»Ich stütze mich auf meinen Besen, anstatt hinter einem Transparent zu stehen«

Yuko schrubbt energisch den Fußboden - angeblich soll das gegen radioaktiven Staub helfen. Dabei sieht sie im Fernsehen einen Bericht über eine Demo. Steigt in Japan endlich der Widerstand gegen die Atomkraft?


Ein ganz normales häusliches Wochenende?

Samstag. Als die Luft kühler wird und die Temperaturen endlich zu sinken beginnen, ist es bereits später Nachmittag. Ich putze zuerst den Balkon, dann den Eingangsbereich unserer Wohnung. Yudai bringt Eimer auf Eimer, bis oben hin gefüllt mit Wasser, und ich schrubbe den Boden mit einem borstigen Besenkopf. Danach wische ich nicht nur den Eingang, sondern reibe auch unsere Schuhsolen ab. Klingt wie ein ganz normales häusliches Wochenende, wäre es nicht radioaktiver Staub, den es zu beseitigen gilt. Jemand aus der Gegend von Fukushima hat Orte in seiner Nachbarschaft mit einem Geigerzähler untersucht. Seine Erkenntnis lautet: Das Abwaschen von Staub reduziere die Gefahr einer Verstrahlung – verbreitete er über Twitter.

217 Kilometer an einem Tag
Was wir erst kürzlich erfahren haben: Am 15. März kam eine große Menge Radioaktivität im Großraum Tokio nieder. Was genau ist an diesem Tag passiert? Nach einer Antwort suchend habe ich dann in mein Tagebuch geschaut, das ich nicht nur für Sie, sondern auch für mich veröffentliche. Und da stand es, datiert auf den 15. März 2011, zweiter Absatz: "...dass es am frühen Morgen zu einer Explosion in einem der Atomreaktoren gekommen sei." Wooo, das musste es sein. Ich hatte ja keine Ahnung, dass die Radioaktivität so schnell nach Tokio weiterzieht, ja, dass sie die 217 Kilometer bis zur Stadt überhaupt schafft. Wie seltsam, mit diesem Hintergrundwissen auf das Ereignis zurückzuschauen.

Ein sich wandelnder Wille?
Während ich den Boden wische, zeigt das Fernsehen einen Straßenzug in Shinjuku, einem besonders belebten Viertel in Tokio. Ich sehe eine große Menschenmenge. Es handelt sich um eine von insgesamt 150 Anti-Atomkraftdemos, die zeitgleich im ganzen Land stattfinden. Ein wenig wundere ich mich schon. Die Medien behandeln die Demos wie wirklich große Ereignisse. Nicht, dass sie das nicht wären. Doch gerade die Mainstream-Medien haben bis jetzt eine Berichterstattung über ähnliche Versammlungen eher klein gehalten. Es ist dieser Wandel, der mich nachdenklich macht. Steckt ein natürlicher Kurswechsel dahinter? Oder sind es womöglich die ersten Anzeichen eines sich wandelnden politischen Willens? Ich stütze mich auf meinen Besen, anstatt hinter einem Transparent zu stehen, und schreibe meinen Tagebucheintrag als meine kleine, persönliche Demonstration.

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Die drei Gesichter des 11. März
In dieser Nacht sehe ich einen anderen Bericht über Räumungsarbeiten aus Iwaki City in der Präfektur Fukushima. Ich halte Ausschau nach meiner Freundin Ishizumi san. Sie könnte irgendwo unter den Leuten sein, denn vor nicht all zu langer Zeit ist sie von Tokio dorthin gegangen, um freiwillige Arbeit zu leisten. Eine andere Bekannte befindet sich momentan in Sendai, um ihre Verwandten zu Grabe zu tragen, die in Folge des Tsunamis ihr Leben lassen mussten. Es sind die verschiedenen Gesichter des 11. März. Heute auf den Tag genau sind es drei Monate. Auf einen Schlag starben 20.000 Menschen in 12 Präfekturen. Die Heime von 100.000 Menschen wurden ausradiert. Und noch mehr Menschen begannen darüber nachzugrübeln, woher sie in Zukunft ihre Energie beziehen würden.