Als Ende vergangenen Jahres ein Linienrichter in den Niederlanden nach einem Jugendspiel so schwer verprügelt wurde, dass er kurz darauf starb, wurde die Frage diskutiert, ob ein solcher Gewaltexzess unter jungen Spielern auch in Deutschland denkbar sei. Glücklicherweise hat es im deutschen Fußball noch keine vergleichbare Attacke gegeben; die Verantwortlichen aller 21 Landesverbände sind sich aber einig, dass das körperliche und verbale Gewaltpotenzial auf den Plätzen ein Problem darstellt, das mit aufwendigen Mitteln bekämpft werden muss. Bei einem Berliner Amateurspiel kam es im Herbst 2011 etwa zu einem schweren Übergriff auf den Schiedsrichter; der Mann blieb nur deshalb am Leben, weil seine im Hals steckengebliebene Zunge rechtzeitig herausgezogen wurde.
Die Spielberichtsbögen auf diesen Seiten stammen von aktuellen Jugendspielen in Berlin, Hessen und Bayern. Normalerweise enthält ein solcher Bogen einfach die Namen und Passnummern der Fußballer und das Ergebnis; nur bei außergewöhnlichen Vorfällen wird ein sogenannter Sonderbericht an das zuständige Sportgericht geschickt. Diese Berichte, zum Teil von selbst noch jugendlichen Schiedsrichtern verfasst, sind in ihrer um Seriosität bemühten, manchmal etwas unbeholfenen Sprache anrührende Dokumente. Sie lassen erkennen, dass solche Eskalationen zwar immer noch eine Ausnahmeerscheinung sind, zumindest in manchen Ballungsräumen aber regelmäßig auftreten. In einer gerade veröffentlichten Umfrage unter mehr als tausend bayerischen Schiedsrichtern geben etwa 90 Prozent der Befragten an, sich bei ihren Spielen sicher zu fühlen; 40 Prozent aber äußerten sich auch besorgt über die jüngsten Entwicklungen der Atmosphäre auf dem Fußballplatz.
In den letzten Jahren haben die Verbände deshalb verschiedene Strategien zur Verhinderung von Gewalt entwickelt. So sollen konkrete Steuerungsmaßnahmen die Stimmung auf dem Platz von vornherein beruhigen. Fast überall in Deutschland gilt inzwischen die Regel, dass Eltern bei Kinder- und Jugendspielen nicht mehr direkt an der Seitenauslinie oder hinter dem Tor stehen dürfen; es sind vielmehr »Fan-Zonen« am Rand der Sportanlagen vorgesehen. Wer schon einmal die brüllenden Väter und Trainer von der F-Jugend aufwärts erlebt hat – zumeist frühere Fußballer, minder talentiert, die in ihrem Sprössling den eigenen Traum vom Profi verwirklichen wollen –, versteht die Notwendigkeit dieser Einrichtung. In manchen Bundesländern, wie in Berlin oder Bayern, sind an jedem Spieltag auch rund zwei Dutzend »Konfliktmanager« unterwegs, die als riskant eingestufte Partien beobachten. Und Spiele von Kindermannschaften werden in bezirksweiten Pilotprojekten immer häufiger ganz ohne Schiedsrichter durchgeführt, um die Spieler darin einzuüben, sich untereinander
in aller Fairness über strittige Entscheidungen zu einigen.
Ein zweiter Schwerpunkt neben der Unterbindung von Aggression auf dem Platz betrifft die intensivere Betreuung auffällig gewordener Spieler. In Berlin gibt es seit einiger Zeit etwa die Einrichtung der »Anti-Gewalt-Kurse«. Nach wiederholten oder besonders schwerwiegenden Schlägereien und Beleidigungen eines Spielers spricht das Sportgericht außer einer Sperre auch den verpflichtenden Besuch eines solchen Kurses aus. In bis zu fünf Sitzungen à drei Stunden sprechen die Jugendlichen mit Psychologen über ihr Verhalten. »Der Erfolg dieser Kurse ist erfreulich«, sagt Gerd Liesegang, Vizepräsident des Berliner Fußballverbands. »Wir hatten bislang 350 Teilnehmer, und nur zwei von ihnen sind rückfällig geworden. Es hilft, wenn die Jugendlichen die Vorfälle auch einmal aus ihrer Perspektive erzählen können.«
Funktionäre wie Liesegang arbeiten in ihrem Verbandsgebiet mit Tausenden von ehrenamtlichen Helfern zusammen – Jugendleitern, Trainern, Betreuern –, die Woche für Woche fast ihre ganze Freizeit in den Vereinsfußball investieren. Das Bewusstsein für die pädagogische Verantwortung dieser Tätigkeiten wird offensichtlich immer größer. Nach der Lektüre dieser Spielberichtsbögen ist es allerdings nicht verwunderlich, dass ein bestimmter Posten im Jugend- und Amateurfußball in den letzten Jahren unter akutem Nachwuchsmangel leidet: das Amt des Schiedsrichters.
Fotos: André Mühling