Argentinien gegen Serbien-Montenegro habe ich nicht gesehen, ich weiß nicht mehr, warum. Weiß nur noch, dass ich es am nächsten Tag als Fehler empfand. Sechs zu null. Ein Spielzug der Argentinier über 26 Stationen, so schön, dass er als Diagramm in der SZ abgebildet wurde. Man müsste sich das von Riquelme signieren lassen und an die Wand hängen, dachte ich, ein Kunstwerk. Ich las alles über das Spiel und versuchte zu vergessen, dass ich es nicht gesehen hatte, ja, ich rede jetzt bisweilen mit anderen Leuten so, als hätte ich das Spiel gesehen. Vielleicht wird der Tag kommen, an dem meine eigene Erinnerung verschwimmt, an dem ich selbst denken werde, ich hätte es gesehen, und an dem ich zu jemand anderem sage: »Gott, was war das für ein herrliches Spiel, und dieser Spielzug über 26 Stationen, Rodríguez am Anfang, Cambiasso am Schluss, ich sehe ihn vor mir.«Die Verlängerung von Argentinien gegen Mexiko habe ich nachts in einem Hotelzimmer ohne Ton gesehen, um meine schlafende Frau nicht zu stören. Bei Spanien gegen Frankreich bin ich zum ersten Mal selbst eingeschlafen, obwohl es spannend war, aber ich konnte nicht mehr, ich konnte nicht mehr, liebes Spanien, es tut mir Leid, deine Träume zerbrachen in dieser Nacht, aber ich träumte von etwas anderem …
Brasilien gegen Japan – da habe ich erstmals abgeschaltet, es stand schon 3 : 1 für Brasilien, und vom 4 : 1 habe ich im Bett liegend gehört, denn hundert Meter von unserer Wohnung entfernt befindet sich ein Biergarten, in dem eine Leinwand stand. Die Torschreie drangen bis ins Schlafzimmer: Public Viewing, private listening.
Wenn ich während der Vorrunde nicht einschlafen konnte, murmelte ich Namen der Spieler der Elfenbeinküste: Arouna Koné, Bakary Koné, Kolo Touré, Yaya Touré, Siaka Tiené, Abdoulajé Meité, Emmanuel Eboué …
Deutschland gegen Schweden: Ich sah es auf einem Kindergeburtstag. Eltern und Kinder versammelten sich vor dem Fernseher. Dann die deutsche Hymne. Die Zehnjährigen erhoben sich langsam, legten einander die Arme auf die Schultern und sangen mit zarten Stimmen, zögernd zunächst, nicht bis zum Schluss textsicher, aber doch: »Einigkeit und Recht und Freiheit …
«Ein anrührender Moment. Und wissen Sie was?
Ich habe mitgesungen.
Aber ich habe keine Deutschlandfahne aus dem Fenster gehängt und auch keine am Auto befestigt. Ich kann das nicht. Nichts dagegen, wenn die Leute das tun, ich tue es nicht, gerade weil viele Leute es tun. Nach dem Sieg gegen Schweden war ich allerdings in der Stimmung, an einem Autokorso teilzunehmen, um meiner Freude Ausdruck zu verleihen. Bloß hatte ich das Spiel in einem kleinen Dorf im Chiemgau gesehen, von dem aus ich abends in ein anderes kleines Dorf fuhr. Nirgends ein Auto. Bloß Kühe, die mich mit Ronaldohaftem Blick betrachteten und mein Hupen nicht würdigten.
Wo war eigentlich Normaldeutschland während der WM, das mürrische Standarddeutschland unserer sonstigen Tage? War es – weg?Nein, ich bin ihm begegnet, mitten in München, am Abend nach einem großen Spiel. Da radelten wir durch die Stadt, saßen für ein Stündchen im Hofgarten, radelten wieder heim und kamen an einer Buchhandlung vorbei. Es war Viertel vor zehn, und die Buchhandlung hatte geöffnet.
Ich bin jetzt fünfzig Jahre alt, aber noch nie habe ich erlebt, dass abends um Viertel vor zehn eine deutsche Buchhandlung geöffnet hat. Wir stiegen von den Rädern, um uns die Sensation anzusehen. Betraten den Laden, während eine Verkäuferin die ersten Buchständer vom Trottoir nach drinnen schob.
»Was wäre das für ein ganz anderes Lebensgefühl, wenn es immer so wäre!«, schwärmten wir.
»NA, DANKESCHÖÖÖN!«, sagte gallig die Verkäuferin und schubste ihren Buchständer in den Laden. Weiter sagte die Frau nichts, sie lachte bloß höhnisch. Wir betraten den Laden nicht mehr froh, sondern im Gefühl, anderen Leuten die Zeit zu stehlen.
Ein paar Tage später, es war Samstagmittag und um fünf Uhr sollte Deutschland gegen Schweden spielen, rollte ich im Baumarkt gleich zwei schwere Einkaufswagen an die Kasse, begann auszupacken, während die Kassiererin schon Zahlen in die Kasse tippte, und bekam ein schlechtes Ge-wissen, weil hinter mir ein einzelner Herr mit einem Wagen heranrollte, in dem sich nur einige Topfpflanzen und eine Deutschlandfahne befanden. »Da hinter der Wand sind noch mehr Kassen«, sagte ich. »Da steht niemand an, Sie wären gleich dran.
«»Interessiert mich nicht«, knurrte er.
»Aber es sind nur fünfzig Meter.«
»Das Personal soll zu mir kommen. Ich geh nicht zum Personal. Ich bin nicht für die da, die sollen für mich da sein.«
»Da hinten sind sie auch für Sie da.«
Es half nichts, er murrte und wartete, eine Viertelstunde lang, denn ich hatte viele Sachen in meinen beiden Wagen. Er war fest entschlossen, sich von niemandem die schlechte Laune nehmen zu lassen, ich fürchte, nicht mal Podolski ist es gelungen.
Als wir das Schweden-Spiel sahen, kamen zwei Erwachsene eine halbe Stunde zu spät. Das Spiel hatte sie nicht genug interessiert, um pünktlich zu sein, sie verpassten eine der herrlichsten halben Stunden, die es im deutschen Fußball je gab, aber es war ihnen egal. Bemitleidenswerte Menschen, dachte ich. Wie kann man so gleichgültig sein!? Später fand ich es plötzlich großartig: dass Leute in der Lage sind, sich zu entziehen; dass sie einfach was anderes machen. Am liebsten hätte ich auch damit begonnen. Kein Interesse mehr am Fußball zu haben. Es ist mir nicht gelungen.
Ein Fernsehkommentator, dessen Namen ich vergessen habe: »Es steht mir wirklich nicht zu, die Bundeskanzlerin zu kritisieren, aber sie könnte ja auch mal ihren Mann mitbringen.
«Das ist Spießertum. So von unten leise maulen. Warum soll sich einer zum Fußball mitbringen lassen, dem Fußball schnuppe ist?
Unter den vielen Büchern, die zur WM erschienen sind, ist eines, das man unbedingt lesen sollte: Über Fußball von Jorge Valdano, dem gebürtigen Argentinier, später Spieler bei Real Madrid, Weltmeister 1986, Kolumnist, Schriftsteller, Trainer, Vorstandsmitglied bei Real. Eine anekdoten- und kenntnisreiche Sammlung kleiner Essays. Über den deutschen Fußball schreibt Valdano: »Bei jedem Spiel habe ich die Vorstellung, dass unter dem Rasen hunderte von kräftigen Deutschen sitzen und in die Pedale treten, rudern oder an einer Kurbel drehen. Ich glaube sogar, das Geräusch der laufenden Maschine zu hören: Rrrrrrrrr …«
So war das immer, so wollten wir nie sein, aber diesmal war es anders. Allein die erste halbe Stunde des Spiels gegen Schweden, die Podolski-Tore – die waren mir die ganze WM wert, unvergesslich, zum Jauchzen schön – und nirgends ein Rrrrrrrr, endlich mal kein Rrrrrrrrr, Rrrrrrrrr, überall nur Ohhhhh und Uiiiiiii …
Zu Anfang der WM las ich ein Interview mit Wolfgang Overath, dem Kölner Spielmacher der sechziger und siebziger Jahre. Overath wurde gefragt: »Sie haben Ihre größten Erfolge im Nationaltrikot gefeiert. Sind Sie noch Fan der Nationalmannschaft?« Overath antwortete: »Fan? Ich habe da 81-mal gespielt, ich drücke der Nationalmannschaft natürlich die Daumen – aber ich bin kein Fan im eigentlichen Sinne. Ich muss nicht bei jedem Spiel dabei sein. Da bewege ich mich doch lieber selbst und kicke mit ein paar Freunden.«
Nach einigem Nachdenken gefällt mir das. Maradona ist, wie man es noch von keinem anderen großen Ex-Fußballer erlebt hat, bei dieser WM wieder Fan geworden, aber auf eine exaltierte, narzisstische, zutiefst egozentrische Weise, in der es ihm nie um seine Mannschaft ging, immer nur um sich und sein Fernsehbild. Oder Pelé: dieser nichts sagende, immer lächelnde, von Geldgebern durch die Welt geschobene Mann. Oder Netzer: Wenn man früher als Ex-Fußballer einen Kiosk übernahm, so wird man heute Geschäftsmann und Fernsehexperte, vermischt im Idealfall beides und kommentiert das Treiben etwas blasiert: »Das sind nicht mehr meine Holländer, die mag ich so nicht.«
Tribünenkasper, Sponsorensklave, Schwatzmann, dann doch lieber Rückzug.
Karten habe ich nicht gehabt, für kein einziges Spiel. Lange vor der WM hatte ich an diesem komplizierten Kartenbeantragungsverfahren teilgenommen; nichts war mir »zugeteilt« worden. Alle Menschen, die dabei Glück hatten und die ich kannte, bekamen Karten für Saudi-Arabien gegen die Ukraine. In Hamburg.
Ich gab es rasch auf. Nahm’s nicht mehr wichtig. Saudi-Arabien! Ukraine! Am Ende wird es Terroranschläge während solcher Spiele geben, dachte ich, und wofür hättest du dein Leben gelassen?
Nach der Hälfte der Vorrunde hörte ich die Freunde sprechen: »Mein Gott, ich hätte nie gedacht, dass mir ein Spiel zweier so unbedeutender Mannschaften solch eine Freude …« – »Weißt du, normalerweise ist mir Fußball egal, aber nun hatte ich zwei VIP-Tickets für Brasilien gegen Australien geschenkt bekommen, und die Perfektion dieses Münchner Stadions, diese Leichtigkeit …« – »Drei Bekannte, alles junge Burschen, sind in Berlin über drei Zäune, dann durch eine Toilette umsonst ins Stadion gekommen, haben sich neben eine Gruppe von Behinderten gestellt und getan, als ob sie Betreuer seien – das ganze Spiel haben sie gesehen …«
Ich las im Spiegel: »Es ist nicht nur die Artistik der Körper, die Schönheit des Spiels, die Harmonie der Mannschaften, es ist die Menschenfreude in der Arena, von der man nicht genug kriegen kann … Die Menschheit feiert sich selbst in solchen Momenten, sie feiert ihre Kreativität, sie feiert ihre Vielfalt, sie feiert ihr Miteinander.«
Die Menschheit! Feiert! Sich! Selbst!
Ohne mich? Wirst du eines Tages, dachte ich, die Vorwürfe deines Sohnes aushalten, wenn er sagt: Vater, mein Vater!, damals die legendäre WM, die unser Land veränderte, sie war vor unserer Tür, und warum konnte ich als Bub kein Spiel im Stadion sehen?
Ich ertrug es nicht. Ging sofort auf eine Internetseite, wo Karten angeboten wurden, gab Adresse, Ausweisnummer, Kreditkartendaten ein und bestellte Tickets für Elfenbeinküste gegen Serbien-Monte-negro. Preise wurden nicht genannt. Wird schon nicht so teuer sein, dachte ich. Kaum hatte ich dies getan, dachte ich: Und wenn man tausende von Euro vom Kreditkartenkonto abbucht? Wenn du Betrügern aufsitzt? Wird dein Sohn eines Tages sagen: Vater, stimmt es, was Mama sagt, dass ich nicht zum Gymnasium durfte, weil du für ein Fußballspiel unser Leben ruiniert hast? Gott sei Dank bekam ich keine Karten.
Sehr schön ist es immer, Texte, die vor einem Ereignis geschrieben wurden, nach dem Ereignis zu lesen. Interessant in diesem Zusammenhang ein Interview, das die Fußballzeitschrift 11 Freunde mit dem brasilianischen Sozialwissenschaftler Roberto da Matta führte. Matta erläuterte den Unterschied zwischen dem europäischen und dem brasilianischen Fußballjargon. Während die europäische Metaphorik kriegerisch sei (Schlachtenbummler, Bomber, ein Verteidigungsbollwerk errichten), sprächen die Brasilianer in sexuellen Metaphern: der Torwart werde vernascht, das gegnerische Tor entjungfert. Mich würde interessieren, welche Analogien die Brasilianer für ihr lahmes Auftreten bei dieser WM gefunden haben.
Als die Elfenbeinküste zum ersten Mal spielte, nannte Reinhold Beckmann deren Trainer Henri Michel einen »Bonvivant«. In der darauf folgenden Ausgabe der Zeit sagte der Trainer Peter Neururer, Herr Beckmann gehöre »zu den größten Ärgernissen der WM« bisher. »Da sagt er doch, der Trainer Henri Michel sei ein ›Bonvivant‹! Das ist doch Angeberei, so was. Das sagt er doch nur, damit er dokumentieren kann, dass er auch drei Wörter Französisch kann. Der soll halt gleich sagen: Er ist ein Lebemann, meinetwegen, wenn das überhaupt einen Zuschauer interessiert.«
Beckmann beim nächsten Spiel der Elfenbeinküste: »Henri Michel hat längst die Coaching-Zone verlassen, ich meine, er ist doch sonst so zurückhaltend, dieser Lebemann aus Frankreich.«
Angesichts des erschöpft aufs Spielfeld sich erbrechenden Beckham, des nach dem Viertelfinale abreisenden Ronaldinho, des krötenhaft dreist im Strafraum der Kroaten herumlungernden Ronaldo: Das ist immer eine Freude, wenn der berechnete Hype um einzelne Figuren lautlos in sich zusammenbricht, was?
Anfang Juli hielten mein Sohn und ich ein Finale Deutschland gegen Frankreich für ausgemacht, also spielten wir es schon mal auf einer Wiese im Chiemgau aus. Ich war auf Grund meines hohen Alters Frankreich, mein Sohn Deutschland.
Leider hatten wir nur ein Tor zur Verfügung, also ordnete mein Sohn an, dass der Torhüter, nachdem er gehalten habe, zunächst einen weiten Abschlag machen müsse, dann diesem Abschlag hinterherzulaufen habe, um ihn aufzunehmen und dann aufs Tor zu spielen, während in dieser Zeit der andere Spieler ins Tor eile.
Es war also so, dass ich als Barthez einen Ball hielt, einen Abschlag machte, ihm hinterherrannte, ihn als Zidane aufnahm, ihn mir selbst als Ribéry zupasste und als Henry an meinem Sohn Lehmann vorbeischob.
Beide Mannschaften waren in Hochform. Es kam zum Elfmeterschießen. Vor dem fünften Elfmeter stand es 3 : 3. Dann ließ der plötzlich überraschend reaktionsschwache Barthez einen Schuss von Ballack durch, und der plötzlich ebenso überraschend fußlahme Zidane konnte seinen Elfmeter nicht verwandeln.
Deutschland war Weltmeister, eine Woche vor dem Finale.
Moral: Wenn’s drauf ankommt, kann ich nicht Frankreich sein.
Wir müssen nach vorne schauen. Wie wird diese Veranstaltung unser Land verändern? Und uns selbst?
Wird mein Briefträger nach gelungenem Briefaustragen auf Knien ins Postamt rutschen, den Oberbriefträger abklatschen und sich von der restlichen Briefträgermannschaft in die Cafeteria tragen lassen? Werden wir alle von kleinen Buben zur Arbeit geführt? Ist es angebracht, dass ich morgens vorm Schreiben die Nationalhymne singe? Dass die Angestellten der Bank vor Filialöffnung einen Kreis bilden und sich die aktuellen Zinssätze zuflüstern? Könnte es die Leistungskraft der Spenglerei um die Ecke heben, wenn der Lehrbub vor Arbeitsbeginn eine motivierende Ansprache hält, wie es bei Klinsmann die Ersatzspieler taten? Werden wir kompakt stehen? Gut gestaffelt? Mit hoher Aggressivität in die Begegnungen gehen?
Übrigens glaube ich nicht, dass die WM das Land verändern wird. Die Partystimmung war ja gerade deshalb so überbordend, weil man Gelegenheit hatte, eine Auszeit von einer Politik zu nehmen, die keiner mehr versteht, die niemand erklärt und die von Leuten gemacht wird, die wir nicht mögen. Stattdessen plötzlich: zwei Tore, elf gegen elf. Alles war einfach. Und es war sogar wichtig, dass man sich damit beschäftigte! Es hatte mit dem Schicksal des Landes zu tun. Aber eben in Wahrheit doch nicht wirklich.
Übrigens glaube ich doch, dass die WM das Land verändern wird. Ein heiteres, friedliches Fest gefeiert zu haben – das muss das Verhältnis der Menschen zueinander verändern.
Zwei Anmerkungen zum Gebrauch des Wortes »Stimmung«.Erstens kam der schönste Stimmungsbericht und gleichzeitig der einzig erträgliche vom ZDF-Korrespondenten Thurau nach dem Spiel Argentinien gegen Holland aus Buenos Aires, wo nämlich Thurau sich zwischen jubelnden Argentiniern aufgebaut hatte, um deren Stimmung zu beschreiben, was aber nicht gelang, weil sich die Stimmung sozusagen selbst beschrieb und Thurau eben des Jubels wegen gar nicht zu verstehen war, sondern stattdessen von armeschwenkenden, schreienden Männern zunächst teilweise verdeckt, dann in den Hintergrund gedrängt und schließlich von der Jubelmenge verschluckt wurde.
Stimmung aß Beschreiber auf.
Wenn ich zweitens im deutschen Fernsehen noch ein einziges Mal das Wort »Stimmung« höre, werde ich meinerseits in eine Stimmung geraten, in der ich den Fernseher aus dem Fenster auf die Straße werfen muss.
Meine sieben größten Irrtümer:
1. Brasilien kommt noch, sie werden sich von Spiel zu Spiel steigern.
2. Die französische Mannschaft ist total überaltert.
3. Spanien wird seine WM-Neurose überwinden.
4. Odonkor, na, ich weiß nicht, was will er mit dem?
5. Ronaldinho wird der Superstar dieser WM.
6. Wer Argentinien schlägt, wird Weltmeister.
7. Italien kommt nicht mal ins Viertelfinale.
Foulspieler, die ich nie wieder sehen will: Boulahrouz (Holland), De Rossi (Italien), Cufre und Rodríguez (Argentinien), Rooney (England), ja, auch dich, Rooney, für deinen Huftritt in die Lenden eines Portugiesen, und dann noch, schade, Figo (Portugal), den Kopfstoßer. In dieser Reihenfolge.
Und Zidane, mein Herr, was ist mit Zidane? Gehört er nicht in die Liste? Ach, Zidane… Mit ihm ist es etwas anderes. Den Moment, in dem er vom Platz gestellt wurde, werde ich nie vergessen. Es war das Finale und wir waren in einem Garten, und weil es ein besonderes Spiel war, sahen wir es nicht auf einem Fernseher. Sondern jemand hatte ein Betttuch an die Wand gehängt und einen Beamer aufgestellt, nun liefen auf dem Betttuch die Spieler umher, blau und weiß. Es hatte geregnet, ein kleiner Schauer, wir standen unter Schirmen, und ich war für die Franzosen, eigentlich waren alle im Garten für die Franzosen, oder sagen wir es so: Wir waren nicht für die Franzosen, wir waren für Zidane.
Es gehörte zum Allerschönsten dieser WM, dass er zurückkam. Dass man ihn in großer Altersform sah. Zidane, das ist alles in einer Person, was Fußball großartig macht: der Zauber im Umgang mit dem Ball, die unwiderstehlichen Dribblings, der machtvolle Sog Richtung Tor, die unablässige Arbeit beim Verfolgen des Gegners, der Pass aus dem Fußgelenk, der harte Schuss, der perfekte Elfmeter, die Schnelligkeit des Denkens, der Wille zur Herrschaft, der Mut. Auch in diesem Spiel war es so gewesen, er war besser denn je – und dann … Jeder weiß es. Der Ausruf des Reporters: Da sei etwas passiert, er wisse nicht, was. Da!, der Schiedsrichter laufe dorthin. Dann die Bilder. Materazzi. Der Kopfstoß. Und noch mal der Kopfstoß. Und noch einmal, ächz, in Zeitlupe.
Für mich war das Finale in diesem Moment vorbei. Es war mir egal, wie es ausging. Ich war für Zidane gewesen, und nun konnte ich nicht mehr für Zidane sein.
Glücklich der Mann, der einmal selbst Fußballbilder sammelte und nun die Weltmeisterschaft zusammen mit einem Sohn im Fußballbildersammelalter erleben durfte. Einer dieser Männer war ich. Fußballbilder: Das ist die goldene, unwiederbringliche Zeit unkritischster Verehrung und gleichzeitig des äußersten Pragmatismus. Man hört Sätze wie: »Mir wär’s recht, wenn Australien gegen Italien weiterkäme, weil Italien habe ich schon voll und bei Australien fehlen mir noch vier.« Oder: »Jetzt ist Costa Rica schon ausgeschieden, und mir fehlen immer noch zwei Bilder von denen.«
Nationalmannschaften, die ich nie wieder sehen will: England, ja, eigentlich nur England. Und Holland. Und die Schweiz mit ihren albernen Elfmeterschützen.–
Zum Tollsten gehörte, dass man Fußball auf eine neue, kultivierte Weise erleben konnte, weil einem Herr Klopp im ZDF Fußball erklärte, als gehöre man zu seiner Mannschaft und säße in der Kabine. Und die Zeitungen, voll von Taktikanalysen! Das alles wird unser Geschwätz auf eine neue Ebene heben. Ich höre mich Sätze sagen wie: »Am meisten fasziniert hat mich am Spiel, wie Makelele und Vieira jeden Angreifer im Grunde schon vor der Abwehr abfingen.« Oder: »Die Italiener entwickeln ihr Spiel immer durch die Mitte, dem muss man natürlich durch frühes Aufrücken der eigenen Außenverteidiger begegnen, um den italienischen Außen das Aufrücken ihrerseits schwerer zu machen.«
Oft versuche ich, mir vorzustellen, wie die Veranstaltung im Sommer 2005 abgelaufen wäre. Wenn die Deutschlandfahnen nass und schlapp herabgehangen hätten. Ob unsere Mannschaft auch so gut gewesen wäre? Ob es eine Patriotismusdebatte gegeben hätte?
Die wichtigste Erkenntnis der vergangenen Wochen ist: Dringlicher als alles braucht das Land dauerhaft besseres Wetter.
Warum ich mich auf die Bundesliga freue: weil Fußball wieder Fußball ist und nichts als Fußball und nichts bedeutet als Fußball und nichts aussagt über deutsche Politik, deutsche Psyche, deutsche Konjunktur. (Worüber der WM-Fußball auch nichts aussagte, aber das wussten die Aufsatzschreiber und Leitartikler nicht.)
Während der Vorrunde las ich in der Zeit ein Gespräch mit dem großartigen Maler und Bildhauer Markus Lüpertz, der auf die Frage, ob er Angst habe zu sterben, antwortete: »Panische Angst. Ich werde nachts manchmal davon wach. Die Vorstellung, dass ich sterbe und die Leute lieben und lachen und leben weiter, ist unerträglich.« Na, nun, dachte ich, der Mann hat Sorgen. Wir können uns nicht alle umbringen, wenn er eines hoffentlich fernen Tages stirbt. Dann fiel mir ein, wie schrecklich, verglichen mit dem Tod, das Ausscheiden bei einer WM ist: Nicht nur, dass man nicht mehr dabei ist, wenn die anderen lieben und lachen. Man muss ihnen sogar dabei zuschauen. Na, nun, dachte ich, ich habe Sorgen.
Nach dem Spiel gegen Italien ging ich durch mein Viertel. Überall Leute, die versuchten, mit der Sache fertig zu werden, alles gedämpft, eingerollte Fahnen, Menschen auf dem Heimweg. Dann und wann preschte ein Auto mit lang gezogenem Hupen durch die Straße, jauchzende Italiener darin, die Fahne wehend. (Nichts Ungewöhnliches in München, die feiernden Freunde. Ein paar Tage später, am Morgen nach dem Gewinn des Titels, kurz vor halb acht, traf ich acht fremde Italiener vor einem Café in der Innenstadt. Sekunden später hatte ich grün-weiß-rote Streifen im Gesicht.)
Aus irgendeinem Grund machte mir die Niederlage wenig aus. Schon vor dem Spiel war ich in eine gleichgültige Stimmung gefallen. Fußballmüdigkeit? Vorbauen für den Fall der Niederlage?
Kann sein, dass mir alles zu viel geworden war: das Schimpfen auf die Italiener, ihren defensiven Fußball, ihre Bestechungsskan-dale, ihre Schwalbenkönige, ihre Wehleidigkeit, ihr brutales Austeilen. Ja, stimmte alles! Aber es war überzogen, fast hasserfüllt.
War nicht überhaupt die beste Zeit der WM die am Anfang, als man schüchtern erste Fahnen zum Fenster hinaushängte? Die Deutschen sind am sympathischsten im Selbstzweifel, am unangenehmsten im Auftrumpfen. Dass nun, zum Halbfinale, Autos oft zwei deutsche Fahnen hatten, standartengleich rechts und links, parallel wehend – das sah nach »ordnungsgemäßer Beflaggung« aus.
Und es war doch ein schönes Spiel geworden. Die Italiener hatten nicht gespielt wie Italiener. Besteht nicht die größte Leistung eines Sportlers im anständigen Verlieren? Mir fiel die Weltmeisterschaft vor acht Jahren ein, die Exzesse der Gewalt deutscher Hooligans in Lens, die Straßenschlachten zwischen Engländern, Tunesiern und Franzosen in Marseille. Wie großartig war dagegen das hier! Friedliches Heimgehen.
In einer Bar traf ich P., den alten Freund. Er tröstete einen jungen Mann, der über die Niederlage schlecht hinwegkam: ein Asiate mit schwarz-rot-goldenem Hula-Band um den Hals. Er stamme aus Laos, sagte P., er kenne den Weinenden vom Volleyball im Schwulen-Sportklub. Sein Arbeitgeber sei Italiener, jammerte der Junge, man stelle sich vor, was das für einen Fan der deutschen Elf bedeute: einem Italiener zu Diensten sein zu müssen!
Das war das Letzte, was ich sah, bevor ich heimging: einen schwulen laotischen Volleyballer, der sein Geld bei einem Italiener verdient und das Schicksal der deutschen Mannschaft beklagt.
Weltmeisterschaft, so gefielst du mir.
»Eine WM im eigenen Land erleben wir nie mehr.« (Beckenbauer). Wie sagte meine Großmutter immer? »Alt werden ist nicht schön.«