»Was auch immer uns aus der Bahn wirft, wir werden niemals aufhören, zu lachen und zu weinen«

Ein halbes Jahr nach dem Tsunami steht Yuko im Buchladen vor dem neu eingerichteten Regal mit Katastrophenliteratur. Darin finden sich viele informative Werke, aber auch Traktate wie Strahlen sind nicht schädlich und Keine Angst vor geringen Strahlungsdosen.


Vor sechs Monaten

Die Tsunami-Katastrophe ist jetzt genau sechs Monate her. Verging die Zeit seitdem schneller oder langsamer? Ich weiß es nicht. Das tägliche Leben ist seitdem jedenfalls reichlich seltsam gewesen. Und was ich beinahe vergessen hätte: Auch der Terroranschlag auf das World Trade Center jährt sich jetzt zum zehnten Mal. Aber hätte mich Tim, mein Kollege aus Deutschland, nicht daran erinnert, ich hätte es wohl total vergessen.

Strahlen sind nicht schädlich und andere Neuerscheinungen
Im kleinen Buchladen an der Ecke haben sie eine neues Regal eingerichtet: "Disaster & Nuke" heißt es, "Atomkraft und alles über die Katastrophe". Irgendwo müssen sie ja die ganzen Neuerscheinungen zum Thema Atomenergie und Radioaktivität unterbringen. Gegen das Vergessen. Dabei ist die Auswahl der Bücher dieser Spezial-Sektion ein eigenartiger Mischmasch.
Die Tokio-Karte für Ihren sicheren Heimweg soll uns dabei helfen, im Ernstfall nicht in Verkehr steckenzubleiben. Die Überarbeiteten Fahrtwege in den Norden berücksichtigen neue Straßenverläufe, die sich durch den Tsunami verändert haben. Besonders seltsam: Desaster: Das große Foto-Journal. Welche Abnehmer es wohl finden soll? Tsunami-Profis?  
Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von Büchern, die sich mit den atomaren Folgen der Katastrophe beschäftigen. Da hätten wir Die ganze Wahrheit über die Atomkraft und Dark Nukes, Radioaktive Angst und Wie Sie ihre Kinder vor Verstrahlung schützen. Gleich daneben stehen Meisterwerke wie Strahlen sind nicht schädlich und Keine Angst vor geringen Strahlungsdosen.

Ein Sammelsurium aus Geisteshaltungen
Die in einer Regalreihe zusammengepferchten Bücher wurden nicht nach der von ihnen vertretenen Theorie oder der Art des Buches geordnet, sondern alphabetisch, nach Autorennamen. So ergeben sie ein wirres Sammelsurium aus Geisteshaltungen. Mit dem Finger gehe ich über die nebeneinander aufgereihten Buchcover. Contra, contra, pro, pro, contra, pro, contra, pro. Wie lustig, denke ich mir dabei, und gleichzeitig: wie unheimlich.
Theorie und traurige Realität, guter Wille und Arglist, hier liegen die Gegensätze in Buchform aus. Wir sollen sie kaufen, damit sie dann um unsere Herzen und Köpfe kämpfen können. Letztlich habe ich mich an einem anderen Regal bedient. Gekauft habe ich nichts, aber ich blätterte durch dieses superlustige und gleichzeitig warnende Buch eines buddhistischen Mönches, und zurück zu Hause war ich dann seltsam glücklich und befreit.

Meistgelesen diese Woche:

Normalität nach dem Vorfall 
Kimura san – ich kenne ihn von der Arbeit – erzählte mir, er habe in einem Sammelband mit klassischen, preisgekrönten Printanzeigen folgenden Claim gefunden: "Selbst das Abnormale wird normal, wenn es uns täglich begegnet." Der Satz stammt aus einer Anzeige für den Soundtrack von Merry Christmas, Mr. Lawrence, einem Kriegsfilm aus den Achtzigern mit David Bowie und Takeshi Kitano. Ich hatte diese Anzeige schon fast vergessen. Jetzt machte sie mir eine Gänsehaut.
Denn die Wahrheiten, die wir aus diesen Filmen kennen, Wahrheiten wie "Das Böse ist besiegt und die Welt findet wieder zu ihrer Normalität zurück", haben sich als Lüge entpuppt. Natürlich fühlt sich die Welt irgendwann wieder normal an. Aber es gibt keine Rückkehr in die alte, liebgewonnene und gewohnte Normalität. Nein, immer wenn etwas passiert, wird die "Normalität vor dem Vorfall" überschrieben mit der "Normalität nach dem Vorfall". 
Aber was auch immer uns aus der Bahn wirft, wir werden niemals aufhören, Hunger zu haben oder zu lachen und zu weinen. Was auch immer Euch den Boden unter den Füßen wegzieht, habt keine Angst, die Dinge werden wieder normal, so oder so.