SZ-Magazin: Frau Ichimura, an diesem Sonntag, dem 11. März, jährt sich die Katastrophe zum ersten Mal. Wie hat sich das Leben in Tokio verändert?
Yuko Ichimura: Viele Menschen mit Kindern ziehen weg von Tokio. Generell sind Eltern sehr vorsichtig geworden, gerade bei Lebensmitteln oder Wasser. Mir ist zu Ohren gekommen, dass der deutsche Kindergarten in Yokohama seine Türen geschlossen hat. Wahrscheinlich weil viele Deutsche wieder zurück in ihr Heimatland gehen. Ich bin mir sicher, dass sich jede Person hier, verändert hat, egal ob im Kleinen oder Großen.
Und Sie selber, wie haben Sie sich verändert?
Ich habe meine Freunde und Familie mehr schätzen gelernt. Außerdem habe ich gelernt, wie man einen Kimono trägt. Japan, die Kultur und die Menschen, sind mir wichtiger geworden.
Beobachten Sie das auch bei ihren Bekannten?
Wenn man 100 Menschen hat, sind das auch 100 verschiedene Geschichten. Ich merke das, wenn ich mit Freunden zusammensitze. Eine von ihnen ist eine Frau, aus Fukushima, die nach Tokio gezogen ist, eine andere kommt aus Yokohama, ihre Familie ist mittlerweile nach Okinawa gezonen und dann ist da ein Mann, der ursprünglich aus Kyoto kommt und jetzt in Tokio wohnt. Wir sitzen zusammen, lachen, aber in Wahrheit kann keiner von uns das Schicksal des Anderen nachvollziehen.
Ist es für Sie schwierig gewesen wieder zum Alltag überzugehen?
Wir kämpfen alle noch mit den Folgen der Katastrophe. Manche erzählen, dass sie anfangen zu vergessen und sich deswegen schämen. Ich denke aber, dass wir tief in uns so verletzt sind, dass wir gar nicht vergessen können. Der 11. März 2011 hat uns alle verändert. Auch im Guten. Ich höre von so vielen Paaren, die jetzt heiraten.
War es für Sie einfacher die Katastrophe mit Hilfe unseres Comic-Tagebuchs, also auf einer kreativen Ebene zu verarbeiten?
Ich zeichne von klein auf, also war es das natürlichste auf der Welt, die Katastrophe künstlerisch zu verarbeiten. Seit dem Studium führe ich Zeichentagebuch, das hat mir in der ersten Zeit nach dem Tsunami durch die harten Tage geholfen. Es war wie eine Beschäftigungstherapie.
Hat es Sie beruhigt zu malen?
Zunächst bekam ich noch mehr Angst. Denn für das Tagebuch musste ich mich erinnern, auch wenn es für die Psyche besser gewesen wäre zu vergessen.
Am Wochenende werden Sie nach Deutschland reisen, um Ihr Buch vorzustellen, sind Sie stolz darauf?
Es fühlt sich nicht nach "meinem" Buch an. Vielmehr ist es eine Zusammenarbeit zwischen mir, Tim Rittmann, dem Co-Autor, und all den Freunden, die ich beschrieben und gezeichnet habe. Ich bin stolz auf jeden, der mir geholfen und mich unterstützt hat. Mir wurde klar, wie wichtig solche Zusammenarbeiten in schwierigen Zeiten sind. Ich habe elf Jahre in Großbritannien gelebt, dort studiert, gearbeitet und habe immer noch gute Freunde in vielen Ländern Europas. Nach der Fukushima-Katastrophe haben sie mir alle geschrieben: "Wie geht es dir?" und "Oh Gott, das sah echt nach einem Weltuntergang aus!". Wenn jemand den Ort, an dem du dich gerade befindest, als apokalytisch beschreibt, wächst in dir das verzweifelte Gefühl, etwas zu tun, irgendetwas. Für mich stand im Vordergrund, den Menschen zu erzählen, dass auch in Zeiten von Katastrophen Dinge passieren, die einzigartig, manchmal sogar schön sind. Ich wollte erklären, wie ich diese Veränderungen erlebe, welche Gedanken, Emotionen mir kommen, als Einzelne unter so vielen.
Neben Ihren Freunden in Tokio beschreiben Sie auch die Angst vor Radioaktivität. In einem Eintrag erzählen Sie zum Beispiel von einer Reise nach Fukuoka und wie glücklich sie waren dort wieder frisches Gemüse kaufen zu können. Wie sieht das mittlerweile aus? Müssen sie für frische Lebensmittel immernoch 1000 Kilometer fliegen?
Ich bin mittlerweile Mitglied bei "CO-OP", einem Unternehmen, das strahlungsarme Lebensmittel liefert. Wir beziehen damit unsere Einkäufe direkt von Bauern oder Metzgern. Vor allem kaufe ich dort ein, weil das Unternehmen strengere Richtlinien hat als der Staat. Kurz nach dem 11. März 2011 waren wir uns alle nicht sicher, wie die Kontaminationstests ausfallen würden oder wie der Staat es einschätzt. In den japanischen Medien war ständig von "möglicher Kontamination" oder "möglichen Risiken" die Rede. Es ging die ganze Zeit um Wahrscheinlichkeiten. Es war diese Unsicherheit, die uns zutiefst verletzt hat.
Haben Sie das Vertrauen zu den Medien wieder gefunden oder fühlen sie sich immer noch verletzt?
Irgendwann gibt es den Punkt, an dem man sich nicht mehr verückt machen will, sondern weiterleben. Man hört auf sich den ganzen Tag Gedanken zu machen und lernt mit der Kontamination zu leben.
Wie berichten Japans Medien über das Unglück heute?
Ich habe das Gefühl, dass sie vertuschen. Die Medien verwenden beispielsweise beschönigende Formulierungen wie "explosives Phänomen" statt "Explosion". "Tepco" ist ein großer Sponsor hierzulande. Zudem gibt es viele Politiker, die früher bei "Tepco" gearbeitet haben oder finanziell von der Firma unterstützt werden.
Welchen Ruf hat "Tepco", die Betreiberfirma der Atomkraftwerke in Fukushima, heute?
Es gibt immer noch viele Demonstrationen und der Hass wird bleiben. Aber wir können nicht einfach den Stromanbieter wechseln. Ganz Tokio wird von diesem einen Anbieter bedient.
Illustration: Yuko Ichimura