Die Samurai der Kokosnuss
„Japan gleicht einer Person, die soeben einen kompletten Arm verloren hat und trotzdem behauptet, sie sei schon okay“, sagt Chris in fließendem Japanisch. Chris ist Amerikaner, bereits seit drei Jahren lebt er in Tokio, er hat hier eine kleine Firma, fühlt sich aber auch dem Land sehr verbunden. Hin und wieder treffe ich mich mit ihm. Sein vergleich erinnert mich ein bisschen an den Monty Python-Film „Die Ritter der Kokosnuss“, in dem einem Ritter nach und nach alle Gliedmaßen abgeschlagen werden, er sich davon aber nicht abhalten lässt, selbst als Rumpf seinen Gegner noch zu provozieren. Wir sind dann wohl die Samurai der Kokosnuss.
Viele Ausländer sind geflohen
Mein Gott. Chris hat ja so recht. Vielleicht auch deswegen, weil ihm seine Perspektive – halb Japanisch, halb ausländisch, oder wie wir sagen: gaijin – zu mehr Objektivität verhilft. Und ich, als Japanerin, bin vielleicht noch viel zu verwirrt, um objektiv zu sein. Als meine Freundin Megu das hörte, sagte sie, wie süß Chris doch sei, und dankte ihm für seine Einschätzung. Denn es wurde berichtet, dass viele Fremde, die neulich noch in Japan lebten, nach der Erdbeben-Katastrophe geflohen sind. Natürlich haben wir keinerlei Grund, ihnen das übel zu nehmen. Aber gleichzeitig sind wir dankbar für jeden, der sich zum Bleiben entschließt.
Wir alle sind PIJ-„People in Japan“
Zudem habe ich mich mit der alten Garde meiner internationalen Freunde getroffen. Ich kenne sie noch aus meiner Zeit in London. Natsuki ist Japanerin, Cato ist Norweger, zusammen haben sie zwei Kinder und leben in Tokio. Natsuki hat mir erzählt, dass sie um den 19. März herum mehrere Anrufe der norwegischen Botschaft entgegen nahm. Sie boten ihnen verbilligte Flüge nach Norwegen an. „Ich habe Cato gesagt, er kann die Kinder nehmen und gehen. Ich aber würde bleiben, hier wohnen meine Eltern, außerdem ist Tokio meine Heimatstadt. Flucht ist keine Option für mich.“ Natsuki schluckte, als sie fort fuhr: „Er hingegen ist nicht von hier und soll gehen wohin immer er auch möchte. Aber Cato bestand darauf, auch zu bleiben.“ Ich bekomme mittlerweile das Gefühl, dass die ursprüngliche Nationalität gar nicht so viel zählt. Alle, die jetzt in Tokio wohnen, woher auch immer sie kommen mögen, sitzen im selben Boot. Wir sind alle PIJ, „People in Japan“.
Stein vor Sorge
Junko aus London lebt als Shiatsu-Therapeutin in London, ist aber gerade mit ihrem Mann Richard zu Besuch in Tokio. Sie gab der hustenden Natsuki eine Schultermassage. Junko sagte, es sei wohl was Mentales, der Stress und so. Und Natsuki bestätigte, sie mache sich große Sorgen um ihre Kinder. In London, so Junko, habe sie in der Woche nach dem Erdbeben mehr japanische Patienten gehabt als üblich. Ihre Schultern waren wie versteinert von den Sorgen um ihre Familien und Landsleute in der fernen Heimat. Sie müssen sich unerträglich gesorgt haben, drüben in Europa, wo man nur von den Umständen erfuhr, aber nicht von den Menschen.
Die Dinge sind im Fluss
Bevor wir uns verabschiedeten, dankte ich Richard noch dafür, nach Japan gekommen zu sein, vor allem in Zeiten wie diesen. Er antwortete, mit einem für ihn typischen Lächeln auf den Lippen: „Ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um als Tourist ein bisschen Geld im Land zu lassen. Außerdem wollte Junko ihre Eltern sehen, und deswegen hat sich die Reise gelohnt.“ Die Gefühle überwältigten mich. Es tat ja so gut, meine alten Freunde aus Übersee wiederzusehen. Sie haben mir das Gefühl gegeben, dass sich nicht alles radikal verändert hat, nicht alles verloren ist. Die Dinge sind noch immer im Fluss.
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