Um elf waren wir am Friedhof Grinzing verabredet, um 10.45 Uhr saß Claus Peymann bereits auf einer Bank vor dem Friedhof in der Herbstsonne, den schwarzen leichten Mantel, eine Art Erkennungsmerkmal, über die Lehne drapiert, die »Süddeutsche Zeitung« lesend. Wir gingen dann die paar Schritte zu Thomas Bernhards Grab, Gruppe 21, Reihe 6, Nr. 1, ein vertrockneter Trockenblumenstrauß stand da in eine Vase, irgendwer hatte eine Kastanie auf den Stein unter das Kreuz gelegt. Claus Peymann machte für den Fotografen alles, was an einem Grab gerade noch so erlaubt ist, sagte zwei Mal: »Mein Ruf ist ohnehin längst ruiniert«, also könne er auch auf einem Klappstuhl lümmeln. Anschließend setzten wir uns wieder auf die Bank vor dem Friedhof in die Sonne. Peymann erzählte über Thomas Bernhard, lang, ausführlich, freundlich. Es gibt viele, die über Peymann sagen, er könne auch ganz anders sein. An diesem Montag im Oktober aber war er ein witziger, höflicher, netter Mann.
SZ-Magazin: Herr Peymann, Thomas Bernhard hatte vor seinem Tod verfügt, dass nur Freunde und Familie an seiner Beerdigung teilnehmen dürfen. Es waren schließlich nur drei Leute da, seine beiden Halbgeschwister und Sie. Welche Erinnerung haben Sie daran?
Claus Peymann: Ich kann das so nicht bestätigen. Zuzutrauen wäre ihm zwar eine solche Verfügung, aber die Wahrheit ist viel mysteriöser.
Wie denn?
Am Tag seiner Beerdigung wurde ständig mein Büro im Wiener Burgtheater angerufen: »Können Sie bestätigen, dass Thomas Bernhard gestorben ist?«, fragte jemand. »Können Sie bestätigen, dass ein Leichenwagen unterwegs ist von seinem Wohnort bei Gmunden nach Wien?« Und meine Mitarbeiterin hat immer geantwortet, das kann nicht sein, Peymann hat doch gerade noch mit Bernhard telefoniert.
Sie wussten wirklich nichts von seinem Tod?
Nein. Ein paar Tage zuvor hat er mich morgens um halb sechs angerufen, das war ungewöhnlich, wir haben sonst immer erst gegen acht telefoniert. Er hat rumgeplaudert, mich gefragt ob ich nackt sei, ja, sagte ich, ich bin nackt, es war ein fürchterlich belangloses Gespräch. Ich habe noch zu meiner Lebensgefährtin gesagt: Komisch, jetzt langweile ich mich schon bei den Gesprächen mit Thomas Bernhard. Später hat sich herausgestellt, dass er in dieser Woche Abschied genommen hat. Andere Freunde haben es mir später bestätigt, auch sie wurden angerufen.
Sie waren gar nicht beunruhigt?
Doch, natürlich. Ich habe seinen Halbbruder Peter Fabian angerufen, der sagte, nein, alles in Ordnung, aber er sei sehr in Eile, er müsse jetzt nach Wien. Ich war erleichtert und schlug vor, am nächsten Wochenende nach meiner Probe nach Gmunden zu kommen und mich so lang mit Bernhard rumzustreiten, bis sein Kreislauf auf Trab kommt. Das hat oft gut funktioniert. Und sein Bruder, ein Arzt, sagte, ja, das sei eine gute Idee, kommen Sie nächsten Samstag. Dabei war Bernhard da schon tot. Aber der Bruder durfte es niemandem sagen. Eines jedoch sei klar: Wenn Bernhard wirklich eines Tages sterben sollte, bitte keine Fahnen auf Halbmast am Burgtheater, keine Trauerfeier, keine Reden, nichts.
Dann haben Sie weiter gearbeitet?
Nein, das Telefonat war so merkwürdig, dass wir im Theater alle Friedhöfe angerufen haben. Wir fanden heraus, dass auf dem Friedhof in Grinzing eine Beerdigung kurzfristig vorverlegt worden sei. Weil ich wusste, dass Bernhard in Grinzing beerdigt werden wollte, habe ich mich ins Auto gesetzt und bin hingefahren. Es war ein trüber, nebliger Februartag 1989, und das Grab, in das er neben seinem »Lebensmenschen« Hede Stavianicek kommen wollte, war ausgehoben. Davor stand ein älteres Ehepaar im typischen Schönbrunner Trachtengrün. Sie erkannten mich: »Ach der Herr Burgtheaterdirektor Peymann, schauen Sie, jetzt haben sie den großen Thomas Bernhard hier verscharrt ohne Feier, was ist denn das für eine Stadt, was ist das nur für ein Land?«
Woher wussten die Leute von Beerdigung?
Sie waren zufällig auf dem Friedhof und haben noch gesehen, dass nur seine Halbschwester, sein Halbbruder und eine weibliche Zufallsbekanntschaft anwesend waren. Ich weiß bis heute nicht, wer sie war. Dann habe ich überhaupt erst erfasst, was los war. Ich kam wohl nur eine halbe Stunde zu spät.
Waren Sie gekränkt, dass Sie nicht zur Beerdigung gebeten wurden?
Nein, gar nicht, ich habe das vollständig verstanden. Im Grunde hätte ich es mir denken können, dass es so kommt, denn in Heldenplatz, seinem letzten Stück, das ich in der Burg uraufgeführt habe, gibt es einen Professor Schuster, der auch eine Beerdigung nur mit seinen Schwestern und ganz ohne Brimborium wollte. Wahrscheinlich hatte Bernhard da schon seine eigene Beerdigung im Sinn: die Angst vor Pathos, die Angst vor Lügen am Grab.
Fürchtete er, dass die Österreicher, die ihn zu Lebzeiten angefeindet hatten, plötzlich umarmen würden?
Das hat sich ja über die Jahre von ganz allein eingestellt, das Wissen, dass er ein liebenswerter, ein großer Österreicher ist. Seine größte Angst war, glaube ich, dass es ihm so wie Mozart ergeht, nämlich dass die Mozartkugel noch berühmter ist als er selbst. Und tatsächlich gibt es in der Gegend, wo er gewohnt hat, in Oberösterreich, die Thomas- Bernhard-Frittatensuppe. Wien hat sie noch nicht erreicht, aber das wird auch noch kommen. Es gibt einen Thomas-Bernhard-Weg, ahnungslose Schauspieler, die mit Thomas-Bernhard-Programmen durch die Welt tingeln. Es ist genau so gekommen wie er es befürchtet hat: Er wird blumig verehrt. Sein Haus, dieser Ohlsdorfer Vierkanthof – so karg, so streng, dazu die endlosen Paar Schuhe und die Jagdflinte – ist zur Pilgerstätte geworden.
Vermissen Sie ihn?
Ich bin im Grunde eine Art Bernhard-Witwe mit den typischen Witwenträumen. Er erscheint mir, 27 Jahre nach seinem Tod, immer noch im Schlaf: Wir treffen uns in einem der Wirtshäuser er sitzt da in fröhlicher Runde. Ich sage, mein Gott Bernhard, Sie leben noch? Ja, sagt er, nicht weiter erzählen, ich lebe unter einem anderen Namen. Morgen telefonieren wir und gehen zusammen essen. Schauen Sie nicht so verblüfft, ich habe das Leben einfach nicht mehr ausgehalten. Im Traum weiß ich dann aber, dass er gestorben ist, und ich wache fröhlich auf.
Sie waren sein Freund.
Das weiß ich nicht. Wir haben uns oft gesehen, ja. Aber ich musste mich ganz langsam vorarbeiten. Am Anfang, in den Siebzigerjahren, musste ich in den Beisln und Pensionen in der Nähe seines Hauses übernachten, dann durfte ich in der Krucka wohnen, seinem Aussiedlerhäuschen, später in seinem sehr schönen Jagdhaus. Alle diese Häuser hatte er in 20 km Umkreis zu seinem Vierkanthof in Ohlsdorf gekauft. Als ich endlich dort, bei ihm schlafen durfte, musste ich zunächst mit einer improvisierten Liege vor der Waschküche im Erdgeschoss vorlieb nehmen. Ich glaube, das war eine Art Prüfung. Mit der Zeit wurde ich ins Gästezimmer der Bel Etage befördert. Thomas Bernhard hatte viel Geschmack. Die Möbel: alles ländliches Empire, alles echt. Aber die Betten waren so klein dass ich nur in gekrümmter Lage schlafen konnte. Trotzdem, es war wie eine Beförderung, näher an sein Herz. Ich habe ihn sehr bewundert, aber dass man wirklich mit ihm befreundet war, das weiß ich nicht.
Worüber haben Sie geredet?
Über vieles. Er hat das große Wort geführt. Ich bin ja sonst immer der, der viel redet, da aber bei ihm musste ich zuhören, es blieb mir gar nichts anders übrig. Später musste ich mit ihm 17 + 4 spielen. Und er wollte immer gewinnen, sonst wurde er ungemütlich.
Immerhin hat er Ihnen und Ihren Schauspielern viele Stücke gewidmet wie Ritter, Dene, Voss, das heute sogar in Japan aufgeführt wird, oder Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen, in dem Sie sich seit vielen Jahren selbst spielen. Er muss Sie doch gemocht haben, oder?
Ja, vielleicht. Und sein Stück Der Theatermacher ist im Grunde eine Hommage an den Notlichtskandal der Salzburger Festspiele 1972, als wir die Uraufführung von Der Ignorant und der Wahnsinnige nach nur einer Aufführung abbrachen, weil wir das Theater nicht komplett verdunkeln durften, wie Bernhard es in der Regieanweisung schrieb. In seinem Roman Holzfällen handeln die letzten hundert Seiten von meiner Ankunft in Wien. Das ist sehr schmeichelhaft, oder? Aber Freunde? Einmal wollten wir zusammen Ferien machen, auf Korsika, da gab es gleich am ersten Tag Krach: Wir waren gerade eine Viertelstunde am Strand, da sagt er: »So, jetzt müssen wir Mittag essen.« Wir hatten gerade erst gefrühstückt, es war zwölf Uhr. Aber er bestand darauf: »Naa, des geht nicht anders.« Er war da sehr bäuerlich. Er ist sofort ausgezogen, hat dann noch ein paar Tage in einem Hotel gewohnt. Das wars. Unzählige Male sind wir in all den Jahren gemeinsam essen gegangen, das war ein Ritual. Und dann natürlich die feierliche Übergabe eines neuen Stücks in diversen Caféhäusern in Wien und anderswo. Aber darüber hinaus gab es nichts.
Kannten Sie auch Hedwig Stavianicek, seinen »Lebensmenschen«, die 37 Jahre älter als Bernhard war, und hier mit ihm im Grab liegt?
Hedes Mann Franz, der viel früher gestorben ist, liegt auch hier. Bernhard und Hede hatten sich in der Lungenheilanstalt Grafenhof in St. Veit im Pongau kennengelernt, beide lungenkrank. Man hatte Bernhard medizinisch schon aufgegeben, gab kein Geld mehr. Da hat Hede ihn mit einer größeren Summe gerettet und ihm sein Überleben gesichert – so erzählte er es mir jedenfalls.
Er war ja mehrfach wegen seiner Lungentuberkulose im Sanatorium.
Er erzählte, dass man früher bei Lungenkrankheiten auf Abhärtung gesetzt habe. Die Leute wurden in dicke Decken gewickelt und nachts, auch im Winter, auf dem Balkon platziert. Nach und nach sei die ganze Abteilung gestorben, 29 von 30 Patienten. Nur er nicht. Warum? Er hat sich nicht an das Gebot gehalten, er hat zu sehr gefroren. Stattdessen ist er runter gegangen in die Kirche – und hat dort gesungen, auch – gegen das ausdrückliche Verbot der Ärzte – im Kirchenchor. Er war extrem musikalisch und ein ausgebildeter Sänger. Ein wichtiger Faktor unseres gemeinsamen Weges war ja, dass wir tüchtig zusammen gesungen haben, ich habe einen passablen Bass – er einen kräftigen Bariton. Wir haben immer bei Mozart-Platten mitgesungen. Das hat ihm das Leben gerettet, dass er im Kirchenchor gesungen hat.
Mochten Sie Hedwig Stavianicek?
O ja. Hede und er waren ein faszinierendes Paar, sie hatte riesige Zähne, und war ein wunderbar fürsorglicher Mensch. Als sie alt und gebrechlich wurde, hat er sich durch eine ihn selber überfordernde Pflege so verausgabt, dass ich sehr besorgt war. Er sah verheerend aus. Ich habe gesagt, Bernhard, das geht einfach nicht, Sie können sich jetzt nicht selbst ruinieren.
Sie haben ihn gesiezt bis zum Schluss?
Ja, sicher. Bei meiner ersten Pressekonferenz als neuer Burgtheaterdirektor, 1984 war das wohl, wollten mich ein Fernsehteam und eine besonders gehässige Person anschließend auf dem Flug nach Bochum begleiten, wo ich noch Intendant war, und mich über meine Gefühle befragen. Da kriegte ich einen Zettel gereicht: »Thomas Bernhard wartet im Café Bräunerhof auf Sie, Sie müssen sofort kommen.« Ich rief ihn dort an, sagte, ich könne unmöglich, aber er bestand darauf: »Sie müssen unbedingt kommen, die Hede möchte Sie noch treffen, sie wird bald sterben. Sie hat 15 Burgtheaterdirektoren erlebt, sie will auch noch den 16. erleben. Kurz und gut, ich hab alles abgesagt, die Journalistin abgesagt und bin mit Bernhard in Straßenbahn und Bus in die Heil- und Pflegeanstalt nach Steinhof gefahren. Hede war geistig völlig wach, körperlich am Ende. Schließlich hat sie sich vollgemacht, und als Bernhard deswegen Wasser holte, um sie zu säubern, war ich kurz mit ihr allein. Sie flehte: »Ich will sterben, ich will nicht mehr weiter leben, können Sie das dem Bernhard nicht sagen?« 14 Tage später hat jemand das Fenster offen gelassen, sie hat eine gnädige Lungenentzündung bekommen und ist daran gestorben. Wer das war? Gott weiß es.
Auf dem Papier passten beide ja nicht unbedingt zusammen, nicht nur wegen des riesigen Altersunterschiedes. Sie stammte aus sehr großbürgerlichen Wiener Verhältnissen, er aus bäuerlichen. Haben Sie eine Erklärung für ihr enges Verhältnis?
Beide waren füreinander existentiell. Sie sind oft zusammen verreist, sie waren in Rijeka, später in Portugal und Spanien, denn wenn er schrieb, hat er sich immer in fremde Sprachgebiete zurückgezogen. Hede war eine wunderbare Person der Wiener Gesellschaft, ich muss ihr völlig unheimlich gewesen sein und wahrscheinlich hat sie mich nur ertragen, weil sie wusste, dass Bernhard einiges von mir hielt. Sie haben nicht weit von hier gewohnt, unten in der Obkircherstraße. Bernhard hat dort schon als junger Mensch in einer Stube in ihrer Wohnung gewohnt. Später bin ich noch oft mit ihm hier in den Weinbergen der Umgebung rumgestrolcht. Während meiner 13 Jahre als Burgtheaterdirektor habe ich auf der drüberen Seite, wie man hier sagt, gewohnt, in Gersthof. Es war im Grunde konsequent entsprechend seiner ländlichen Gesinnung, in der Nähe seiner Wohnung beerdigt zu sein. Nun sind sie beide in Grinzing gelandet, der Thomas und die Hede, hier am Hügel.
Sind Sie wegen Thomas Bernhard hier raus gezogen?
Eigentlich nicht. Man wohnt in den Weinbergen, das ist wahnsinnig schön.
Bernhard pendelte also ständig zwischen seinen Wohnsitzen in Oberösterreich und Wien?
Bernhard lebte eigentlich sehr bescheiden, wenn ich in Ohlsdorf zu Besuch war, gab es nichts zu essen, obwohl er eine perfekte Küche mit sechsflammigen Herd hatte, fast wie Paul Bocuse, aber es gab nur vertrocknetes Brot und merkwürdige dreieckige Käse in Silberfolie. Er verachtete meine gelegentlichen Ausflüge ins Luxuriöse.
Aber wenn Sie gemeinsam verreisten, steckte er Sie in Luxushotels, während er selbst in einem dieser genormten Hotels für Geschäftsreisende wohnte?
Er hat mir die Hotels ausgesucht. Auf Madeira musste ich im Reids wohnen und er wohnte lieber in einem dieser kühlen amerikanischen Schuppen, wie dem Hilton. Die Nüchternheit war seines. Mir hat er oft gesagt, wo ich Ferien machen soll und hat sich Reisen für mich ausgedacht. Und ich hab ihm immer gehorcht.
Bis heute?
Ja, klar. Peter Handke macht sich immer lustig darüber. Mit Bernhards Tod ging für mich – auch im Persönlichen – eine große Zeit zu Ende.
So gut wie Sie ihn kannten, so krank wie er zeitlebens war, merkten Sie nicht, dass es mit ihm zu Ende ging?
Ich hätte es merken können, habe ich aber damals nicht. Es gibt Fotos von den Endproben seines Stückes Heldenplatz, da sitzt er in der Loge des Burgtheaters, sein Gesicht vom Tod gezeichnet, ein Totenschädel. Nach der Premiere von Heldenplatz, das ja vom Jubel der Österreicher beim Anschluss an Deutschland 1938 erzählt, waren die Tumulte und der Applaus so groß, zum Glück, sonst hätten wir beide die Bühne nicht mehr erreicht, um uns zu verbeugen. Er saß mit mir oben in meinem Büro in der Burg, unten im Parkett tobte der Kampf, der jetzige FPÖ-Chef Strache war einer der Hauptbrüller. Bernhard war sehr geschwächt, brauchte bestimmt fünf, sechs Minuten, um die eine Treppe runter zu gehen. Er musste immer Pausen machen.
Wegen Ihrer Euphorie haben Sie nichts von seinem Zustand bemerkt?
Ich hätte es eigentlich schon viel früher bemerken können. Wir haben uns vor und während der Proben zu Heldenplatz oft hier in Wien im Café des Hotels Imperial getroffen, ein Café, in dem schon damals nicht geraucht werden durfte. Darum hat er sich mit mir dort gern verabredet. Wir sind von dort zusammen in die Burg gegangen, ein kurzer Weg. Dennoch blieb er alle zehn Meter stehen, erzählte was über Bäume, über die Schaufensterdekoration, die Autos – weil er keine Luft mehr gekriegt hat. Das war seine Tarnung einer schon sehr weit fortgeschrittenen Krankheit. Er ist zehn Schritte gegangen, dann zeigte er mir die sibirischen Nebelkrähen, die schon wieder da sind. Er hat immer Vorwände gesucht, um die nächste Etappe zu bewältigen.
Wir sitzen jetzt über eine Stunde am Grinzinger Friedhof und niemand ist an Bernhards Grab gekommen. Wundert Sie das?
Ach, wenn wir noch eine Stunde warten würden, käme sicher jemand. Er hat eine große Verehrerwelt hinterlassen, im Winter bei Schnee können Sie genau die Spuren sehen, die zu seinem Grab führen. Jahrelang ist zum Beispiel eine Frau in Schwarz gekommen, die jede Woche einen Strauß mit weißen Rosen auf sein Grab gelegt hat.
Wie oft waren Sie an seinem Grab?
Sicher zehn-, zwanzigmal. Wenn man seine Bücher liest, weiß man nicht nur, was für ein großer Schriftsteller er war, sondern auch welche Rolle der Tod in seinem Leben spielte. Er hat oft gesagt: Die Krankheit ist mein Kapital.
Das Café Bräunerhof war Bernhards Lieblingscafé. Ihres auch zu Ihrer Wiener Zeit?
Ich mag das Bräunerhof nicht so gern, weil es mir zu sehr eine Bernhard-Pflegestätte geworden ist. Ich bin sicher mehrfach mit ihm dort gewesen, hab Kipferl mit ihm gegessen, aber Wien hat es nicht geschafft, mich zu einem Kaffeehausgänger zu machen. Mal schnell ins Café Landtmann, oder ins Cafè Museum, um die Jelinek zu treffen, sonst bin ich immer nur im Burgtheater gesessen. Ich bin in diesem Sinne ein Verrückter. Von den Städten, in denen ich lebe, sehe ich nichts. Mein Gefängnis ist das Theater, egal ob in Wien oder seit 16 Jahren in Berlin.
Sie werden bald achtzig, sind immer noch Intendant des Berliner Ensembles. Denken Sie manchmal an Ihren eigenen Tod?
Ja, sicher. Immerhin musste ich als einer der wenigen Personen nicht sterben, um in Wien eine Legende zu werden, ich lebe noch. Jetzt bin in jeder Hinsicht nah am Friedhof. Vor ein paar Jahren habe ich mich erpressen lassen, Ehrenmitglied des Burgtheaters zu werden. Das heißt, ich habe Anspruch auf ein Ehrengrab. Zugleich liebäugle ich mit einem Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin. Da liegt ein Teil der deutschen Elite: Bert Brecht, Helene Weigel, Heiner Müller, Ruth Berghaus, Bernhard Minetti. Da will ich eines Tages begraben sein.
Das klingt nicht so, als ob es aufginge, zugleich in Wien und Berlin begraben zu sein?
Ich erwäge, ob ich es so mache wie es bei den österreichischen Kaisern Sitte war: Das Herz kommt nach Wien, der Körper nach Budapest. Meiner käme dann nach Berlin. So haben alle Würmer was davon.
Fotos: Lukas Gansterer