Was Joschka Fischer am 12. Dezember 1985 trug, weiß jeder. Er kam mit Jeans und Turnschuhen zur Vereidigung in den hessischen Landtag. Damals war das ein Skandal. Rund dreißig Jahre später saß sogar eine CSU-Abgeordnete im Bayern-Trikot im Bundestag, und wenn man sich draußen genauer umschaut, weiß man, in welche Richtung es die nächsten dreißig Jahre geht: Da vorn im Plenum wird jemand in Jogginghose stehen.
Nicht in irgendeiner natürlich. Weniger die Sylvester-Stallone-Variante aus Rocky I und II, sondern ein bisschen edler und womöglich – wie damals die Schuhe von Fischer – von Nike. Eine Umfrage unter US-Jugendlichen ergab jedenfalls kürzlich zwei klare Tendenzen: Teenager, interessanterweise vor allem aus Familien mit höherem Einkommen, tragen immer weniger Denim, dafür teure Leggings und Sweatpants; die Hose mit elastischem Gummibund ist gewissermaßen die Jeans der nächsten Generation. Und: Deren mit Abstand beliebteste Marke ist Nike.
Mag sein, dass die USA weit weg sind und mit land of the free immer schon eine ganz andere Bewegungsfreiheit gemeint war, aber die Anfänge sind überall zu beobachten. Bei Bosch und Siemens gibt es keinen Krawattenzwang mehr, der Daimler-Chef Dieter Zetsche ist am liebsten ohne Schlips unterwegs, bei der Hamburger Sparkasse wurden Anzüge und Kostüme dieses Jahr zugunsten einer eigenen »Business Casual«- Uniform abgeschafft. Aus dem Casual Friday ist der Casual Everyday geworden. Erst recht in der Start-up-Szene. Wer da im Zweireiher aufläuft, kriegt zur Strafe wahrscheinlich eine Woche Smartphone-Entzug.
Natürlich gibt es noch jede Menge Männer, die Anzug tragen. Einige von ihnen interessieren sich womöglich sogar dafür, welche Schnitte in Mode sind. Nur interessiert sich die Mode wenig für den Anzugträger. Bei den Männerschauen für diesen Winter waren bei Saint Laurent lediglich drei Anzüge zu sehen. Bei Bottega Veneta fünf. Bei Prada ein einziger, ohne Hemd drunter. Vor acht Jahren waren es noch dreimal so viele.
Zu formell, zu uniform, zu langweilig – ein Anzug ist nichts, was auf Instagram für Aufsehen sorgen würde. Stattdessen lässige Hosen, Sweatshirts mit Nieten, Pyjamahemden. Die klassischen Ein- und Zweireiher werden noch produziert, aber nicht mehr präsentiert, sie wandern direkt in die Geschäfte. Auch dort sind sie nicht mehr so gefragt wie noch vor einigen Jahren. Der Umsatz mit Herrenmode insgesamt wächst, aber der Anteil an Anzügen schrumpft kontinuierlich. Und wenn es mal wieder einer sein soll, dann lieber gleich nach Maß.
Das macht die Sache abwechslungsreicher, aber auch unübersichtlicher. Das Empfangspersonal ist heute manchmal besser angezogen als die Abteilungsleiter. In kreativen Berufen sind Hierarchien äußerlich kaum noch abzulesen. Der Typ in Turnschuhen, Sweatshirt, Bomberjacke? Könnte der Systemadministrator sein, aber ebensogut der Chef. Und kommt die Sekretärin in Leggings und Sweatshirt gerade vom Sport? Geht sie noch? Oder ist das nur dieser Athleisure-Trend, von dem gerade die Rede ist – athletisch angehauchte Alltagsmode, die sogar eine Marke wie Versace Trekking-Anoraks auf dem Laufsteg zeigen lässt? Horden von Mittdreißigern laufen in Hoodies herum, die bis vor Kurzem ins Raster der Terrorfahndung geführt hätten.
Wenn jetzt obendrein das Homeoffice seinen Siegeszug antritt, gibt es für noch mehr Leute keinen Grund, sich morgens zurechtzumachen. In den USA arbeitet bereits jeder Vierte auch von zu Hause. In den Niederlanden dürfen Arbeitnehmer ihr Recht auf Heimarbeit einklagen, wenn es die Aufgabe zulässt. In Deutschland stagniert die Quote der Homeoffice-Tätigen bei zwölf Prozent. Vom Bett geht es mit der Müslischüssel dann oft direkt an den Computer. Sieht ja niemand, dass die Haare zuletzt vorgestern gewaschen wurden. Dafür hat man, statt zu duschen und zu föhnen, schon um 8.25 Uhr die erste Mail beantwortet. Und weil sich die Mühe irgendwann auch nicht mehr lohnt, holt man sich mittags, Parka drüber, nur schnell was zum Mitnehmen.
Laut aktuellen Untersuchungen hat es durchaus Vorteile, wenn es am Arbeitsplatz alle bequem haben. In Umfragen geben Mitarbeiter an, entspannter und produktiver zu arbeiten, wenn sie angenehme Kleidung tragen. Die Marke Betabrand brachte als Anzughose getarnte Yogapants heraus – mit riesigem Erfolg. Wenn dann alle gemeinsam in ihren elastischen Hosen auf dem Designerstuhl lümmeln, ist womöglich sogar der Umgang kollegialer, glaubt Michael Slepian von der Columbia Business School, Autor der Studie The Cognitive Consequences of Formal Clothing: »Je höher das Wohlfühllevel, desto wahrscheinlicher ist auch eine bessere Kameradschaft«, meint Slepian. Was die Studie außerdem ergab: Lockere Kleidung lässt Mitarbeiter weniger abstrakt, sondern konkreter denken – hilfreich etwa beim Programmieren oder beim Planen einer Produkteinführung. Mit formeller Kleidung wiederum fühle man sich überlegener, weil es nicht die Art von Kleidung sei, die man unter Freunden trägt, erklärt Slepian. »Man erscheint distanzierter, objektiver, denkt auch auf einem höheren Level.« Und wenn die Old Economy auf die New Economy trifft? Auch dann zerfließen die Grenzen: Als Dieter Zetsche den Uber-Chef Travis Kalanick in Berlin traf, trug Zetsche plötzlich Jeans, gestreiftes Hemd und Turnschuhe.
»Active Wear« ist die am schnellsten wachsende Modesparte. Angenehme Materialien, fließende Schnitte, praktische Sachen für die Multitasking-Gesellschaft, die immer irgend- wo zwischen Familie, Arbeit, Sport und Langstreckenflug hin- und herspringt und keine Zeit findet, ständig zur Reinigung zu rennen. Und die breite Masse hat sich noch nie zurück in irgendeine Art von Korsett zwängen lassen. Es gibt zum Beispiel schon jetzt kaum mehr Jeans ohne Stretchanteil. Bald wird es womöglich nur noch Stretch geben, ohne Jeans. Dabei muss bequem ja nicht zwangsläufig schlabberig bedeuten. Allerdings kaschieren diese Sachen weniger, als ein ordentlicher Schnitt es kann. Es wird also vermutlich nicht leichter, sondern schwieriger werden, in sportlichen Sachen gut auszusehen, ohne mal Sport zu machen. Billiger wird es sowieso nicht.
Karl Lagerfelds berühmtes Zitat, wer Jogginghosen trage, habe die Kontrolle über sein Leben verloren, ist jedenfalls hinfällig. Er selbst hat für Chanel schon Sweatpants entworfen.
Illustration: Mari Kanstad Johnsen