Schau mir in die Augen, München

Unser Autor ist seit zwei Monaten in München - und seit zwei Monaten ohne mobile Daten. Mit dieser Situation ist er kreativ umgegangen, auch wenn sich immer wieder neue Hürden in seinen Weg gestellt haben.

Seit zwei Monaten fühle ich mich orientierungslos und einsam. Vor zwei Monaten bin ich von Kassel nach München gezogen – und habe seitdem mit meinem Handy kein Netz mehr. Nirgendwo. Ich kann keine Nachrichten empfangen, keine Wege checken, keine Musik hören. Ich hoffte, das Problem wäre vorübergehend. Irgendwann beschloss ich, die Situation zu akzeptieren und mein Handy erst in meiner Heimatstadt, beim Reparaturservice meines Vertrauens abzugeben.

Trotzdem fummle ich aus Gewohnheit beim Warten auf die U-Bahn jedes Mal mein Handy aus der Hosentasche. Oben links verdichtet sich die Tragödie in zwei kurzen Worten: »Kein Netz«. Einmal Augen verdrehen, Handy wieder in die Hosentasche.

Viele, die das hier lesen, denken sich jetzt bestimmt: Typisch junge Leute, kaum können sie keine Hundefilter auf Snapchat nutzen, schon flippen sie aus. Okay, ganz falsch ist das nicht (bis auf die Tatsache, dass der Kaninchenfilter mir deutlich besser gefällt). Allerdings geht es hier weniger um die fehlende Kommunikation und Interaktion mit Freunden auf Whatsapp und Unbekannten auf Instagram. Vielmehr fühlt es sich an wie blankes Überleben.

Meistgelesen diese Woche:

Denn tatsächlich ist man im Alltag mittlerweile abhängig von technischen Hilfsmitteln – noch dazu in einer Stadt, in der man sich kaum auskennt. Woher soll ich wissen, wo der nächste Bäcker ist, wenn ich ihn nicht schnell googeln kann?

Wie sehr ich mich auf mein Handy verlasse, stellte ich erstmals fest, als ich Ende Januar am Münchner Hauptbahnhof ankam. Okay, jetzt bist du da, aber wie geht es eigentlich weiter?, fragte ich mich und zückte gewohnheitsmäßig mein Handy, um die Adresse meiner neuen Wohnung einzugeben. Mein Handy suchte verzweifelt nach Netz, ich suchte verzweifelt nach W-Lan.

Ich entdeckte einen McDonald's, bestellte einen Kaffee, schwarz, und loggte mich im Gäste-W-Lan ein. Ich öffnete die App der Münchner Verkehrsbetriebe, checkte die Verbindung und machte ein paar Screenshots von Google Maps. Eine Technik, die ich von da an ziemlich häufig anwenden sollte. Beim Warten auf die U-Bahn stellte ich mich jedes Mal vor die Netzpläne und hoffte darauf, dass ich vielleicht doch ein fotografisches Gedächtnis hatte.

Mit dieser Strategie musste ich zwar den ein oder anderen Umweg auf mich nehmen, aber irgendwie kam ich immer ans Ziel. Manchmal fragte ich auch einfach Passanten nach der nächsten U-Bahn-Haltestelle, wurde dann aber oft erstmal einem prüfenden Blick unterzogen: Will der mich jetzt ausrauben? Oder hat der tatsächlich kein Smartphone? Wahrscheinlich überlegten sie, welches der beiden Szenarien das schlimmere wäre – und am Ende antworteten viele von ihnen sehr freundlich und hilfsbereit.

Irgendwann kannte ich die Wege, die U-Bahn Stationen und Einkaufsmöglichkeiten in meiner Nähe auswendig – hatte aber immer noch kein Handynetz. Und musste einsehen, dass nicht nur meine Orientierung, sondern auch mein Sozialleben erstaunlich eng daran gekoppelt ist. »Hey Serdar, hast du Lust, am Wochenende was trinken zu gehen?«  »Ja klar!«, sagte ich, musste meine Aussage gleichzeitig aber relativieren, weil ich mich ja nicht so richtig verabreden konnte.  Einmal zum Beispiel vereinbarte ich mit jemandem, dass wir uns um Punkt 20 Uhr vor diesem einen Laden in diesem Stadtteil treffen. Easy, dachte ich. Doch wir trafen uns nicht um Punkt 20 Uhr. Auch nicht um kurz nach. Wir standen so lange an zwei verschiedenen Eingängen der Kneipe, bis uns beiden irgendwann die Lust verging, wir den anderen innerlich wüst beschimpften und wieder nach Hause fuhren. Ich weiß gar nicht, wie wir es früher geschafft haben, uns ohne Handys zu treffen. Irgendwo auf dem Weg haben wir unsere Einstellung verloren: »Na, der versetzt mich nicht, irgendwo wird er schon sein.«

Wenn ich es doch schaffte, mich mit jemandem zu treffen, gingen wir meist Essen. In München gibt es sehr gute Restaurants. Wie es sich gehört, zückte ich dann mein Handy, machte ein Foto von meinem superleckeren, superschicken Gericht und, ah, Stopp - ich hatte ja immer noch kein Netz. W-Lan gab es meist auch keins. In München gibt es kaum frei zugängliches W-Lan, schon mal aufgefallen? Also auch keine Essensbilder von Serdar auf Instagram. Wie albern das klingt, wird mir erst jetzt bewusst.

Da ich beim U-Bahnfahren zuletzt nicht mehr mit meinem Handy beschäftigt war, hatte ich viel Zeit, um nachzudenken. Bei meiner letzten Fahrt fragte ich mich, ob die letzten zwei handylosen Monate auch etwas Gutes hatten und stellte fest: Es ist schön, Menschen mal ins Gesicht zu schauen, auch wenn sich in ihren Augen oft ihre Handybildschirme spiegeln. Man wird erstaunlich selten angerempelt, weil man beim Gehen nicht mehr ständig aufs Display starrt, allzeit bereit, eine Nachricht zu empfangen und abzuhören. Und ich habe vermutlich mehr Ecken von München gesehen, als es mit funktionierendem Smartphone möglich gewesen wäre – weil mein Blick nicht ständig in Richtung Hände ging und ich die ein oder andere Zufallsentdeckung auf meinen Umwegen gemacht habe. Anschließend kam ich nach Hause, hatte funktionierendes W-Lan und freute mich wie ein kleines Kind an Weihnachten. Die Nachrichten strömten nur so rein, ich checkte Instagram, Facebook, Snapchat.

Andererseits habe ich mich nicht getraut, mal an den See zu fahren und die wenigen Sonnenstunden zu genießen, da ich nicht wusste, ob ich den Weg mithilfe meiner Google Maps-Screenshots finden würde. Das ein oder andere Treffen habe ich abgesagt, meine Freundin beschwerte sich über meine mangelnde Kommunikationsbereitschaft. Ich konnte nicht mehr spontan sein, war ständig darauf angewiesen, Treffen persönlich zu vereinbaren. Wenn ich abends noch in einem mir unbekannten Stadtteil unterwegs war, wusste ich oft nicht, wie ich nach Hause komme. Einmal saß ich um zwei Uhr nachts an einer Haltestelle, wartete auf die U-Bahn und stieg ein - nur um kurz darauf festzustellen, dass ich in die falsche Richtung fuhr.

Ein Kollege der Süddeutschen Zeitung stellte in einem Artikel zum Thema Handysucht kürzlich die Eingangsfrage: Wissen Sie in diesem Moment, wo ihr Handy liegt? Nein!, rief ich innerlich, überzeugt von meiner moralischen Überlegenheit. Um dann festzustellen, dass ich es nur nicht wusste, weil mein Handy nicht richtig funktionierte. Dennoch, wenn ich die Wahl hätte: Lieber wäre mir ein Handy mit Netz, statt falscher Stolz, der sich ähnlich anfühlt, wie wenn man beim Einkaufen im Supermarkt plötzlich einen Stoffbeutel aus der Jackentasche zieht und eigentlich ein nettes Schulterklopfen oder zumindest ein anerkennendes Nicken erwartet.

Jetzt, wo die zwei Monate vorbei sind (ich werde München wieder in Richtung Hessen und damit in Richtung funktionierendes Mobilfunknetz verlassen), reicht es mir auch mit diesem unfreiwilligen Experiment.

Screenshot: Google Maps