»Ich frage mich, was eigentlich bebt - ich oder der Boden unter mir«

Der Notfallrucksack ist gepackt, doch noch hat ihn Yuko Ichimura nicht aufgeschnallt. Statt aus Tokio zu fliehen, trifft sie sich mit ihren Freunden im Restaurant, um sich im Angesicht der Katastrophe ein wenig Mut zu machen. Teil zwei ihres Krisen-Tagebuchs.



Dienstag, 15. März

Jeden meiner Tage erschüttern vier oder fünf Nachbeben. Es fühlt sich an, als würde ich die ganze Zeit geschaukelt. Davon werde ich richtig seekrank. Manchmal frage ich mich ernsthaft, was nun eigentlich bebt: ich oder der Boden unter mir?

Alarmstimmung
11:00 Uhr. Aufwachen! Ich stelle fest, dass der Twitter-Account mein Telefon Alarm schlagen lässt. Die kleinen Nachrichten sagen, dass es am frühen Morgen zu einer Explosion in einem der Atomreaktoren gekommen sei. Mein Gott, kann ich nicht einmal für fünf Stunden meine Augen von diesem verdammten Ding lassen? Und es geht nicht nur mir so. Auch Yudai, der neben mir im Bett liegt, überwacht jede Regung auf seinem Handy-Display.

Gummibänder im Rucksack
Ich checke die beiden Überlebens-Rucksäcke, die wir im Wohnzimmer verstaut haben. Wir haben sie nach den Ratschlägen der Überlebenden des Awaji-Erdbebens gepackt, das vor zehn Jahren den Westen von Japan erschüttert hat. Die Rucksäcke enthalten verschiedene wichtige Dinge, unter anderem Wasser (logisch!) und Gummibänder (häh?). Wie fast jede brauchbare Information kommen auch diese Tipps über Twitter.

Meistgelesen diese Woche:

Ein ungewohnter Anblick
16:00 Uhr. Vor dem Toyku Store Supermarkt hat sich eine lange Schlange gebildet. Fast ausschließlich ältere Damen. Einige Hausfrauen machen Hamsterkäufe, versorgen sich mit Waren, die sich gut einlagern lassen: Instant-Nudeln, Reis, Mehl und Toilettenpapier (häh?). Im Westen Japans scheint alles einwandfrei zu funktionieren, keine Lebensmittelengpässe oder Probleme bei ihrer Verteilung oder so. Aber auf der anderen Seite, hier in Tokio, ist inzwischen eine leichte Panik zu spüren. Auch deswegen dürften manche Regale plötzlich leer sein. Ein ungewohnter Anblick, der mich nervös macht.

Was passiert, Atom?
Meinem Kumpel Keizuke schicke ich folgende Textnachricht: “Hey Tee-Kay, ist das alles nicht überwältigend gerade?” Er schreibt sofort zurück: “Im Meeting, nicht auf neustem Stand, irgendwas passiert, Atom?” Ich versichere Tee-Kay, dass nichts Neues mit dem Atommeiler passiert ist, dass ich mich nur bei ihm melden wollte.

Soul Food
20:00 Uhr. Abendessen in einem Yakiniku-Restaurant, mit Tee-Kay, seiner Frau Mizhou, deren Söhnchen Kota und meinem lieben Arbeitskollegen Maeda san. Es sind die gewohnten, die lieben Gesichter. Erst vor einer Woche habe ich sie das letzte mal gesehen. Fühlt sich trotzdem an wie eine halbe Ewigkeit. Das Restaurant ist voller Menschen,  denn Yakiniku – ein koreanisches Barbecue – ist sehr beliebt in Japan. Es ist unser Soul Food. Nachdem sie den ganzen Tag mit Horrornachrichten verbringen mussten, womöglich die ganze Zeit alleine in ihrem Haus saßen, stürzen sich die Restaurantgäste nun auf das gegrillte Fleisch. Egal was im Atomkraftwerk Fukushima auch passieren mag, die Welt dreht sich weiter, vor allem beim Yakiniku.

Fukinshin – Leben
Wir machen uns Mut, denn wir müssen uns Mut machen, müssen ein bisschen Fukinshin sein. „Habt keine Angst davor, fukinshin zu sein“, sagen die Leute. „Lasst uns alle fukinshin sein.“ Das Wort lässt sich schlecht ins Deutsche übersetzen. Es beschreibt ein ganz und gar unangemessenes Verhalten. Bei einer Beerdigung auf die schönen Beine der Witwe zu starren, das ist fukinshin. Eine Party zu veranstalten, während die ganze Familie im Krankenhaus liegt. An einem Arkadeautomaten Videospiele zu spielen, Geld auszugeben, auszugehen und Spaß zu haben, obwohl man gerade JETZT in Tokio lebt. Aber genau darum geht es ja: ums Leben!

Yukos Tagebuch (I) - "Fukushima strahlt in unseren Köpfen"

Yuko Ichimura, 35, ist Illustratorin und Werbefilmerin aus Tokio. Für uns zeichnet sie die Veränderungen ihres Leben auf ein Blatt Papier, scannt es ein und schickt es nach Deutschland. Ihre Schilderungen wurden vom Englischen ins Deutsche übersetzt. In eigener Sache bat sie uns mitzuteilen: "Die Situation hier ändert sich dramatisch, Tag für Tag. Keiner weiß, was kommen mag. Deswegen versuche ich, an kleinen Dingen festzuhalten. Um den Deutschen wie auch mir selbst einen Sinn für die Wirklichkeit zu geben. Egal, wie die nahe Zukunft aussehen mag." Sie freut sich über Nachrichten auf Facebook, sieht sich momentan aber außerstande, darauf zu antworten. Ihr Honorar für's Tagebuch aus Tokio spendet sie dem Roten Kreuz.