»Papa? Die Leute sagen, im Zehnten gäbe es eine Fusillade. Was ist eine Fusillade?« - »Eine Schießerei.« - »Und wo ist das Zehnte Arrondissement?« - »Im Norden, irgendwo zwischendrin.«
»Papa« ist einsilbig und hat gerade andere Probleme. Pogba hat zum wiederholten Mal die deutsche Abwehr geprüft und ich überlege mir, wie ich am Montag den spottenden französischen Kollegen gegenübertreten soll, wenn das so weitergeht. Hier spielt Frankreichs Goldene Generation gegen einen müden Weltmeister. Das war damals schon sichtbar, vor drei Jahren, am 13. November 2015 im Stade de France.
Es ist unser erster Besuch im Nationalstadion. Für den Gästeblock des DFB gab es keine Karten mehr, also sitzen wir mittendrin in der blau-weiß-roten Menge. Auf unserem Platz liegt eine Tricolore mit Pappenstiel bereit, mein Sohn wiegt sie nachdenklich in der Hand, bevor er sie mit Nachdruck auf dem Nachbarsitz ablegt. Wir ziehen die schwarz-rot-goldenen Schals fest, die umgebenden Franzosen nicken uns aufmunternd zu.
Das Spiel wogt, Jogi Löw wandert in der Übungsleiter-Zone umher, die Herbstnacht ist kalt. Nach 20 Minuten hören wir einen lauten Knall. »War das eine Explosion?«, fragt der Sohn, und der Vater spricht den Satz, der in die Familiengeschichte eingehen wird: »Das war nur ein Böller. Eine richtige Explosion wäre viel lauter. Ich hab das bei der Bundeswehr oft erlebt.« Mit der Pubertät, so sagt man, begänne der Zweifel an der Unfehlbarkeit des Vaters. Bei meinem Sohn hat die Pubertät so gesehen im Stade de France begonnen.
Das Telefon und die Push-Nachrichten bleiben in der Tasche, was soll an so einem Abend im französischen Herbst auch sonst noch Wichtiges geschehen? In der 45. Minute schießt Giroud das 1:0. Das Stadion jubelt, wir sitzen einsam. Gignac schiebt in der 86. noch einen nach. Deutschland verliert 0:2. Der Stadionsprecher verkündet im Ton einer Bahnhofsdurchsage, dass die Osttore geschlossen seien, es hätte ein »externes Ereignis« gegeben und man solle doch bitte die anderen Ausgänge benutzen. Wir bahnen uns einen Weg unter den Tribünen hindurch, durch dämmrige Kanäle zwischen Beton, Toilettentüren und verwirrenden Treppenläufen.
Plötzlich kommen uns Menschen aus dem Dunkel entgegengerannt, die Leute neben uns machen kehrt und schon laufen auch wir beide, versuchen uns an den Händen zu halten, nicht zu stolpern und uns nicht zu verlieren. Das ist Massenpanik in ihrer embryonalen Form, sie ergreift vielleicht hundert Menschen, dauert keine zwei Minuten und lässt doch erahnen, wie Angst in einer Kettenreaktion zu einer rücksichtslos brandenden Welle werden könnte.
Die Menschen sammeln sich auf dem Spielfeld. Das hell erleuchtete Oval, von ein paar tausend Fußballfans bevölkert, wirkt zunächst fast behaglich. Viel mehr jedenfalls als die düsteren Gänge unter den Tribünen, die in die ungewisse Welt vor den Toren führen. Denn dort draußen - so viel haben wir auch ohne präzise Informationen verstanden - liegt eine Bedrohung, die im Moment niemand in Worte fassen kann. Auf dem Rasen stehen wir für unbestimmte Zeit. Die daheim gebliebene Mutter wird per SMS gewarnt: »Wir bleiben noch im Stadion, mach dir keine Sorgen.« - »Warum soll ich mir Sorgen machen?«, fragt sie. Fußball schauen ist nicht ihr Ding. »Mach den Fernseher an.« Ein paar Sekunden später kommt ein »Merde!« zurück. Dann bricht das Netz zusammen.
Wir machen unsere letzte Packung Kekse auf und versuchen ruhig zu bleiben. Vor uns können wir die elegante, sichelförmige Spur einer perfekten Grätsche erkennen, mindestens einen Meter lang. Von wem ist die wohl? Boateng oder Hummels? Das Ablenkungsmanöver des Vaters fruchtet nicht. Der Sohn steht wie versteinert, Tränen laufen über seine Wangen und er spricht den zweiten Satz für die Familiengeschichte: »Ich möchte in die Schweiz zurück«, sagt er langsam und bestimmt, jedes Wort einzeln betont. Dort wurde er geboren, er hat nur diffuse Erinnerungen an ersten Lebensjahre dort und doch haben es unsere Erzählungen geschafft, das Land als Hort des Friedens und der Ordnung zu verankern: Kühe, Bergseen und Schokolade statt Angst in einer Menschenmenge.
Dann müssen wir aus dem Stadion raus. Der Sprecher meldet sich wieder und bittet uns, die Anlage über die Westtribüne zu verlassen. Langsam machen sich Tausende auf den Weg, die Treppen hoch, unter den Tribünen durch, hinaus ans Licht. Die Erinnerungen an das »Draußen« sind diffus; blendende Scheinwerfer, huschendes Blaulicht, das Klopfen der Hubschrauber, eine eigenartige Ruhe auf den Straßen, die in diesem von Autobahnen durchzogenen Vorort bedrohlich wirkt.
Wir bewegen uns vorwärts ohne eine bewusste Entscheidung, geleitet von einem langgezogenen Menschenwurm, der Haltestelle der Stadtbahn entgegen. Polizeiautos blockieren die Seitenstraßen, wir laufen durch ein Spalier von Polizisten. Die Männer und Frauen tragen Schutzwesten über der Zivilkleidung und manche eine Maschinenpistole vor der Brust. Sie halten die Taschenlampen auf Kopfhöhe - ein Bild, das wir bis dahin nur von aufgeregten Polizisten in Vorabendkrimis kannten. Auch bei den echten Beamten hier ist die Nervosität fühlbar; sie leuchten in die vorbeiströmende Menge, die sie zu schützen haben, aus der heraus aber auch ein neuer Angriff stattfinden könnte.
Die Nachrichten aus der Innenstadt lassen nichts Gutes verheißen. Einen Moment überlegen wir, ob es nicht besser wäre, die Menschenmenge zu verlassen, durch das Zwielicht der angrenzenden Büroviertel nach Westen zu laufen zur Metro. Doch wir bleiben. Ein paar deutsche Fans fragen uns nach dem Weg und mit den wenigen, in der Muttersprache gewechselten Sätzen entsteht eine Insel von Frieden und Einvernehmen inmitten von Chaos und Gewalt.
Im Zug dann erleichterte Gesichter, das Gefühl, erst mal entkommen zu sein. Doch schon an der nächsten Station ist die Fahrt zu Ende. Der Nordbahnhof, der an Wochentagen einem Ameisenhaufen gleicht, ist fast menschenleer. Nur Polizisten mit Hunden markieren den Weg zum Ausgang. »Vite, vite« rufen sie, »schnell, schnell«. Wir gehen zügig, ohne zu verstehen, was denn genau aus dem Dunkel der Hallen so bedrohlich sein soll.
Auf dem Bahnhofsvorplatz liest der Sohn eines der Straßenschilder, auf denen immer auch die Nummer des Arrondissements vermerkt sind. »Papa, wir sind in der Sch… Das Zehnte ist hier!«, ruft er erschrocken aus. Damit liegt er gar nicht so falsch. Man solle sich nicht in den Straßen aufhalten, wird uns gesagt, dort würde auf Passanten geschossen. Wir verwerfen also die Idee, nach Hause zu wandern und beschließen, zur Gare de l'Est rüberzugehen. Das sind 400 Meter durch ein paar dunkle Gassen, die sensible Paris-Touristen auch in Nächten ohne Terrorangst meiden. Wir ziehen unsere Schals aus den Jacken und drapieren sie gut sichtbar auf den Schultern. »Wir sprechen laut Deutsch, kein Wort Französisch«, ordne ich an.
Das ist ein Akt der Verzweiflung, geboren aus einem nicht zu Ende gedachten Gedanken, dass das Gegenüber mit der Waffe im Anschlag doch Frankreich verletzen möchte und nicht den Westen, dass er unterscheiden würde zwischen Zielgruppe und Zuschauer, oder sich sogar wohlwollend einer längst vergangenen Arabisch-Deutschen Interessengemeinschaft erinnert. Das mag im Nachhinein schwachsinnig oder gar beschämend sein, in diesem Augenblick aber sind alle Mittel recht, den Sohn und das eigene Leben zu retten.
Die Metro riecht wie gewohnt, heimatlich fast, nach Funkenflug, Staub und abgeriebenem Gummi. Zwei Metrolinien sind außer Dienst. Auf der dritten zuckelt nach endlosem Warten quietschend eine Bahn ein. Die wenigen Fahrgäste sitzen schweigend. Der Zug bringt uns fast bis nach Hause, von der Metrostation sind es nur hundert Meter bis zur Haustür. Jetzt dürfte uns nichts mehr passieren. Wir machen dennoch einen kleinen Umweg; an der Ecke hat der »Araber« noch geöffnet, so heißen in Paris die Spätis. Der Patron schiebt mir eine Dose Bier rüber. »Macht zwei Euro.« - »Merci.« Er und ich haben immer nur das Nötigste miteinander geredet, und dankbar nehme ich zur Kenntnis, dass sich das auch heute Abend nicht ändert - für einen Moment ist es, als ob das normale Leben wieder die Oberhand gewinnen könnte.
Die wiedervereinigte Familie versammelt sich vor dem Fernseher. Erschöpft und sprachlos starren wir auf den Bildschirm. Erst morgen werden wir erzählen und gar nicht mehr damit aufhören. Heute Nacht aber wollen wir verstehen, was uns widerfahren ist. Die Live-Schaltungen berichten vom Bataclan-Theater, wo um diese Zeit das Sterben noch nicht zu Ende ist. Am Montag werde ich erfahren, dass mein Kollege Olivier mit seinem Sohn beim Konzert der Band Eagles of Death Metal war. Der Sohn hat unverletzt überlebt, Olivier wurde ermordet.
Das Bataclan und die Namen der anderen Anschlagsorte werden bis heute kaum ohne Erinnerung an diese Nacht ausgesprochen. Immer wieder gab es in Frankreich danach Zwischenfälle, willkürliche Attacken oder gezieltes Töten, mal ganz nah, mal beruhigend fern. Die Halbwertszeit unserer Unruhe nach diesen Attacken nahm aber beständig ab. Immer rascher gleiten die Gespräche wieder ins Unverfängliche ab und respektieren das ungeschriebene französische Gesetz, dass man von Sex sprechen darf, nicht aber von Politik und Religion. Die Stadt hat nach ein paar Monaten ihre Leichtigkeit wieder gefunden.
Wir finden es heute normal, dass bei größeren Festen, Demonstarationen oder Gedenkfeiern die Zugänge von Betonblöcken oder quergestellten Lastwagen blockiert werden. Die jungen Soldaten, die in Dreiertrupps mit Kampfanzug und Sturmgewehr durch die Innenstadt patrouillieren, werden nicht mehr belächelt. Und bei sehr großen Menschenansammlungen geht mir ein »hier würde es sich lohnen« durch den Kopf.
»Papa«, hat mein Sohn mich vor ein paar Wochen gefragt mit seiner inzwischen kratzigen, brechenden Stimme. »Wann hast du im ganzen Leben am meisten Angst gehabt?« Ich denke kurz nach, weiche aus. »Und du?« Er schaut mich an. »Im Stade de France, damals.« Ich nicke stumm. Ja, ich auch.