwa, als wir viele Ausfälle von erfahrenen Spielern zu verkraften hatten, habe ich gesagt, dass dies die beste Mannschaft sei, in der ich je gespielt habe. Ich wollte der Mannschaft Selbstvertrauen geben, aber bin belächelt worden dafür. Nachher haben mir alle bestätigt, was für ein tolles Turnier wir gespielt haben.
Ihre Mutter sagt, Sie seien als Kind sehr schüchtern gewesen und hätten im Schultheater lediglich Baum, Mond oder Sonne gespielt. Sprechrollen hätten Sie erst spät bekommen.
Die Rollen als Baum, Mond und Sonne hatte ich einfach nur super drauf.
Wann legte sich Ihre Schüchternheit?
Als ich gemerkt habe, dass ich das, was ich tue, gut kann. Ich war immer einer der Kleinsten und schmächtig. In der Schule war ich nie einer der Besten und habe mich eher so durchgemogelt. Ich war auch nie laut. Und dann bin ich auch vergleichsweise spät in die Pubertät gekommen. Das spielt alles eine Rolle. Mit 16, 17 hat sich meine Schüchternheit allmählich gelegt und mein Selbstbewusstsein sich entwickelt.
Sind Sie in der Schule gehänselt worden wegen Ihrer Größe?
Klar gab es mal blöde Sprüche, aber die haben mich nie getroffen.
Sie sind wahrscheinlich der erste Kapitän, dem man nicht nachsagen kann, schnell laut zu werden, so wie Kahn oder Ballack.
Wer ist denn heute noch ein lauter Spieler? Das hat sich alles verändert. Aber ich bin schon froh, dass ich die alte Generation noch miterleben durfte, die in jedem Training den hunderprozentigen Biss zeigte – das hat deutsche Vereinsmannschaften ja immer ausgezeichnet. Heute haben wir überragende junge Kicker, denen vielleicht der letzte Punch fehlt.
Um den inneren Schweinehund zu überwinden?
Auch. Früher musste man mehr arbeiten. Der richtige Mix ist schwer zu finden, wir sind Weltmeister geworden, so schlecht kann er also nicht gewesen sein. Aber manchmal denke ich, dass es den Jungen, die so talentiert sind, vielleicht ganz gut getan hätte, mal das Tor tragen zu müssen oder auch mal zu verlieren. Ich habe die Champions League verloren, ein EM-Endspiel – danach zu gewinnen, ist besonders schön. Ich möchte diese Niederlagen nicht missen, obwohl ich den WM-Titel natürlich auch früher angenommen hätte.
Sind Sie zurückgetreten, weil Sie fürchteten, den Kontakt zu den jungen Spielern zu verlieren?
Ich wollte den richtigen Zeitpunkt zum Rücktritt nicht verpassen und ich wollte selbst entscheiden, wann der gekommen ist. Ein Kapitän soll ja alles zusammenhalten, und da spielt das Alter schon eine gewisse Rolle. Im Fußball sind fünf Jahre schon viel, die meisten Spieler sind vier, fünf oder neun Jahre jünger als ich. Deswegen habe ich das lieber übergeben.
Sie hatten Sorge, dass die Jungen sich fragen, was erzählt Opa denn wieder vom Krieg, wenn Sie von Demut sprechen und davon, dass es ganz gut tut, mal die Tore zu tragen?
Übertrieben ausgedrückt: Ja. Außerdem war mir immer klar, ich werde es nicht bis zum Ende auspressen und ich werde nicht so lange spielen, bis nichts mehr geht.
Mit wem haben Sie Ihren Rücktritt besprochen?
Mit meiner Frau, der Familie, mit Freunden, meinem Berater. Für mein näheres Umfeld war das keine Überraschung. Alle haben ja mitbekommen, wie schwer es mir fällt, so viel weg von meinem Sohn gewesen zu sein. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass meine Trainer wussten, wie wichtig mir auch andere Dinge sind. Nicht dass sie meinen Rücktritt vorausgesehen hätten, aber sie werden sich in der Rückschau sicher gesagt haben: Stimmt, wir hätten das ahnen können.
Sie betonen immer, wie viel Energie Sie in diese letzte WM gesteckt haben. Waren Sie nach Ihrer Sprunggelenksverletzung, die Sie kurz vor der WM im Pokalfinale erlitten hatten, überhaupt sicher, dass Sie rechtzeitig zur WM fit werden würden?
Um ehrlich zu sein: überhaupt nicht. Es war ja eigentlich keine große Verletzung, aber sie hat sich so angefühlt. Die Probleme mit dem Sprunggelenk haben sich dann auch durchs Turnier gezogen.
Gab es in der Reha auch finstere Momente, in denen Sie dachten: Das wird nix mehr mit meiner letzten WM?
Ich habe das damals nicht öffentlich gemacht, aber es gab schon schwierige Momente. Als die Mannschaft schon in Südtirol im Trainingslager war, war ich noch mal bei Dr. Müller-Wohlfahrt, da wurden erneut Bilder gemacht, und bei der Auswertung waren noch zwei andere Ärzte dabei, und alle drei haben so ein bisschen rumgedruckst. Dann hab ich gesagt: Wenn was ist, bitte sagt es mir gleich. Dann haben die gesagt: Aber wäre das nicht schlimm, wegen der Weltmeisterschaft? Dann hab ich gesagt: Klar wär das schlimm, ich wär da gern dabei, aber wenn’s nicht geht, dann sagt’s mir bitte gleich.
Und was haben sie Ihnen dann gesagt?
Dass die Bilder komisch aussehen, dass man aber noch immer nichts Genaues sagen kann, weil alles noch so geschwollen ist. Es wurde dann besser, aber dann gab’s Tage, wo’s plötzlich wieder schlimmer wurde, weil ich kaum geradeaus laufen konnte.
Wann war Ihnen klar: Ich kann meine letzte WM spielen?
Spät, sehr spät. Selbst nach den ersten beiden Trainingseinheiten in Brasilien habe ich gedacht: Wenn’s so bleibt, kann ich nicht spielen.
Machen Sie nach wie vor Yoga nach jedem Spiel?
Nein. Hab ich lange gemacht, war sicherlich auch sinnvoll, aber eine große Leidenschaft wurde nie draus. Ich mache die Dinge eigentlich immer nur so lange, wie ich Spaß an ihnen finde. Jetzt mach ich nur noch Dehnübungen.
Wollen Sie wirklich einmal Manager werden, oder könnten Sie nicht auch am Fußball irgendwann die Lust verlieren?
Keine Ahnung, was ich in vier Jahren machen werde, aber es wird sicherlich irgendwas mit Fußball sein, daran werde ich nie die Lust verlieren.
Wer hat Ihr Endspiel-Trikot bekommen?
Ich habe es behalten. Niemand wollte mit mir tauschen.
Fotos: Julian Baumann