Inselgefühl zum Überstreifen

Der Sommer 2019 hatte modisch die Gestalt eines wallenden Tunika-Kleids. Warum das trotz seiner Bezeichnung herzlich wenig mit »Bohemian Chic« zu tun hat.

Das »Boho-Dress« ist eines dieser Teile, die man im Urlaub kauft und zuhause doch nie trägt. Diese Frauen tun es trotzdem. Ob das den Sommer verlängert?

Fotos: instagram.com/judith_rakers; instagram.com/hithapalepu

Der Sommer hat, kalendarisch gesehen, nur noch wenige Tage und bei der Mailänder Fashion Week beschäftigt man sich dieser Tage bereits mit dem, was wir im nächsten Sommer tragen werden – ein guter Zeitpunkt also, um über den Modesommer 2019 Resümee zu ziehen. Müssten wir diesen mit einem einzigen Kleid beschreiben, so wäre es es ein luftig geschnittenes, gemustertes Tunika-Kleid mit langen Ärmeln, Modeinteressierten auch bekannt als »Boho Dress«.

Seine Überpräsenz lässt sich an zwei Beispielen besonders anschaulich darlegen. Einerseits: deutsche Fernsehmoderatorinnen. Die bekanntesten Talkmasterinnen des Landes scheinen sich bei jeder ihrer sommerlichen Aktivitäten am liebsten in lange wie kurze Wallekleider mit einer Art abgewandeltem Kufiya-Muster geworfen zu haben: Frauke Ludowig etwa beim Treffen mit Supermodel Eva Herzigova auf Mallorca in einer bodenlagen Version in weiß-blau, Franka Lehfeld in kurz und grün an der Chinesischen Mauer und Judith Rakers präsentiert auf ihrem Instagram-Account gleich eine ganze Kollektion verschiedener Kufiya-Kleider in rosa, hellblau, kurz und lang, getragen an verschiedenen Orten Skandinaviens oder dem Emder Hafen.

Die Kufiya ist ursprünglich ein von arabischen Männern getragenenes Kopftuch und wurde im Lauf seiner Geschichte zum Symbol verschiedenster politischer Überzeugungen und Subkulturen – von kämpfenden Palästinensern im Nahostkonflikt (daher auch die Bezeichnung als Palästinenser- oder Arafat-Tuch) bis zu linken Demonstranten der 68er-Generation.

Die deutsch-iranische Modedesignerin Leyla Piedayesh brachte mit ihrem Label Lala Berlin das Kufiya-Muster auf Kaschmirschals, Kleidern und Accessoires vor Jahren in die deutsche Laufsteg-Mode. Ihre Inspiration: Kindheitserinnerungen aus Teheran. Die Marken, die diesen Sommer hinter den beliebten Tunika-Kleidern stehen, heißen Cecilie Copenhagen, Gaago Fashion aus Deutschland oder Devotion aus Griechenland und haben mit der der Herkunft des von ihnen verwandten Musters vermutlich eher wenig zu tun.

Doch das Sommerkleid 2019 gibt es auch in der politisch unverfänglichen Version – zumindest, was das Muster anbelangt. Ausgelöst durch Bloggerinen wie Grace Atwood oder Blair Eadie erfreute sich auf Instagram diesen Sommer das #amazonnightgown großer Beliebtheit – ein mit Blumen oder Paisley-Muster bedrucktes Tunika-Kleid, erhältlich in fast 30 Farbvarianten und sechs Größen auf Amazon. Das Kleid einer chinesischen No-Name-Firma für gerade mal 31,99 Euro, hat mit der Bohème, also dem betont anti-bürgerlichen, oft kunstgeprägten Lebensstil, ungefähr so viel zu tun wie McDonald’s mit Proust.

Trotzdem wird es – wie auch die meisten der Kufiya-Kleider – als »Boho Dress« oder »Boho Chic« verkauft – ein Begriff, der ungefähr seit Sienna Miller auf dem Glastonbury-Festival 2004 für alles verwendet wird, was die klischeehafte Vorstellung von Hippie- oder Festivalmode so hergibt. Also: Lederfransen, Cowboyboots, Häkelwesten und das berühmte Walle-Kleid.

Was macht es bei seinen Anhängerinnen so beliebt? Einerseits ist es der besagte »Nightgown«-, also Nachthemd-Charakter: Das Kleid ist bequem, locker, und steht und passt irgendwie jedem. Gleichzeitig aber verleiht es seinen Trägerinnen umgehend das Gefühl, sich barfuß am thailändischen Strand oder im Sonnenuntergang von Ibiza zu befinden: mediterranes Lebensgefühl, Laissez-faire und Hippie-Attitüde zum Überstreifen. Es ist die Sehnsucht nach Ausbruch, ein bisschen wie das Urlaubsaccessoire, das man sich kauft, aber zuhause niemals trägt. Diese Frauen tun es doch. Ob das den Sommer verlängert?

Wird getragen von: TV-Moderatorinnen, Mary Kate & Ashley Olsen, Sienna Miller am Anfang des Jahrzehnts, Heidi Klum
Wird getragen mit: Korbtasche, Muschelkette, Federn im Haar, barfuß, Pool-Handtuch
Nicht verwechseln mit: Palästinenser-Tuch, Bohemian Rhapsody