»John Cash hat mich ermutigt, einzigartig zu sein«

Die Countrysängerin Carlene Carter im Interview über ihre Mutter June Carter, ihren Stiefvater Johnny Cash und die große, alte Tradition der Carter Family, der sie entstammt und die sie am Leben zu halten versucht.

Foto: Marina Chavez/Rounder Records

Zu den großen Erzählungen der Country- und Rootsmusik gehört die Saga der Carter Family. Sie wäre schon bemerkenswert genug, wenn sie nur die Anfangsjahre umfasste: Am 1. August 1927 fuhren A.P. und Sara Carter zusammen mit ihrer Schwägerin Maybelle Carter von ihrem Wohnort Maces Springs, Virginia, ins nahe Bristol, wo der Talentscout Ralph Peer nach neuen Künstlern suchte und sofort das Potenzial der Carter Family erkannte. Bald darauf erschienen die ersten, ausgesprochen erfolgreichen Schellackplatten der Gruppe, und Sara Carters eindringlicher Gesang trug viel dazu bei, dass die Fiddler und Banjo-Spieler, die bis dahin die Hillbilly-Musik dominiert hatten, zurückgedrängt wurden und der eindringlich vorgetragene, gefühlvolle Song auf einmal im Zentrum der Countrymusik stand. Wie es mit der originalen Carter Family weiterging, kann ich hier jetzt nicht wiedergeben; ich möchte aber nachdrücklich das Buch Will You Miss Me When I'm Gone?: The Carter Family and Their Legacy in American Music von Mark Zwonitzer und Charles Hirshberg empfehlen, das diese Saga detailliert nacherzählt.

In den Fünfzigerjahren war Maybelle Carter jedenfalls die bestimmende Figur des Familienclans, die zusammen mit ihren talentierten Töchtern Anita, Helen und June auftrat. Die Sippe war fest verwurzelt in Nashville, Hank Williams war ein Freund der Familie, und June Carter heiratete 1955 den Countrysänger Carl Smith, damals ein großer Star. Ende der Fünfzigerjahre trat dann Johnny Cash ins Leben der Familie - erst engagierte er June für seine Show, dann auch ihre Mutter und Schwestern, die er bis Ende der Siebzigerjahre mit auf Tour nahm und auf der ganzen Welt bekannt machte. Die Verbindung wurde noch enger, als Johnny Cash und June Carter 1968 heirateten; bis zu ihrem Tod im Jahr 2003 blieben die beiden eines der prominentesten Musiker-Ehepaare.

Carlene Carter, geboren 1955, ist June Carters Tochter aus der Ehe mit Carl Smith. Sie war 13, als ihre Mutter Johnny Cash heiratete. Ihre Halbschwester Rosanne Cash hat mal geschrieben, Carlene hätte eine »wilde Ader«; jedenfalls bekam sie schon mit 16 ihr erstes Kind, mit 20 ihr zweites. Ende der Siebzigerjahre lebte sie in London und war mit Nick Lowe verheiratet, der auch zwei Alben von ihr produzierte; wirklich erfolgreich wurde sie aber erst 1990, nach ihrer Rückkehr in die USA, mit dem Album I Fell In Love. Der Kontakt zur Musiktradition, der sie entstammt ist, über all die Jahre nie abgerissen; so deutlich wie auf ihrem neuen schönen neuen Album Carter Girl, das gerade auf Rounder Records erschienen ist, hat sie ihre Herkunft aber noch niemals zuvor thematisiert. Vor kurzem hatte ich Gelegenheit, mit Carlene Carter zu telefonieren.

Meistgelesen diese Woche:

Carlene Carter, auf Ihrem neuen Album Carter Girl bekennen Sie sich zur Musiktradition der Carter Family, in der Sie aufgewachsen sind. Hätte es so ein Album auch schon früher geben können, oder sind Sie erst jetzt reif dafür?
Ich denke, erst jetzt kam der richtige Zeitpunkt für diese Platte. Ich habe so ein Album zwar schon seit Jahren im Hinterkopf, aber zum einen wollte ich mich immer selbst als Songwriterin profilieren, zum anderen waren früher noch viele andere Mitglieder meiner Familie aktiv und haben die alten Lieder gesungen. Meine Mutter, meine Großmutter und meine Tanten haben mir aber schon sehr früh gesagt, dass ich darauf achten solle, nie die Verbindung zu den Liedern der Carter Family zu verlieren.

Sie singen allerdings nicht die großen Klassiker wie »Wildwood Flower«, sondern haben weniger bekannte Songs ausgewählt.
Ich will auf der Platte einen Bogen schlagen über drei Generationen Carter Family hinweg: Es sind Songs der originalen Carter Family aus den Zwanzigerjahren drauf, aber auch ein Song meiner Mutter June und einer meiner Tante Helen, außerdem ein paar Songs, die ich selbst geschrieben habe, zum Beispiel »Me and the Wildwood Rose« – in dem Lied geht es darum, wie ich als kleines Mädchen zu den Auftritten der Carter Family mitgefahren bin, mit meiner Großmutter am Steuer, die wie ein geölter Blitz durch die Landschaft zu rasen pflegte.

Auf dem Cover des Albums halten Sie eine alte Gitarre im Arm. Gibt es eine Geschichte zu diesem Instrument?
Ja, die gehörte in der Tat meiner Großmutter Maybelle. John Cash hat sie ihr geschenkt, irgendwann in den Sechzigern. Auf den Steg der Gitarre hat er zwei kleine Aufkleber geklebt – zweimal den Buchstaben »M« für »Mother Maybelle«. Auf dieser Gitarre wurden schon viele Carter-Family-Songs gespielt, das können Sie mir glauben.

»Ich bin damit aufgewachsen, dass Großmutter, Helen, Anita und Mutter bei uns im Wohnzimmer saßen und neue Stücke geprobt haben«

Der Musiker Ry Cooder, mit dem ich vor ein paar Jahren gesprochen habe, behauptet, alte Gitarren würden besser klingen als neue. Wie sehen Sie das?
Im Prinzip genauso. Wobei ich auf dem Album meist meine Martin D-35, Sondermodell »Johnny Cash«, spiele, und die ist noch nicht so besonders alt. Ich habe aber auch eine alte Gibson Hummingbird gespielt, die meine Mutter 1960 geschenkt bekommen hat. Ich hatte die mal bei uns zu Hause gefunden, sie lag ungespielt in ihren Koffer, sogar das Preisschild war noch dran. Die Gitarre war wohl ein Geschenk von ihrem zweiten Ehemann, aber sie war gerade sauer auf ihn und hat deshalb nie darauf gespielt. Mama, kann ich diese Gitarre haben, habe ich gefragt. Mit sechzehn habe ich angefangen, mich ernsthaft für Gitarren zu interessieren, das war vor 42 Jahren, und demzufolge sind viele meiner Gitarren auch schon ziemlich alt.

Wann ist Ihnen klar geworden, dass Ihre Familie eine bis in die Zwanzigerjahre zurückreichende Geschichte hat und für die Countrymusik enorm einflussreich und stilbildend war?
Ich habe nie viel darüber nachgedacht – bis zu einem bestimmten Moment, als ich 17 oder 18 war. Meine Großmutter war ja Anfang der Siebzigerjahre zu Gast auf dem Album Will The Circle Be Unbroken von der Nitty Gritty Dirt Band und wir haben im Anschluss daran auch einige Konzerte in deren Vorprogramm gespielt. So auch diese Show in einem College in Morgantown, West Virginia, bei der meine Schwester Rosie, meine Schwester Rosanne Cash, meine Cousine Lorrie, mein Cousin David sowie Helen, Anita, Großmutter und ich als »The Carter Family« auftraten. Da saßen also 5000 Kids herum, rauchten Gras und blieben cool, als wir Jüngeren auf die Bühne gingen. Aber als meine Großmutter kam, sind sie plötzlich alle aufgesprungen und haben ihr zugejubelt. Dieses Ereignis hat mir die Augen geöffnet und mir gezeigt, wie einflussreich sie war.

Und dann haben Sie sich gezielt mit den Anfängen der Carter Family beschäftigt?
Wenn man sich denkt, wie alles angefangen hat, als sie damals Poor Valley, Virginia lebten... Sie mussten Großmutter über den Berg schieben, um in Bristol ihre ersten Aufnahmen zu machen, die war nämlich gerade im neunten Monat schwanger mit Tante Helen. Sie hatten damals nicht mal ein Grammophon – die ersten Schallplatten, die sie je gehört haben, waren ihre eigenen.

Haben Sie eigentlich auch noch A.P. Carter kennengelernt, den 1961 verstorbenen Gründer der Carter Family?
Ja, habe ich. Aber ich war noch sehr klein und kann mich kaum an ihn erinnern. Ich weiß noch, dass er immer in Bewegung war. Er ist ständig im Zimmer umhergegangen, irgendwie konnte er nicht stillsitzen.

Wie haben Sie die Songs der Carter Family gelernt?
Wie durch Osmose. Ich bin damit aufgewachsen, dass Großmutter, Helen, Anita und Mutter bei uns im Wohnzimmer saßen und neue Stücke geprobt haben. Außerdem habe ich natürlich unzählige Shows der Carter Family gesehen. Unser Sommerferien sahen so aus, dass wir mit der Carter Family quer durchs Land gefahren sind, um auf Volksfesten aufzutreten – meine Schwester Rosie und ich sind Karussell gefahren, während die Erwachsenen Musik gespielt haben. Aber wir mussten dann auch schon bald mitmachen: Sobald man in der Carter Family alt genug war, um zu singen oder ein bisschen Gitarre zu spielen, wurde man auf die Bühne geschubst.

Trotz dieser Prägung haben Sie auf Ihren eigenen Alben, die ab 1978 erschienen, aber nicht traditionelle Musik gespielt, sondern modernen Country-Pop.
Meine Mutter, meine Tanten und auch John Cash haben mich ermutigt, einzigartig zu sein und selbst Songs zu schreiben – ohne die Tradition zu vergessen. Immer, wenn mir bei der Produktion meiner eigenen Alben die Ideen ausgingen, habe ich mich wieder von der Musik der Carter Family inspirieren lassen. Heute würde ich alles geben, wenn ich noch einmal mit ihnen allen auf der Bühne stehen könnte. Deshalb hat es mich auch so gefreut, dass sie auf dem Alben alle nochmal dabei sind.

Wie war das möglich?
Ich besitze die Bänder des letzten Carter-Family-Albums, das Cowboy Jack Clement im Jahr 1986 mit Helen, Anita, meiner Mutter und mir aufgenommen hat; auch John Cash war als Gast dabei. Wir haben die Gesangsspuren von damals behalten und dazu neue Musik komponiert, so dass die Carter Family nun auf dem Track »Ain’t Gonna Work Tomorrow« singt, den ich schon als Kind immer geliebt habe.

Wie fanden Sie das eigentlich, als Ihre Mutter und Johnny Cash geheiratet haben?
Sehr aufregend. Meine Schwester Rosie und ich kannten ihn ja schon etliche Jahre und mochten ihn sehr. Unsere Mutter arbeitete mit ihm und ich wusste auch, dass sie ihn liebte, bevor ich es hätte wissen dürfen. Als er sich von seiner ersten Frau Vivian getrennt hatte und Mutter von Rip [Anmerkung: Edwin »Rip« Nix war June Carters zweiter Ehemann und der Vater ihrer Tochter Rosie], wurde es für uns ganz normal, mit John in den Urlaub zu fahren, zum Beispiel zum Angeln. Wir haben echt viel Zeit mit ihm beim Angeln verbracht! Eines Tages kam meine Mutter und hat uns erzählt, dass John sie gefragt habe, ob sie ihn heiraten wolle. Sie meinte, dass sie erst nach unserer Meinung fragen wolle, wir sollten uns die Angelegenheit gut überlegen. Rosie und ich sind also ins Badezimmer gegangen, um zu beraten. Wir mussten, dass Mama ihn liebt und wir fanden ihn auch toll, das einzige Problem war, dass wir ein bisschen Angst davor hatten, das Haus zu verlassen, in dem wir aufgewachsen waren. Aber als wir aus dem Bad wieder rauskamen, haben wir der Hochzeit natürlich zugestimmt.

Das war ganz schön schlau von ihrer Mutter.
Ja, wir fühlten uns ernst genommen ... nicht dass es irgendeinen Unterschied gemacht hätte, wenn wir nein gesagt hätten, die Hochzeit war nämlich schon geplant. Nach der Hochzeit sind wir nochmal in unser altes Haus gefahren. Mutter hat gesagt: Packt eure Lieblingssachen in einen Koffer, alles andere lassen wir zurück – wir fangen ein neues Leben an. Dieser Bruch war ein bisschen traumatisch, aber mit dem Umzug in Johns großes Haus am See begann dann doch eine sehr schöne neue Zeit.

Sie sind dann auch bald als Backgroundsängerin bei der Johnny-Cash-Show eingestiegen, oder?
Rosanne und Rosie haben das oft gemacht, mir kamen die Babies dazwischen, die ich schon als junges Mädchen bekommen habe. Aber wenn ich konnte, habe ich dort mitgesungen.

Was haben Sie vom Bühnenkünstler Johnny Cash gelernt?
Die Tatsache, dass ich zwei der großartigsten Performer so nah und so oft auf der Bühne erleben konnte, ist meiner Meinung nach die Ursache dafür, dass ich selbst absolut angstfrei bin, wenn ich auf der Bühne stehe. Ich bin mir sicher, dass ich mit jeder Situation fertig werde, weil ich alles schon einmal erlebt habe.

Warum sind die alten Songs der Carter Family so langlebig?
Ich finde es toll, dass ich diese Songs heute singen kann und dass sie immer noch aktuell sind. Ich denke, das liegt hauptsächlich daran, dass fast jeder die Gefühle kennt, die darin ausgedrückt werden. Aber wenn es keine guten Songs wären, würde das auch nichts nützen.