Ein Ungar im Abseits

Es ist leicht, Deutschland gründlich kennen zu lernen. Der Besuch einiger Fußballplätze genügt.

DEFINITION Fußball ist ein Ballsport, bei dem zwei Mannschaften mit je elf Spielern (einem Torhüter und zehn Feldspielern) gegeneinander antreten. Das Ziel ist es, den Ball in das gegnerische Tor zu schießen. Fußball wird vorwiegend mit dem Fuß gespielt. Nehmen wir einmal an, es gäbe eine echte Freundschaft zwischen Mann und Frau. Der Freundschaft aber, die über das Obige debattieren wollte, sage ich keine lange Zukunft voraus. R. war indessen nicht nur schön, sie wusste zudem über das eben definierte Spiel gründlich Bescheid. SELBSTDEFINITION Wir sind also die Concordia Eschersheim, Kreisliga A, Frankfurt Südost. Morgen spielen wir gegen den SV Iran, das scheint ein wichtiges Spiel zu sein, wir stehen an 15. Stelle, sie hinter uns. Gemäß Wettervoraussage wird es morgen in Frankfurt mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit in Strömen gießen. Das heißt, ich muss bei diesem Mistwetter am Rande eines vergammelten Vorstadtfußballfeldes stehen und außer Rand und Band brüllen: »Concordia vor, noch ein Tor«?! Das ist absurd, zische ich mir vor (und nicht zum letzten Mal). Statt in meinem Zimmer zu sitzen, wie ich seit dreißig Jahren in meinem Zimmer sitze und alles schön real erfinde wie gewohnt. Die Wirklichkeit ist meistens unglaublich. HEIDI Nehmen wir zum Beispiel das gestrige Telefonat: Aus dem Hörer erklingt eine freundliche, unbekannte deutsche Stimme eines Mannes; sie sagt, man wolle ein Magazin herausbringen, dessen Titelseite eine gewisse Heidi Klum zieren solle, und dass er es toll fände, wenn ich Heidi träfe (wie die futuristische Definition der Schönheit lautet: Heidi Klum trifft den Friedenspreis auf dem Seziertisch), und dann führt er weitschweifig aus, was für einen coolen Text ich aufgrund dieser Begegnung schreiben könnte und so weiter und so weiter. Während ich den Ausführungen zu entnehmen versuche, wer Heidi Klum denn sein mag, packt mich das mittelosteuropäische Minderwertigkeitsgefühl, weil wir in so unterschiedlichen Welten leben, mit so verschiedenen kulturellen Referenzen… Mir schwant etwas, zunächst mutmaße ich, Heidi Klum sei eine berühmte Speerwerferin, schon ihre Mama sei eine berühmte Speerwerferin gewesen, allein hatte die Sportleitung der DDR auf Anweisung des seelenlosen Honecker sie (die Mama) gezwungen, Dopingmittel zu nehmen, wodurch die Speerwerferin dick wurde, zu trinken begann und die kleine Heidi nicht einmal mehr sehen mochte, die nun allein blieb in der weiten Welt, aber wie man sieht, mit ungeheuerer Willensstärke erreichte, dass jeder außer mir ihren Namen kennt. Oder aber sie ist eine glänzende junge Novellistin, das Frauenwunder von Berlin oder so. Als hätte ich sie sogar bei der Leipziger Buchmesse getroffen. Als ich endlich unter Aufbietung aller Kräfte nachzufragen wage, über wen wir denn eigentlich sprechen, tritt eine kurze Pause ein. Die Schlucht, die plötzlich zwischen Ost und West durch Heidi Klum verkörpert scheint, will mir gar nicht gefallen. Zugegeben, da weiß ich kaum etwas über diesen Körper. Die Stimme bleibt enthusiastisch, das sei doch zauberhaft, ein Glücksfall, das sei ja womöglich noch besser, eine jungfräuliche Hand, wo finde er heutzutage in Deutschland oder in ganz Europa so eine jungfräuliche Hand? Da ich noch nicht herausgefunden habe, worüber wir uns nun schon seit einer halben Stunde unterhalten, sage ich Nein. Was ich sofort bereue. Seitdem erkundige ich mich bei jedem über Heidi (kennt man sie, bin ich stolz, als sei sie meine kleine Schwester, kennt man sie nicht, verziehe ich abschätzig die Mundwinkel), ich surfe im Internet nach ihr, und sobald Heidis attraktives Abbild mir aufgrund meiner primitiven Internet-Intelligenz immer nur völlig überraschend, wie vom Pferd getreten, entgegen springt, droht mein klopfendes Herz zu zerspringen. DER TAXIFAHRER GRINST; ODER: DEUTSCH, REGENSCHIRM UND KUTTELN Bevor ich in Budapest ein Taxi nehme, muss ich mich an zwei Dinge erinnern: erstens, dass dies eine »Deutschlandreise« ist, das heißt, von jetzt an muss ich fortgesetzt Deutsche und Nichtdeutsche sehen. In Deutschland werde ich alles als deutsch ansehen. Das ist nicht einfach: in den deutschen Menschen immer deutsche Menschen zu sehen. Und was auch immer geschieht, daraus auf die deutsche Seele, den deutschen Geist und auf deutsche gesellschaftliche Reflexe zu schließen. Typisch deutsch. Deutschland mit fremden Augen. Und offensichtlich wird sich das recht gut an eine der üblichen deutschen Übungen zur Selbsterkenntnis anschließen. Sehe ich, dass sie beim Überqueren einer Straße das grüne Ampellicht abwarten, will ich das als ein Zeichen für die legendäre deutsche Zucht und Ordnung betrachten. Wenn sie aber bei Rot über die Straße gehen, so erkenne ich darin die Integration der 68er Werte.

Zweitens denke ich an meinen Regenschirm. Ehrlich gesagt, es ist gleich, mit wem, wohin und warum ich reise, ich kann unter fast allen Umständen ausschließlich an meinen Schirm denken. (Und darüber auch das Deutsche vergessen. Mit diesem Widerspruch wollen wir uns im Weiteren nicht beschäftigen.) Ob ich ihn mitgenommen habe. Wenn nicht, ereilt mich Melancholie und ich male mir ständig höchst dramatische Konsequenzen aus. Wenn ja, ob ich ihn im Hotel gelassen habe. Habe ich, ereilt mich Melancholie und ich male mir ständig usw. Habe ich nicht, muss ich aufpassen wie ein Schießhund, damit ich ihn nicht verliere. Ich verliere meine Schirme selten, aber immer. Früher oder später verliere ich jeden. Dann versuche ich ihn zu finden, Zeit und Geld spielen keine Rolle, und gerate dabei nicht selten in peinliche Situationen, in erniedrigende Szenen. Wenn ich ihn mitgenommen, nicht im Hotel vergessen und (noch) nicht verloren habe, muss ich pausenlos prüfen, ob es nach Regen aussieht oder nicht. Wenn nicht, soweit sich das überhaupt prinzipiell behaupten lässt, versuche ich jene Unzufriedenheit oder zumindest Unsicherheit zu formulieren, die mich überfällt, wenn es denkbar erscheint, ich hätte den Regenschirm in diesem gleißenden Sonnenschein eventuell doch überflüssigerweise (?) an einen Ort mitgenommen, wo in den vergangenen hundert Jahren lediglich dreimal irgendein Niederschlag gemessen worden ist. Für alles das entschädigt mich jedoch der stolze Augenblick, in dem ich dann das meistens schwarze, immer recht hässliche, in der Regel billige, vom Wind des Öfteren umgestülpte, geknickte Gebilde im strömenden Regen über mir aufspannen kann. Oder hätte ich vielleicht lieber gar nicht aufbrechen sollen? Der Taxifahrer gehört zur Art der Plauderer, Unterart Monologisierer. Bei seiner zweiten Frau verliere ich den Faden und komme erst wieder zu mir, als er von seiner Schwäche, dem Kochen im Kessel, berichtet. Dass er Schweinshaxengulasch zu seinen Leibspeisen zählt. Ich auch, rufe ich glücklich. Und Kutteln. Ich nicke weiter, auch das kenne ich gut, ich habe früher Fußball gespielt. Er sieht mich neugierig an, aha, deswegen kommt mir Ihr Name bekannt vor! Mein Bruder Márton war Profifußballer, Nationalspieler, er hat in Griechenland bei AEK Athen und bei Panathinaikos gespielt, der Taxifahrer verwechselt mich mit ihm. Sie waren ein guter Fußballer. Ich neige bescheiden den Kopf. Um ihm anzudeuten, dass er sich hier nicht irrt, sage ich ihm, dass ich auch jetzt zu einem Spiel nach Frankfurt unterwegs bin. Aber Frankfurt ist doch abgestiegen, wirft er wohlinformiert ein. Concordia Eschersheim. Er grinst glücklich in den Spiegel, ich kann mich nicht entscheiden, ob er sich freut, einem leibhaftigen praktizierenden Irren begegnet zu sein, oder ob er tatsächlich »die Heiterkeit, Freiheit, die großzügige Radikalität der Unternehmung« begreift. Ich versuche auf die Kuttelfleck-Thematik zurückzukehren, dieses Terrain erscheint mir sicherer. ANSCHLUSS Im Flugzeug lese ich Gregor von Rezzori. Ihn beschäftigt das Wesen der Wirklichkeit. Wenn man zum Beispiel die Wirklichkeit im Fernsehen sieht: Wo ist da die Wirklichkeit? Im Zimmer oder auf dem Bildschirm? Ich verstehe genau, was er meinte. Journalisten besitzen die große Begabung, die Wirklichkeit unmittelbar zu berühren. Das hat nie zu meinen Stärken gehört. Der Schriftsteller berührt die Wirklichkeit ja nicht nur, er erschafft sie auch. Auf jeden Fall ist ihm bewusst, dass er sie verändert, wenn er sie berührt. Auch Rezzori ist ein großer »Zuschauer«. Er hat deshalb oft Gewissensbisse. Ich nie. Zur Zeit des Anschlusses befand er sich in Wien, er schrieb: »Aber die Anteilnahme daran war nicht gefühlsbetonter als die an einem Fußballmeisterschaftsspiel.« Also gut, morgen will ich untersuchen, mit welcher Art Anteilnahme ich den Anschluss aufgenommen hätte. SUHRKAMP VERLAG R. ist Lektorin bei Suhrkamp, sie gehört zu den wenigen Frauen, die tatsächlich etwas von Fußball verstehen, nicht aus Trotz, nicht um zu beweisen, dass dies einer Frau möglich ist, sie liebt Fußball eben und das ist es schon und damit basta. Überdies spielen ihre beiden Söhne, sie sind ziemlich talentiert, sagt sie bescheiden mit der verdächtigen Objektivität einer Mutter. R. ist nicht einfach schön, sie ist bildschön. Nun müsste wohl eine Schilderung dieses Bildes folgen, ich bin aber dieser Thomas Mann’schen Manie der detaillierten Wiedergabe von Gesichtern derartig überdrüssig, hier die gewölbte Hochebene der Stirn, dort die hübschen Grübchen der Wangen, dann die Stirnlocken und die üppige Sinnlichkeit der Lippen und so weiter; lassen wir es lieber dabei bewenden, dass die Brauen der Lektorin so lebensbejahend anmuten wie die des Martin Walser (zwar hat der inzwischen den Verlag verlassen, aber Vergleiche werden für die Ewigkeit gezogen), und ihr Blick gemahnt in seiner geheimnisvollen Bräune an den der Ulla Berkéwicz. Zuweilen habe ich das Gefühl, einer Italienerin gegenüberzustehen. Das kommt bei einer Deutschen nicht so oft vor. Die Concordia ist ihre Lieblingsmannschaft.

»CAFÉ LAUMER« Mir gegenüber sitzt ein junges Paar, sie erwarten jemanden, sie sind aufgeregt. Und tatsächlich, ein wenig später erscheint ein Mann mit einem etwa zehnjährigen schwarzen Mädchen. Sie ist locker, leger, sie kichert und ist dabei atemberaubend elegant. Zazie in der Metro und zugleich eine Königin. Ihr Hals, ihre Stirn, von der Seite: wie auf einem Porträt von Pollaiolo. Ihr Handgelenk ist feiner als fein, sie trägt eine schrecklich plumpe Teenageruhr, das beruhigt mich ein wenig. Mir scheint, sie soll adoptiert werden, das Paar kauft, der Mann verkauft. Beobachtung: Die Deutschen adoptieren sonntagmittags, vornehmlich im Frankfurter »Café Laumer«, Kinder vermutlich afrikanischer Herkunft. Die Frau ist nervös und sehr bewegt, mechanisch streichelt sie die Hand ihres Gefährten; sie zeigt jeden Augenblick, dass sie glücklich ist, und das kann in keiner Weise vom Glück an sich unterschieden werden. Das Mädchen hat eine Stirn wie ein Fußballplatz: ein frischer, freier Raum. (Jede breite Stirn lässt mich an meinen Vater denken. Mein Vater, die Stirn. Das Gestirn. Ich denke gern an ihn. Gern und gefasst. Jetzt, da der Papst gestorben ist und die ganze Welt wie mit einem Schlag verzaubert religiös, besser gesagt, katholisch geworden ist, angefangen von der Bild-Zeitung bis zur Ungarischen Sozialistischen Partei, jetzt könnte meine Feder, ohne viel Aufsehen zu erregen, herschreiben, ich würde gefasst, wie erwähnt, jeden Tag für ihn beten. Jedenfalls denke ich jeden Tag an ihn, nein, er fällt mir eher ein. Doch das war auch »seinerzeit« so. Irgendwie fällt er mir immer ein. Auch an das Schlimme, das mit ihm zusammenhängt, denke ich nicht als an »Schlimmes«, sondern als »mit ihm Zusammenhängendes«. So denke ich selbst daran gern.) Beobachtung: Die Deutschen essen sonntags – Unterbeobachtung: die andere Kellnerin, hat die aber einen tollen Arsch! – Berge von Kuchen zu Mittag. Die schwarzen Mädchen in ihrer Obhut lächeln aber nur, selbst nach mehrmaligem Anbieten (sie tun das allerdings bezaubernd). Sei es die schwarze Farbe oder das Lächeln oder beides zusammen, sie rühren an die mütterlichen Instinkte der deutschen Kellnerinnen und die stürzen sich mit dem Ausruf »Bist du sicher, dass du keinen Kuchen magst?« auf die Zähne bleckenden kleinen Schwarzen. Auf die Neger, hätte Herr Lübke gesagt. Beobachtung: Deutsche Bundespräsidenten pflegen ihre Reden in Afrika mit den folgenden Worten zu beginnen: Meine Damen und Herren, liebe Neger! EINE ÜBERHEBLICHE PARODIE Kleine Eiskarte, Alkoholisches, offene Weine, Speisekarte, auf meinem Tisch stehen in einem eigenen Behälter die diversen Getränke- und Speisekarten, ich studiere sie, stelle sie zurück, naturgemäß (Th. Bernhard) nicht in der richtigen Reihenfolge, beziehungsweise bemerke ich gar nicht, dass sie eine Reihenfolge haben. Sie hatten. Wenn ich mich an den Karten zu schaffen gemacht hatte, trat die Kellnerin alsbald an meinen Tisch und stellte die richtige Reihenfolge wieder her. Ich traute meinen Augen nicht. Sie führte mir doch tatsächlich eine großspurige, überhebliche Parodie der Deutschen vor. Und nicht einmal besonders geistvoll, eher plump, schweißtriefend. Zu deutsch. Und ungerecht. Als wären »wir« (die Nichtdeutschen) nicht auch »irgendwas«. Als sie zum dritten Mal kam und gleichsam geistesabwesend Ordnung machte (Mütter können Kinder so unpersönlich füttern oder ankleiden, sie sind selbst gar nicht da, sie erledigen nur ihre Aufgabe – auf die einzig wichtige Frage: Wo halten sich Frauen dabei wirklich auf? versuchen wir jetzt nicht einmal eine Antwort zu finden), sprach ich sie meiner freundlichen Absicht entsprechend freundlich an: »Ich habe hier Unordnung hineingebracht, nicht wahr?« Sie nickte, sie war nicht verärgert, sie bestätigte lediglich, ohne zu werten, ja, ich hätte Unordnung gemacht. Sie blickte mich dann unvermittelt lange an und sagte: »Ich hasse Unordnung.« Im Weggehen wandte sie sich noch zurück und sagte leise (dieses leise Sprechen erschien dem Romantiker in mir als das schiere Entsetzen): »Irgendwie gibt es immer eine Unordnung.« Ich lachte etwas lauter als nötig. WEITERES GELÄCHTER Als ich der Suhrkamp von meiner Kellnerin erzählte, lachte sie auf und fragte gleich: »Sind Sie sicher, dass es eine Deutsche war?«. Worüber sie dann schon in lautes Gelächter ausbrach. Vergnüglich rann die Zeit dahin. Diese Möglichkeit war mir gar nicht in den Sinn gekommen; sie könnte sogar zur Gewissheit werden. Beobachtung: In Deutschland sind auch die Nichtdeutschen Deutsche. Das ist nicht wahr. Die Türken zum Beispiel sind Türken. In der Berliner S-Bahn unterhielten sich einmal zwei junge Männer hinter mir, sie sprachen einen furchtbaren Berliner Dialekt. Ich stellte mir zwei Musterpreußen vor, große, starke Deutsche, wandte mich um und siehe da, es waren zwei nette türkische Jungs, die da quatschten. Das verdross mich irgendwie, mir fiel der dumme und keineswegs zu billigende Satz ein: Die haben mich hinters Licht geführt. Was ich gehört hatte, das war durch und durch deutsch, was ich aber sah, konnte ich nicht als deutsch akzeptieren. In London zum Beispiel war es anders. Dort sah ich jeden als Londoner, Schwarze, Weiße, Inder, alle. (Auch den Pakistani, der die Metro in die Luft fliegen ließ.) Warum ist das so? Liegt es an meiner persönlichen Dummheit? Spüre ich vielleicht die lokalen gesellschaftlichen Beziehungen? Werden sie als Fremde angesehen und sehe ich sie deswegen auch als Fremde? Ich lache.

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HEIDI UND SUHRKAMP ALS RIVALINNEN Ich will es gar nicht leugnen, ich habe den Sportplatz des BSC Schwarz-Weiß, wo die Concordia ihre Matches bestreitet, einigermaßen feierlich gestimmt am Arm des Suhrkamp-Verlages betreten. Ich kann nicht genug kriegen von ihrem Fußball-Sachverstand. An ihrer Seite verwandle ich mich sogleich in den allerborniertesten Mann. Ich denke daran ansonsten nie (selten). Wäre R., nur mal angenommen, eine so genannte hässliche Frau, würde ich mich dann weniger über ihre Beziehung zum Fußball wundern? In meinem Kopf jagt ein politisch inkorrekter Gedanke den anderen politisch inkorrekten Gedanken. Am einfachsten wäre es, meine Leser denken zu lassen, ich besuchte die Matches mit Heidi Klum. So haben sie zumindest ein konkretes Bild vor Augen. R. ist ein wenig kleiner als Heidi oder sie trägt keine hohen Absätze. R. zog im Übrigen einen Flunsch, als ich Heidi erwähnte. Diese Frau sei immerzu so schrecklich lustig. Und dass sie vorher überhaupt nicht so modelhaft gewesen sei. Dann, unverhofft mit einer tiefen, rauchigen Stimme, grob und zur Hälfte Italienisch: Oh, Mamma mia, Maria Magdalena, dachte denn diese deutsche – und hier folgte ein Wort, das ich nicht herschreiben mag, der Name eines milchgebenden Nutztieres –, dachte sie, den Flavio mit einem Kind herumzukriegen, wenn das der Naomi schon nicht gelungen war? Sogar unbekannterweise wurde mir Heidi Klum zunehmend sympathischer. Familiäre Gefühle in einem vollkommenen Körper. Die Vollkommenheit ist immer interessant. (Das trifft auch für das Glück zu; der Anfangssatz der Anna Karenina von Tolstoi, den Rezzori gern seinen Kollegen nennt, welchem Satz zufolge alle glücklichen Familien einander gleichen, stimmt nicht. Tolstoi mag Unrecht gehabt haben, aber er hat somit einen genialen Anfangssatz bekommen. Es ist elend schwer, glücklich zu werden, wenn man den Anfangssatz nicht kennt.) Zu behaupten, mich interessiere diese Vollkommenheit nicht, wäre töricht. Wir hätten einander doch treffen müssen. Als (ehemaliger) Fußballspieler. Wie zwei Menschen, die mit dem Körper arbeiten – das hätte die Brücke zwischen uns geschlagen! ANNÄHERUNG Die Lektorin war schon lange nicht mehr hier, sie wird von allen Seiten freundlich gegrüßt. Am Himmel ziehen Wolken schnell dahin, einmal scheint die Sonne, dann trübt es wieder ein, Gott sei Dank habe ich den Regenschirm mit. Zwar ist er im Auto geblieben, stopp. Iran spielt ohne Reserve, sagt jemand, es stellt sich heraus, das war eine Trainerin. Bei uns in Ungarn gibt es so etwas einfach nicht oder nur im Damenfußball. Ihre Aussage scheint über sich selbst hinauszudeuten, sie ist eine schwere, existenzielle Behauptung, ohne Reserve, ohne Maske, face to face… denn die Iraner sind nun einmal so, vielleicht. Wir trinken ein Bier, unterhalten uns, spazieren auf und ab, lassen die Blicke schweifen, dieses Verstreichen der Zeit kenne ich wohl, die schöne Leichtigkeit des Wartens auf das Spiel. Den Platzwart nicht zu erkennen ist nicht möglich, er sieht aus, wie Platzwarte überall auf der Welt aussehen, von Kapland bis zum Nordpol (kurzes Sommerderby mit Torstangen aus Eis). Ein Platzwart ist ein großer Herr, ihn interessiert nur eines, Zustand und Schutz des Rasens, er entscheidet darüber, ob das Spiel auf dem grünen Rasen, dem Hauptsportfeld oder auf dem harten Übungsplatz ausgetragen wird, also entscheidet er sich im Falle des geringsten Zweifels, der geringsten Unsicherheit für den Trainingsplatz. Wie auch jetzt. Rote Schlacke, unangenehm, wenn ich Orhan Pamuk wäre, ließe ich jetzt meine Knie erzählen, mögen doch sie von ihrer Leidensgeschichte berichten, von den vielen Stürzen und Wunden, von den Wundrändern, eitrig von der Schlacke usw. – Knie ist mein Name. Wäre der Platzwart ein Ungar, würde ich sagen, er ist ein alter Alkoholiker, er hat sich einmal Anfang der siebziger Jahre betrunken, weil ihn der Sozialismus enttäuscht und/oder seine Frau verlassen hat, er hat sich betrunken und ist so verblieben, er ist aber kein Ungar und nicht betrunken. Was er sagt, verstehe ich nicht. Überhaupt, hierzulande verfolge ich meine Gespräche in sprachlicher Hinsicht nicht so leicht. DER SCHATTEN R. stellt mich »jedem« vor, er ist Ungar, Schriftsteller, Friedenspreis, SZ-Magazin, man nickt und plaudert weiter. Aber dann, als R. erwähnt, dass mein Bruder beim AEK gespielt hat! S., der Trainer der Junioren, hat früher die Kinder der Lektorin trainiert, er fragt nach ihnen und R. versucht, nicht mütterlich zu antworten. Über die Chancen von Eltern gegenüber Teenagern kann ich auch das eine oder andere beitragen. Als S. erfährt, wer mein Bruder ist, strahlt er mich derartig an, als könne er Fancsikó und Pinta (Berlin Verlag) auswendig hersagen. Und wenn nicht das, so doch sicherlich Eine Frau. Angenehm, so im Schatten meines Bruders zu stehen.

ANDY MÖLLER Dass er, Andy, hier auf diesem Fußballplatz begonnen habe, das wird immer wieder gesagt. Überall hat jemand begonnen. Bei uns war es mein Bruder. Sein Bild hängt am Ehrenplatz. Erich, der Präsident des Clubs, gibt heiter Erklärungen ab, offenbar wirkt er hier als primus movens, als unbewegter Beweger; Bambini, F-Jugend, E-Jugend, eine nicht nachvollziehbare, aber existierende Ordnung, die Regelung dessen, wie der Verein sein Geld bekommt, wenn ein Spieler nach oben wechselt beziehungsweise auch von dort nach weiter oben, dann die Hälfte der Differenz. Und dass sie im Sommer ein Turnier gegen Rassismus abhalten werden. Ein cooler Typ in Windjacke tritt zu uns, man tuschelt herum, später stellt es sich heraus, er ist ein jugendlicher Krimineller und verbüßt hier seine Strafe, leistet seine Sozialstunden ab. 1500 Stunden, wenn ich das richtig verstanden habe, Erich hebt den Blick gegen den Himmel (wo sich die Wolken wieder sammeln), wie werde ich ihn das abarbeiten lassen können? Als wäre hier ein Sportclub besser in die Gesellschaft und in die örtliche Gemeinschaft eingebunden. Vor Zeiten war das auch bei uns nicht anders, als wir unsere Prämie von Herrn Holicsek, dem Obst- und Gemüsehändler, in Naturalien bekamen. Jetzt sind die Clubs wie Inseln, die mit den neuen wirtschaftlichen Bedingungen einsam kämpfen. Wir duzen einander, ich frage ihn: Bist du Lehrer? Ich muss etwas missverstanden haben. Er antwortet gut gelaunt, als spiele er einen Trumpf aus: Nein, ich bin Prolet. Kohn, du prahlst, denke ich mir, aber ich wage mich nicht in ein derart wildes mitteleuropäisches Sprachgewirr. DER JUBELPERSER Wie die Consommé das Niveau einer Küche schon beim Entree anzeigt, da gibt es kein Bluffen, für eine gute Consommé braucht man, wie der große Paul Bocuse mahnt, vor allem Zeit, du temps, genauso erweist sich schon aus dem Aufwärmen, in welcher Klasse wir uns befinden, McDonald’s, Beisl, Gasthaus, Restaurant oder Gourmettempel. Was hier und jetzt vonstatten geht, kenne ich gut, Zuspielen, Schüsse auf das Tor, dann sich mühsam formierend, endlich einige kurze Sprints zum Warmwerden. Bei den Iranern fällt mir ein eleganter Herr mit grau melierten Schläfen auf. Aus seinem edel geschnittenen Gesicht ragt eine wunderschöne, mächtige Nase hervor, sein dunkler, öliger Blick streift mit einer in Jahrhunderten gewachsenen Gelassenheit über die mörderische rote Schlacke. Er hat das Dress schon angelegt, wärmt sich aber nicht auf, nein, er spaziert rauchend auf und ab, als schlendere er an einem müßigen Nachmittag über die Hauptstraße einer Kleinstadt. So etwas habe ich noch nie gesehen, ich mustere ihn missbilligend. Im Dress wird nicht geraucht. Wie man sich auch nicht auf das Spielfeld setzt. Und wie man das Dress auch beim Training nicht ablegt (man liegt schließlich nicht am Strand). Und wie man auf der Bühne, so habe ich gehört, nicht isst. Das ist gar kein Iraner, das ist ein Perser, bemerke ich wichtigtuerisch. Ein Jubelperser, antwortet Suhrkamp Verlag. Ich tue nicht so, als würde ich die Anspielung verstehen. Ja, seinerzeit, bei der Studentenbewegung, Ohnesorg, da nannte man die von der persischen Botschaft zum Empfang des Schahs abgestellten Berufsjubilierer so. Unser Jubelperser sah älter aus als ich. Oder nur seriöser? Ein persischer Prinz, das ist das Mindeste. Als er auf den Platz kam, nachdem er seine Kippe weggeworfen und säuberlich ausgetreten hatte, war er nicht schlecht. Gut war er auch nicht. Auf dem Spielfeld nützt ihm das Respekteinflößende nichts. Früher hat er wahrscheinlich einmal gut gespielt. Wer aber hat früher nicht gut gespielt…?! Ich habe früher immer besser gespielt… Damals herrschte noch der Schah, einer der Lieblinge meiner Mutter, damals existierte die Viererkette noch nicht, dagegen war jeder Mittelfeldspieler, der etwas auf sich hielt, selbst der mit der Verteidigung betraute, in die Frau des Schahs verliebt. Die war auch bildschön, wie die Lektorin. DAS WUNDER VON ROSA LUXEMBURG S., der Trainer der Junioren, würde gern auf 1954 zu sprechen kommen, aber ich verbiete es ihm. Das kann ich gut verstehen, sagt er zwar, versteht es aber offensichtlich nicht. Wer von den Seinerzeitigen noch lebt, muss dann doch noch erörtert werden. Drei zu drei, unentschieden: F. Walter, Eckel, Schäfer beziehungsweise Grosics, Buzánszky, Puskás, aber der ist schon sehr krank. Das war ein großer Augenblick in meinem Leben, als ich ihm die Hand schütteln durfte. Als wäre es T. S. Eliot gewesen. Ich wusch mir die Hände tagelang nicht, bewahrte seine Berührung. Ich war wirklich richtig erschüttert. Obwohl wir ja Puskás gar nicht seiner Hände wegen verehren… Ich frage, ob Liebknecht noch lebe. Welcher Liebknecht? Bisher hatte sich mein Partner als sympathischer, strebsamer Fußballnarr gezeigt, und jetzt, bitte, dieses immense Bildungsdefizit! Welcher Liebknecht? Welcher Liebknecht… Na der, der Puskás gedeckt hat, dieser Schlächter und Metzger, der ihn beim 8:3 niedergetreten hat. Ich schreie ein wenig. Liebrich, sagt der junge Mann leise. Noch ein Glück, dass ich nicht Rosa Luxemburg zum Berner Endspiel aufgestellt habe… So hätten wir sicher gewonnen, ja, Liebknecht/Luxemburg versus Bozsik/Puskás, das wäre gegangen. Lassen wir das (denn das Problem ist, dass das Duo Bozsik/Puskás gegen alle und jeden »gegangen wäre«).

MÜTTER Mir fällt auf, dass Schiedsrichter hier seltener beschimpft werden als bei uns. Beobachtung: Das deutsche Volk sieht im deutschen Schiedsrichter die Verkörperung und Garantie der Ordnung, ihm graut auf Grund seiner neurotischen geschichtlichen Erfahrungen vor dem Chaos, daher hütet es sich davor, diese Ordnung anzutasten. Eben deshalb war der jüngste Schiedsrichterskandal so erschütternd. Und man hat vielleicht eben deshalb das Gefühl, als sollte alles das möglichst schnell vergessen werden, wobei die Schuldigen freilich ihre angemessene Strafe erhalten (und das ist nicht wenig, bemerkt ein Ungar) und die ganze Sache mit wogenden Emotionen der kroatischen Mafia in die Schuhe geschoben wird. Indessen sieht das ungarische Volk im ungarischen Schiedsrichter nicht die Ordnung, sondern die Macht, den Staat, die Obrigkeit, den Uniformierten, das heißt, den Sartre’schen Anderen, den Fremden. Jemanden, dem gegenüber wir machtlos sind, die Osmanen, die Habsburger, die Russen und jetzt auch noch dieser Schiri, dieser Mistkerl, bestochener. So richtig etwas dagegen tun konnte man nie – was hätte das kleine Ungarn gegen die einmarschierenden Nazis schon ausrichten können?! Was bleibt, ist das Wort, wenigstens das Recht zu murren, ein ius murmurandi. Ich führe meiner attraktiven Cicerone sprachlich vor, was der ungarische Zuschauer in der gegebenen Situation äußern (brüllen) würde. Die ungarischen Ansagen loten Einstellung der schiedsrichterlichen Mutter beziehungsweise deren Sexualleben aus und ergründen ihre Neigungen in besonderer Hinsicht auf orale Lösungen. Die Suhrkamp errötet der Ausdrücke wegen nicht, auf dem Fußballplatz ist es nicht möglich zu erröten. Ist es immer die Mutter, fragt sie. Ja. Die Mutter ist eine sichere Sache. DIE GLÜCKSELIGKEIT Wir haben uns zu lange unterhalten, inzwischen hat der geschickte kleine (marokkanische) Mittelstürmer zwei saubere Tore geschossen. Die Marokkaner sind gut, sagt R. ernsthaft. Und Iran spielt ohne Reserve, entgegne ich genauso ernst. Als rezitierten wir ein Gedicht. Gemeinsames Kulturgut. Eigentlich sollte man sich Spiele allein ansehen, streng und großzügig, und nicht in Begleitung von Freunden. »Wir sind nicht gekommen, um uns zu amüsieren, sondern um ein Match anzusehen.« Nach Spielende gehen wir gemeinsam mit den Spielern ab. Das Spielfeld wird nicht mit Straßenschuhen betreten – diesmal aber doch. Wir sind beisammen, Zuschauer, Spieler; ich sehe strahlende Gesichter, strahlende Mienen nach einem gewonnenen Spiel. Ein gewonnenes Spiel ist die Glückseligkeit selbst! Und wie ich mich daran erinnere! Diese Harmonie ist einfach unvergleichlich, die Arbeit, die schwere körperliche Anstrengung steckt uns noch in den Knochen, der Druck, noch glänzen die Schweißperlen auf den Gesichtern, wir keuchen erschöpft, alle Körperteile schmerzen, aber: Wir haben es geschafft! Ich glaube, dieses »wir« spielt bei den Stufen zur Glückseligkeit keine kleine Rolle. Wenn wir nämlich vom Spielfeld abgehen, wissen wir, wozu wir auf Erden sind, wozu der Herr die Welt erschaffen hat. Oder einfach, was an dem Ganzen gut ist. In diesem Augenblick sind sämtliche Ungewissheiten in Bezug auf dieses Gute nichtig, nichtig ist auch die unausgesetzte, hysterische Fragerei der »europäischen Depression« (um den Ausdruck des Kuratoriums für den Friedenspreis zu benützen). Jetzt ist alles in Ordnung. Das Glück hält sich, wie die Fachliteratur weiß, nicht lange, was wir hier haben, zieht sich ganz sicher noch hin bis zum Biertrinken nach dem Spiel. Darum und nur darum trinkt der Fußballer lange, möglichst lange Bier. Die aus der Jugend vor kurzem erst in die Mannschaft geholten Spieler eilen nach dem Duschen gleich weiter, das Glück interessiert sie nicht oder sie mögen es nicht so verschreckt bewahren. Sie meinen, sie könnten es überall finden. Paradoxerweise sind sie auch jetzt eben deshalb so ungeduldig. Die Trainer aber winken nur ab, sei es in Frankfurt, in Hartha, in São Paulo, in Moskau, Madrid oder Budapest, sei es 1920 oder 2005, die neue Generation hat das Gemeinschaftsgefühl schon verloren. Eine Mannschaft ist immer eine Mannschaft, nicht nur neunzig Minuten lang (plus Nachspielzeit). TOR! Das kann ich gut, nach dem Spiel im Clubhaus Bier trinken, ich verfüge über die erforderliche Routine, Begabung, Ausdauer, über den Fleiß und das Gespür für den passenden Stil. Wir trinken nach dem Match im Clubhaus Bier, wie sich das gehört, und unterhalten uns über wichtige Dinge. Das Pissoir ist das große Dokument (die Hochburg) des postmodernen Lebensgefühls. Einheitliche Vorstellungen, eine einheitliche Gedanken- und Geisteswelt, vermischt mit ein wenig Uringestank. Als ich mich vor die Muschel stelle und vor mich hin blicke, traue ich meinen Augen nicht. Da unten grünt ein Abdeckgitter aus Kunststoff, gleichsam das Sinnbild des grünen Rasens, darauf, etwas weiter hinten, sich an die innere Wölbung der Muschel anlehnend, das weiße Tor (seine Proportionen scheinen richtig zu sein, 1:3), von der Querlatte baumelt ein Ball und ist, so wie er da baumelt, interaktiv, denn der Harnstrahl bringt ihn in Bewegung: Klar doch, das ist ein Tor! Als ich heraustrete, empfängt mich vertrauliches Grinsen, na, wie ist es ausgegangen? Sie sind einfach stolz. Recht haben sie. Beeindruckt vom Geschehen habe ich vergessen, den Hosenschlitz zuzuknöpfen. Ich denke zum ersten Mal daran, dass die Suhrkamp vielleicht doch nicht alles über Fußball weiß beziehungsweise nicht so wissen kann wie ein Mann.

EIN NEUES KAPITEL, EIN ALTER VATER Ich könnte das neue Kapitel auch so anfangen lassen: Péter Esterházy (die Namen wurden von der Redaktion geändert; die Geschichten beruhen auf Tatsachen), der hochberühmte ungarische Schriftsteller, dessen Ruhm dem von Felix Magath und Friedrich Schiller (im Schiller-Jahr) zusammengenommen gleichkam und in dessen Fußabdrücken auf der Straße Blumen erblühten, in denen sich Heidi Klum verbergen konnte, um wenigstens einen Blick auf den Meister zu erhaschen, nun, ebenderselbe war an jenem Tag ungehörig früh erwacht, ein Wecker aus vergangenen DDR-Zeiten hatte stilvoll dafür gesorgt, dass er die Maschine nach Dresden nicht versäumte – wenn ich also das Kapitel so beginnen ließe, könnte es leicht als eine Parodie auf meinen Produktionsroman aufgefasst werden, allein existiert dieses Buch in deutscher Sprache derzeit noch nicht, wozu dann also Wasser in die Donau (in den Rhein, in die Elbe) schütten, das heißt, ich beginne das neue Kapitel nicht so, obwohl ich tatsächlich fürchterlich früh aufstehen musste. Ich fange also neu an: Ich hänge im Internet herum und versuche mich so intelligent wie möglich auf die Tour nach Sachsen vorzubereiten. Nach dem einen oder anderen Fehlschlag sehe ich mich zur Neubestimmung meines IQ gezwungen. Ich denke dabei schon noch an positive (ja, auch an ganze!) Zahlen… Mit Mühe und Not habe ich jetzt von der Homepage des BC Hartha eruiert, dass das Spiel kommenden Samstag um drei Uhr nachmittags im Industriestadion stattfindet. Ich werde dort sein. Vor 35 Jahren habe ich dort einmal selbst gespielt, 1970, in den Farben des Arbeiterturnvereins Csillaghegy. Ich stand damals vor einer viel versprechenden Zukunft. Ein sommerliches Freundschaftsspiel mit den Sportsfreunden in der DDR. Deshalb fliege ich jetzt dorthin. Der findige Sportreporter, der an mir verloren gegangen ist, wird den Unterschied zwischen damals und jetzt, zwischen Ost und West schon entdecken, und zwar im Spiegel des Fußballs an sich. Bin gespannt. Nach einem Zufallstreffer auf der Tastatur (die Intelligenz als Zufallsgenerator) erscheint die bislang vergeblich gesuchte Tabelle. Sie sind Zehnte, 31 Punkte aus 25 Spielen. Weiter absteigen werden sie nun nicht mehr. Sie treten gegen Neukieritzsch an, die sind hinter ihnen. Zurzeit regnet es bei ihnen, es ist ziemlich kalt. Heute vor sieben Jahren ist mein Vater gestorben. WHO IS WHO? Ich versuche festzustellen, ob die Kellnerin in Dresden eine DDR-Mieze ist. Wir Ungarn lebten immer in einer lächerlichen Dünkelhaftigkeit gegenüber der DDR. Diese recht zweifelhafte Überlegenheit beruhte einerseits auf Unwissen, anderseits auf einem politischen Zynismus, dessen Nutznießer und zugleich Verachter wir waren. Also gut, in Ordnung, wir haben eine Diktatur, da gibt es keine Extratouren, wir bauen an diesem Sozialismus, da gibt es keine Extratouren, aber die Deutschen, die genießen das alles noch! Das hielten wir nun doch für übertrieben. Oder hatten wir nur Angst, in Moskau angezeigt zu werden? Oder hatten das die Funktionäre in Umlauf gebracht und wir übernahmen es einfach? (Damals gab es noch ein »Wir«, zumindest dachten wir das – und das reicht vielleicht auch schon…) Nun aber betrachte ich die Kellnerin (die anno 89 ohnehin erst die Grundschule besucht hat) mit anderen Augen. Hier und jetzt setze ich die DDR mit Ungarn gleich. Ich schaue, ob ich uns, ob ich mich in den Hiesigen wiedererkenne, ob ich den »diktaturgeprüften Menschen«, den »Versehrten der Diktatur« ausmachen kann. Ob das ihrem Gang anzumerken ist. Doch sehe ich das nicht unter dem Aspekt des Selbstmitleids, auch wenn einen starke Reflexe in diese Richtung ziehen mögen, hier wie bei uns. Ich suche nach dem Kleingeist in den Gesichtszügen, in der Kleidung, im Verhalten, ich suche einen perversen sozialistischen Bodensatz (wie, sagen wir, den Trabant, mit welchem beweglichen Gegenstand ich zwar persönlich gut gefahren bin, wenn auch ein wenig länger, als es mir gefallen hat, jedenfalls hatte er die zauberhafteste Betriebsanleitung der Welt, die ich meiner Kleinen ungarischen Pornographie (ein sprechender Name) als Motto vorangestellt habe: »Die Straßenlage des Trabant ist ausgezeichnet, seine Beschleunigung hervorragend. Dies jedoch sollte nicht zum Leichtsinn verführen.« Ich suche also nach einem Makel, der nur durch den Zwang zum Überleben entschuldbar wird. Das heißt, ich will sehen, ob jene alte Zeit vorbei ist, während ich sehenden Auges sehe, dass sie vorbei ist. Doch die Zeit vergeht wirklich nicht linear. Wie der Verputz von einer vergammelten Zimmerdecke, so rieselt die alte Zeit von irgendwo oben auf uns herab und zeichnet unsere Gesichter. Diese Erscheinung Leiden zu nennen wäre eine romantische Übertreibung. Doch kann man bei einem Klassentreffen todsicher feststellen, wer von uns inzwischen in den Westen gegangen ist. Es ist nicht das Leid, was sich offenbart, eher der Verschleiß. Eine Undiszipliniertheit, eine Schlamperei der Zellen, eine Achtlosigkeit. Es ist etwas Übles, dem wir nicht angemerkt haben, dass es auch aus uns besteht; wir dachten, das sei lediglich das System. Der große paradigmatische Irrtum der postsozialistischen Länder! Die Kellnerin lacht mich an, stark, unpersönlich, wie eine Amerikanerin, cheese. Sie ist mit mir zufrieden, ich Banause habe eine Bouillabaisse bestellt, in Dresden! (Aber nur eine kleine Portion, damit tröste ich mich post festa.)

DIE PETERS Wie ich im Prospekt lese, ist Hartha das Herz Sachsens. So hat zumindest Sachsen ein Herz. (New York ist das Herz der Welt, sagte jemand in einem Film Mitte der achtziger Jahre. Die Antwort darauf lautete im selben Film: Die Welt hat gar kein Herz.) Ich schlage meine Zelte, mein Hauptquartier im »Flemmingener Hof« auf. Was meine Obliegenheiten betrifft, bin ich einigermaßen verwirrt. Letzten Herbst las ich nach der Verleihung des Friedenspreises in Leipzig im Rathaus unter schönen, festlichen Umständen, vor der Lesung war ein »bejahrter Mann« in meinem Alter an mich herangetreten, er heiße Peter Irgendwas, seinen Familiennamen habe ich nicht verstanden, und ob ich mich an ihn erinnere. Ich versuchte, nicht falsch zu antworten, ich schwieg begeistert. Und dass die, und hier folgte ein weiblicher Name und ein Lächeln, ebenfalls hier sei. Und dann sprach er das Zauberwort aus: Hartha! Wir umarmten einander. Zwei alte Klein-Fußballer dort im glänzenden Saal. Ihm widmete ich dann die Lesung. Es war ein schöner Abend. Wie mag er aber heißen? Im Internet habe ich einen Peter B. gefunden, der eine Art Clubleitung innehat (oder -hatte). Ich will ihn bei Gelegenheit im Telefonbuch finden. Teils möchte ich ihn anrufen, teils nicht. Morgen beim Match treffen wir uns ohnehin. Dann wird sich alles weisen. Lieber sehe ich mir erst einmal den Platz an. Ich kreise mit dem Leihwagen um die Häuserblöcke, langsam, wie ein gedungener Mörder. Da ist aber auch gar nichts. Menschen sind ebenfalls nicht zu sehen, allerdings ließe ich in diesem Mai genannten Winter nicht einmal meinen Hund vor die Tür. Nur die Aufdeckungsjournalisten schnüffeln unermüdlich. Beobachtung: In der ehemaligen DDR herrscht der Winter selbst im Frühling. Ich versuche mich an die Stadt zu erinnern und bevölkere die leeren Straßen und Plätze in meiner Fantasie mit Mädchen, jungen Frauen und Männern aus der Zeit von vor 35 Jahren, die das Leben noch vor sich hatten. In der Nähe von Fußballplätzen vergisst man die Diktaturen. Damals gab es hier welche unter uns, die zu Recht hoffen durften, berühmte Spieler zu werden. Ein Peter Ducke! Peter und Roland Ducke, doch Peter war der Star. VORSPIEL Ich lese in der »Döbelner Zeitung« (oder im »Anzeiger«?), dass am Samstagvormittag auf dem anderen Spielplatz, in der Wiesenstraße, die Mädchen spielen. Ich bin der einzige richtige, echte, sozusagen der einzige real existierende Zuschauer, alle anderen sind Verwandte, Väter, Mütter, Austauschspieler. Auch die Väter und Mütter sind schon jünger! Alles das ist so unglaublich, dass ich festhalten muss: Ich stehe hier in Sachsens Mitte, ja, in Sachsens Herz, tausend Kilometer weit weg von zu Hause, von meinen Lieben, von meiner getreuen Frau und meinen mich heimlich verehrenden Kindern, im Nieselregen (noch ein Glück, dass ich meinen ausgezeichneten Schirm bei mir habe), an der Seitenlinie eines Fußfallfeldes und verfolge hingebungsvoll das Mädchenmatch BC Hartha–Sachsen Leipzig II, Nachwuchsfußball, Bezirksliga B, Juniorinnen. Das heißt, es findet noch eine weitere Begegnung statt, auch die Jungs spielen, sie sind noch juniorer, gegen den Hausdorfer SV. Die Unseren treten in gelb-blauen Dressen an. Die Farben meiner Familie – solange meine Familie Farben hatte. Die Mädels verlieren das Spiel schön langsam und unbemerkt, sie sind nicht schlechter, aber die Leipziger haben eine feurige kleine Stürmerin. Am Rand des Spielfeldes sind alle recht konstruktiv: »Ihr schafft es noch!« (Das heißt, sie haben ein Tor einstecken müssen.) »Mensch.« »Weiter.« – »Mittelfeld! Mittelfeld!« (Das ruft eine Mutter, ich weiß gar nicht, womit ich ihre Verzweiflung vergleichen könnte.) »Alle Kräfte.« – »Meine Güte.« (Sie haben wieder ein Tor bekommen.) DAS SPIEL Bis zum Nachmittag trübte sich der Himmel ein. In Sachsens Herz tobte ein eisiger Wind. Noch ein Glück, dass usw. Es trifft sich gut, dass weder Heidi noch die Suhrkamp mich begleiten, so kann ich mich ungestört umsehen. Vor dem Kiosk versammeln sich unter einem gelben Kunststoffdach die »Eingeweihten«. Ihnen ist anzusehen, dass sie Fußballer sind (waren). Wie sie auf ihren ewigen O-Beinen stehen, wie sich ihre Hüfte bewegt, wie sich die verbliebenen Gesäßmuskeln spannen. Überhaupt, wie sie sich halten. Ich bin auch ein wenig so wie sie. Ich stehe am Rand der Gruppe, im Regen. Jetzt würde ich gern zu ihnen gehören, nur in ihrem Kreis dastehen, auf die neue Generation schimpfen und mich zugleich für sie begeistern; großspurig daherreden, die Vergangenheit beschönigen und im Wissen, dass mir niemand zuhört, lang und breit von den wirklich unerheblichen Details einer Hüftoperation berichten, hier zu Hause sein, denn wir waren Diener und Begünstigte desselben Spiels. Doch dann dachte ich an meine Arbeit. Wie aber beginnen? Wen soll ich ansprechen? Und womit überhaupt? Dazu ist mein Deutsch nicht gut genug. Wo ich doch selbst im Ungarischen ein Gegengewicht zu meinem »Brillenträgergesicht« in die Waagschale werfen muss. Peter sehe ich nicht. Da geht einer an mir vorbei und spricht den ungarischen Schlachtruf: »Hajrá magyarok!« (Ungarn vor!) aus, als spräche er gar nicht zu mir. »Hajrá«, erwidere ich grinsend und lasse ihn fast weitergehen. Der Lautsprecher gibt inzwischen die Aufstellung der Mannschaften bekannt. Auf der Ersatzbank sitzen folgende Sportsfreunde…Dieses »Sportsfreunde« ist für mich, in leichter Honecker’scher Färbung, die reinste DDR. Henrik S. war einer von denen, die damals, 1970, jene Fahrt organisiert hatten. Henrik S. war einer von denen, die seinerzeit (das war um gute zwanzig Jahre früher) als Personen deutscher Nationalität, also auf rassistischer Basis, aus Ungarn ausgesiedelt wurden. Gemäß der Zählung aus dem Jahr 1941 waren das 400000 Personen, die Hälfte wurde deportiert. (Bezeichnenderweise bekannten sich – nein, wagten sich 1949 etwa 22000 als Deutsche zu bekennen.) Gleich nach Kriegsende, 1946, kamen 150000 Ungarndeutsche in die amerikanische Besatzungszone; wer davongekommen war, hatte das schlimmere Los, denn sie wurden wenig später abgeschoben, in die russische Zone. Nach Sachsen und Sachsen-Anhalt. (Angeblich wurde am 27. Juli 1952 noch ein letztes »Kontingent« nach Bischofswerda transportiert.)

Der Historiker Krisztián Ungváry hat eine interessante Arbeit über die rassistischen Wurzeln der Aussiedlung der Deutschen verfasst. Darin weist er darauf hin, dass ein bedeutender Anteil der ungarischen Antifaschisten nicht als Demokraten, sondern als Rassisten Antifaschisten waren; nicht nur Juden waren der nach 1920 aufgekommenen rassistischen Alltagssprache zum Opfer gefallen, nach 1945 waren die Deutschen die neuen Opfer. Auch sonst waren die Deutschen für alles verantwortlich. Auch das Malenki robot der Sowjets (»Mobilmachung für unmittelbar im Hinterland durchzuführende Arbeit«) hat sie bevorzugt getroffen, aus Ungarn wurden etwa 60000 mitgenommen, 15000 von ihnen sind nicht zurückgekehrt. Von den Zurückgekommenen wurden, kaum hatten sie sich niedergesetzt, etliche gleich nach Deutschland einwaggoniert. Sie durften hundert Kilo Gepäck mitnehmen, ihr Leben blieb hier wie auch ihre Grundstücke, ihre Häuser. In welche dann die aus der Slowakei hinausgeworfenen Ungarn gesetzt wurden. Eine Unmenschlichkeit verdeckt die andere Unmenschlichkeit. So kam dann Henrik (Heinrich) S. nach Deutschland, »wir wurden in Sachsen verteilt«. In diesem »wurden verteilt«, in dieser Passivkonstruktion, klingt noch immer das Ausgeliefertsein, ja, vielleicht sogar das Sichabfinden mit. Wir sehen uns das Spiel an, darum blicken wir einander nicht ins Gesicht, wir sprechen so, nebeneinanderher. Das gibt der Unterhaltung den Anschein, wir fänden sie langweilig. Oder als ob wir uns jeden Tag unterhalten könnten, als wäre es das Natürlichste der Welt, dass wir hier stehen (hauptsächlich ich) und plaudern. Dass seinerzeit viele Ungarn hier gearbeitet hätten, in der Elektrogerätefabrik und in der Schuhfabrik. Dort habt ihr gewohnt – und er zeigt auf den Wohnblock hinter dem Fußballfeld. Wer? Ihr, die Ungarn. Stand dort gegenüber nicht ein langes Holzhaus? Das ist mir eben eingefallen. Er nickt ermunternd, ja, das ist jetzt das Gymnasium. Das Gewebe der Vergangenheit lockert sich: Dort hat das Bankett nach dem Spiel stattgefunden. Ich möchte gern, dass er mir bei der Erinnerungsarbeit hilft, aber er blinzelt lieber nur gut gelaunt. Wir haben viele Biere gestemmt, sage ich noch. Ich erinnere mich, da gab es einen Vereinsstiefel aus Glas, der musste ausgetrunken werden. Tja, das Leben ist hart, er nickt, offenbar besitzt er tief greifende Einsichten in Sachen Bier an sich. Der Karcsi Szalay, der »Karoli«, der war hier der berühmteste Ungar, sagt er dann. Den kenne ich, er hat bei uns gespielt, dann ist er hier herausgekommen, er hat das Spiel organisiert. Und der Jimmy, sagt er. Der ist aber schon gestorben, die Leber. Plötzlich haben wir nichts mehr zu bereden. Wir lassen besserwisserische Bemerkungen über das Spiel fallen, der tschechische Gastarbeiter ist wirklich gut, das ist ein Schlitzohr, sagt er. In Ungarn ist jeder ein Schlitzohr, darum ist es um den ungarischen Fußball so schlecht bestellt. Er verabschiedet sich, stellt sich ein paar Meter weiter weg und sieht sich das Spiel weiterhin an. Ein ernsthafter Mensch, er weiß, dass man sich Fußballspiele allein ansehen muss. Und doch, ich empfinde sein Gehen ein wenig als Versagen, weil ich ihn nicht »halten« konnte. In der Pause marschiere ich eine Runde, vielleicht treffe ich meinen Peter. Ich treffe ihn nicht. Und überhaupt, was sollte ich mit ihm anfangen, damit ermuntere ich mich. An jenem Abend in Leipzig ist schon alles geschehen, was geschehen konnte. Als ich ihn umarmte, war mir, als würden wir einander tatsächlich kennen, als begegneten sich zwei Leben wieder, nach einem langen Umweg. Ich nehme den Gesprächsfaden wieder auf, ausdrücklich zum Zweck journalistischer Ausbeutung. Schwer ist das Leben der Journalisten! Wie kommt das, und meine Frage ist ein Finger in der offenen Wunde, dass es keine Ostclubs in der Bundesliga gibt? Er schweigt. Handelt es sich möglicherweise noch um die Rache der Diktatur? Kann es sein, dass die ostdeutschen Clubs aus den gleichen Gründen schlecht sind wie die Ungarn? Nur dass wir kein Ost und West haben. Wir sind das letzte Mal 1986 bei einer WM gewesen. Nur am Rande: Mein jüngerer Bruder hat damals in dieser Mannschaft gespielt. Während ich rede, schüttelt Henrik die ganze Zeit den Kopf. Köln wird zu Hause von Trier besiegt und Erfurt werden wegen Dopings drei Punkte aberkannt, weil ihr polnischer Spieler seinem bronchitiskranken Kind gezeigt hat, wie man inhalieren muss… Und welche Elfmeter gegen Rostock gegeben worden sind! Das ist doch alles von oben abgemacht gewesen. Er winkt ab wie ein enttäuschter Liebhaber. Die wollen uns nicht! Ich weiß gar nicht, warum ich ausrufe: Es ist aber allemal besser als unter dem Honecker! Er antwortet nüchtern, freilich ist es besser. Die Rente ist gut, wir haben eine sichere, gute Rente. Wir schweigen. Jetzt schrecke ich vor keiner Niveaulosigkeit, vor keinem Gemeinplatz mehr zurück. Gibt es einen Gegensatz zwischen Wessis und Ossis? Ja. Ich hätte es wissen müssen, auf eine dumme Frage kommt keine Antwort. Er hat ein bisschen Mitleid und erklärt: Mein Enkel wird kein Ossi mehr sein. Die Jugend geht ohnehin in den Westen arbeiten. Und dass eine große Arbeitslosigkeit herrsche. Damals haben 800 Leute in der Schuhfabrik gearbeitet, heute sind es 25. Und der Chef ist ein Türke! Zuerst kaufte einer von drüben die Fabrik, dann verlagerte er sie nach Polen, was sich nicht rentierte, oder wer weiß, was war, dann verkaufte er sie an diesen Türken. Auch das Schlitzohr arbeitet dort. Chemnitz aber ist eine Geisterstadt, fast ganz entvölkert.

Während der Entvölkerung von Chemnitz haben wir das Spiel unter dramatischen Umständen gewonnen. Wir trinken unsere Biere und schlottern glücklich in der Kälte. Vielleicht kennt dich noch einer von den Alten, sagt Henrik unerwartet. Ich nicke unsicher. Er ruft zu den »Alten« hinüber, komm einmal, Keule, ein hochgewachsener »Kollege«, ein wenig verkrümmt, rührt sich, kennst du den hier? Wie heißt du? Péter, sage ich vorsichtig. Henrik hilft mir, ich sei Ungar und hätte hier gespielt. Erst jetzt fällt bei mir der Groschen, wir haben uns die ganze Zeit missverstanden, er hat gedacht, ich hätte auch hier gearbeitet und gespielt, wie der Károly Szalay, nicht nur einmal, damals. Sie fragen denn auch sofort: Karoli, bist du es? Das ist nicht der Karoli. Der Karoli ist ein guter Spieler gewesen. Und auch der Hertelendi, der hat auch gespielt. Ja, das ist ein ungarischer Name, bemerke ich trocken, wie ein frustrierter Literaturprofessor im Gymnasium. Henrik sagt meinen Namen, möglicherweise bedeutet der ihnen etwas. Nichts, oder doch, denn sie lachen los. Vielleicht haben sie »Osterhase« gehört, wie üblich (siehe Sowa–Dische–Enzensberger). Die Szene gleicht dem ersten Training eines neuen Spielers. Zerreißprobe: Was kann er, was verträgt er? Die Parteien erkunden einander. Noch ist mein Schicksal nicht entschieden. DAS TELEFONAT Endlich entschließe ich mich, den (bekannten oder unbekannten) Peter B. anzurufen. Ich habe ja fast Angst, stelle ich überrascht fest. Ich mag nicht. Ich benehme mich wie ein Kind und das ist lächerlich. Um Zeit zu gewinnen, erfinde ich Szenarien. Guten Tag, hier spricht so und so. Mensch, mein Alter, das ist ja fantastisch und so weiter, er lädt mich zum Abendessen ein und wir betrinken uns langsam, genüsslich und methodisch. Oder im Gegenteil: Er wimmelt mich mit dem Ausdruck des Bedauerns ab, er breche eben auf, zu seiner Schwiegermutter nach Zwickau, besagte Schwiegermutter sei einer der Hauptkonstrukteure der Trabants gewesen und habe dereinst noch mit der Serie P70 begonnen. Oder er weiß nicht einmal, wer ich bin, und ich gerate deswegen ins Stottern, SZ, 1970, der was bitte im wo? Ich fühle, wie mich mein Deutsch im Stich lässt, stottere herum, ob man sich nicht doch äh einander äh treffen könnte. Sonntag? Jederzeit, wenn es Ihnen passt. Wie zwei alte Fußballspieler, sage ich sentimental. Setzen wir uns doch in Ihr Stammbeisl. Da bricht er in Weinen aus, ich habe kein Stammlokal, ich habe niemanden, ich habe nichts, ich bin allein. Stille. Seit 15 Jahren bin ich bei keinem Match gewesen. Warum nicht?, fahre ich ihn brutal an wie ein Kind. Seine Frau, die Tochter der Trabikonstrukteurin, sei in der Stadt sehr populär und ihre Beliebtheit habe auch dann ungebrochen weiter bestanden, als es sich herausgestellt habe, dass sie der Stasi gemeldet habe. Dafür habe jeder Verständnis gehabt, selbst die Jungen, habe doch der Trabant jedem gedient… War die mit dem Trabi nicht Ihre Schwiegermutter?… Er hört mich gar nicht, spricht mit erstickter Stimme weiter: Sie hat sogar über mich Berichte geschrieben, über ihren eigenen Ehemann! Und dann habe ich mich gegen sie gewandt, ja das geht doch nicht, dass alles geht, dass man alles erklären kann, irgendwo muss das ein Ende haben, bis hierher und nicht weiter, das sagte ich im Wirtshaus und auf der Straße und das sagte ich auf dem Fußballplatz und jeder schwieg, als ich das sagte, und meine Frau schwieg auch, bis sie zum Schluss sagte, es sei genug und ich solle endlich das Maul halten. Stille. Und als fragte mich diese Stille etwas, ich bin aber nicht fähig, darauf zu antworten. Sie glauben mir also auch nicht? Wozu, Scheiße, sind Sie denn, Scheiße, aus Ungarn hergekommen, Scheiße, wenn Sie auch schweigen, genau wie alle anderen hier, Scheiße!? Und er fährt leise fort: Sie glauben also auch, dass die wahre Geschichte andersherum verläuft und ich die Berichte geschrieben habe… Ich wähle die Nummer, es läutet, ich lege den Hörer schnell zurück. Das ist doch lachhaft, nimm dich zusammen. Noch einmal, es läutet lange, niemand zu Hause. Ich atme auf, als wäre die Chemie-Schularbeit ausgefallen. Schon wieder der Flaubert’sche Effekt: Das, was nicht passiert ist, ist immer noch das Beste. CANALETTO UND ... Wie typisch europäisch (oder menschlich) doch diese Erscheinung ist: Wir fallen plötzlich von einem unschuldigen Spaziergang kommend – plumps – mit einem Mal in die dunkle Grube der Geschichte. In den tiefen Brunnen der Vergangenheit. Das könnte genauso gut bedeuten, dass wir auf einmal einem wunderschönen alten Gebäude gegenüberstehen – unerwartet, fortwährend. Auch das ist wahr, Europa ist überladen, auch mit solchen Schönheiten überladen. Je überladener, desto europäischer. Es ist aber auch mit dem Hässlichen, mit dem Schmutz, der Sünde, dem Verrat überladen, überladen mit dem fortgesetzten Verrat an unserem Selbst, unseren Werten, Prinzipien und schönsten Träumen. In Dresden hatte ich einen halben Tag bis zum Abflug. Wenn ich schon einmal da bin, dachte ich, will ich mir ansehen, wo mein Urgroßvater gestorben ist, und ich fand mich, um mich beeindruckend auszudrücken, in einer Gaskammer wieder. Er war gar nicht mein Urgroßvater, sondern der Großvater meines Großvaters; vor 1867 war er praktisch der Außenminister der Monarchie, dann machte ihn ein »der Öffentlichkeit feindlich gesinnter Teil« für die Schlacht von Königgrätz verantwortlich, er soll sie forciert haben, weil er wegen seines bigotten Katholizismus die Preußen nicht ausstehen konnte. Dies entsprach zwar der Wahrheit, in Sachen Königgrätz hatte er jedoch keinen Dreck am Stecken. Die Verleumdungskampagne hingegen verlief mehr oder minder erfolgreich, unter anderem auch deshalb, weil er am Ende seines Lebens in die Nervenheilanstalt Pirna kam, heute würden wir sagen: wegen chronischer Depression. Also fuhr ich nach Pirna hinaus und fand mich in einer »Todesfabrik« der Nazis wieder. Es gibt von Canaletto eine Pirna-Serie. Auf seinen Bildern scheint die Welt unschuldig (zugegeben, auf den ersten Blick auch ein wenig langweilig). Dann also: Canaletto und Euthanasieprogramm. MULTIKULTI In einem Internetcafé in Dresden; eine osteuropäische Höhle, dunstige Wärme, menschenwarmer Dunst, voll gestopft mit Computern, dicht an dicht. Unsere Ellbogen berühren sich, neben mir sitzt ein Riese, vielleicht Vietnamese oder Chinese. Sein Mobiltelefon schrillt, er brüllt hinein. Das tut mir (meinem Trommelfell) physisch weh. Mausi! Das ist sein wichtigstes Wort. Und saufen. Mausi, saufen, am Abend. Offenkundig fällt es ihm gar nicht ein, ja, es kann ihm prinzipiell nicht einfallen, dass er jetzt eventuell jemanden stören könnte. WAS? In Dresden stoße ich auf eine kleine Demonstration; es ist Montag. Arbeit für alle. Eine farblose Frau verliest müde und schlecht ein Manifest, ungefähr fünfzehn, zwanzig Menschen hören ihr zu. Ostdeutsche in meinem Alter, mit verfallenen Gesichtern, augenscheinlich nicht die Sieger der Epoche. Am Rand der Versammlung hält ein junger Mann eine NPD-Fahne. Sachsen ist die Hochburg der Nazis, las ich vor kurzem. Hier ist es der NPD gelungen, den rechten Rand zu vereinen. Sechzig Prozent der Parteimitglieder sind unter dreißig Jahre alt. Ich versuche aus dem Gesicht des Jungen die tierischen Züge der Nazis herauszulesen. Beziehungsweise die menschlichen, europäischen Züge, die nazistisch sind. Ich sehe nur einen unglückseligen, traurigen kleinen Scheißer. Er könnte allenfalls mein Sohn sein. Was habe ich falsch gemacht? Aus dem Ungarischen von GYÖRGY BUDA.