Haben Sie »Pets - das geheime Leben der Haustiere« schon gesehen, den neuen Blockbuster, der diese Woche die Kino-Charts anführt? Darin geht es um den knuffigen Jack-Russell-Terrier Max, der gemeinsam mit dem Neufundland-Mischling Duke auf den Straßen von Manhattan landet. Dort entkommen sie den Tierfängern und treffen die Gang der »weggeworfenen Haustiere«, die - angeführt vom Kaninchen Snowball – Rache an den Menschen schwören, die sie misshandelt und verstoßen haben. Der animierte Film mit Star-Synchronsprechern wie Louis C.K. ist ein großer, rührender Spaß. Die Wirklichkeit in Amerika ist dagegen eher zum Weinen.
Amerikaner lieben ihre Hunde, zumindest sieht es auf den ersten Blick so aus. Jeder dritte Haushalt ist auf den Hund gekommen. Es leben fast 80 Millionen Hunde und fast 90 Millionen Katzen in Amerika. Allein auf meinem kleinen Wochenmarkt um die Ecke verkaufen drei Stände glutenfreien Hundekuchen und biologisch zertifiziertes Hühner-Jerky. Wenn ich es nicht für Unsinn halten würde, könnte ich meinem Hund im Hunde-Spa die extra Ganzkörper-Massage mit Haferflocken-Shampoo, »Star-Styling« und Zähne bleichen gönnen. Es gibt Fünf-Sterne-Luxushotels für Hunde mit »Präsidenten-Suite«, Flachbildfernseher, Chauffeur-Service und Mode-Boutique. Ich habe tatsächlich vor kurzem in Los Angeles einen reinrassigen schwarzen Pudel kennengelernt, der von seinem eigenen Chauffeur zum Hundepark, zum Friseur und zum Ernährungsberater kutschiert wurde. Das ist die eine Seite.
Die andere: Nur einer von zehn Hunden bleibt sein ganzes Leben lang bei der gleichen Familie. 7,6 Millionen Haustiere landen laut der American Society for the Prevention of Cruelty to Animals (ASPCA) jedes Jahr in amerikanischen Tierheimen (3,9 Millionen Hunde und 3,4 Millionen Katzen plus Meerschweinchen, Hasen und andere Kleintiere). Vielleicht, weil die Familie umzieht, doch nicht genügend Zeit für Fiffi hat oder nicht die Geduld aufbringt, den temperamentvollen Welpen richtig zu erziehen. Oder, wie jetzt im Sommer, weil die Familie in Urlaub fährt.
Und hier zeigt sich, dass Max und Duke allen Grund haben, mit allen Mitteln aus dem Tierheim auszubrechen: Mehr als ein Drittel der Hunde und vierzig Prozent der Katzen kommen aus dem Tierheim nicht mehr lebendig heraus. In amerikanischen Tierheimen werden jedes Jahr fast drei Millionen Hunde und Katzen eingeschläfert. Das sind 8000 pro Tag.
Man muss nur eines der städtischen Tierheime in Los Angeles besuchen, um zu begreifen, wie kaputt dieses System ist. In den dreckigen Beton-Zwingern von Baldwin Park bellen und miauen Hunderte von Hunde und Katzen um Aufmerksamkeit: der 10 Monate alte Labrador Werner springt in seinem Gehege auf und ab, als habe er noch nicht begriffen, dass die Familie, die ihn als Welpe adoptierte, nicht mehr wiederkommt; der acht Monate alte Husky Mosey wedelt mit dem Schwanz, als gäbe es kein Morgen; der neun Jahre alte Pitbull Danger hat sich in die Ecke verkrochen, als wüsste er schon, dass er hier ein kaltes Ende findet; ein zwölf Jahre alter, mit Flöhen übersäter Chow-Mix wird gerade von seinem Besitzer hier abgegeben, »weil er alt ist«, und so geht das Reihe um Reihe, Gebäude um Gebäude.
Ältere Hunde, Tiere mit gesundheitlichen Problemen, sogenannte »Kampfhund«-Rassen, Hunde, die den (fragwürdigen) »Temperament-Test« nicht bestehen, und Hunde, die dem Stress des Tierheims nicht gewachsen sind und die Pfleger auch nur anknurren, sind de facto schon so gut wie tot, wenn sie die Türschwelle des Tierheims überschreiten.
Aber auch der süße Husky-Welpe, die reinrassige, trächtige Schäferhündin und der absolut liebenswerte Boxer mit dem niedlichen Knautschgesicht, die doch eigentlich gut vermittelbar wären, werden den Tag nicht überleben. Es muss Platz geschaffen werden für die Neuankömmlinge von morgen. Wenn abends die Zwinger-Karte gefaltet und eine Leine an den Zwinger gehängt wird, ist das kein gutes Zeichen: Nachdem die Besucher des Tages wieder verschwunden sind, werden die Tiere vergast oder mit einer Spritze getötet. An diesem Abend hängen acht Leinen an den Zwingern.
Den meisten Amerikanern ist nicht klar, dass das Massensterben nicht normal ist. Einer der Gründer der amerikanischen Tierschutzorganisation Best Friends, Francis Battista, erzählt von seinen Anfangstagen, als ihm einmal eine Gruppe junger deutscher Touristen eine abgemagerte streunende Katze mit einem Wurf halbtoter Jungen brachte. Battista zeigte ihnen stolz seinen großen Gnadenhof und die Deutschen staunten darüber, dass er Hunderte von Hunden und Katzen auf der Ranch hielt. Wo die herkämen? Aus dem Tierheim. Warum er sie denn alle aus dem Tierheim gerettet hätte, wollten die Deutschen irritiert wissen. Weil sie sonst alle tot wären, antwortete Battista. Es dauerte eine Weile, bis sich der verdutzte Amerikaner und die entsetzten Deutschen verständigt hatten: Die Deutschen konnte nicht glauben, dass die Amerikaner all diese Tiere in den Heimen umbringen, und der Amerikaner konnte nicht fassen, was ihm die deutschen Touristen erzählten: Dass das Umbringen von gesunden Haustieren in Deutschland gesetzlich verboten ist.
Das war, sagt Battista, »ein epischer Aha-Moment. Das Töten von Haustieren in Heimen war also vermeidbar! Natürlich gibt es zwischen Amerika und Deutschland Unterschiede, aber wir Amerikaner lieben unsere Haustiere genauso wie die Deutschen. Wie also können wir dieses Modell nach Amerika bringen?« Seitdem verfolgt Best Friends das Ziel, »No Kill« in ganz Amerika durchzusetzen.
Zum Vergleich: Auch in Deutschland sind die Tierheime überfüllt. Jedes Jahr landen etwa 75.000 Hunde und 132.000 Katzen in deutschen Tierheimen. Nur rund drei Viertel der Tiere finden innerhalb eines Jahres ein neues Zuhause. Aber selbst die schwer vermittelbaren Tiere werden nicht wegen ihres Alters, gesundheitlicher Probleme oder Platzmangel umgebracht. Im Gegenteil, das ist sogar illegal: Nur in absoluten Ausnahmefällen, wenn ein Hund unter starken Schmerzen leidet oder trotz Verhaltenstraining eine akute Gefahr darstellt, darf er von einem Tierarzt eingeschläfert werden.
In Amerika dagegen ist das Töten Alltag. Private und staatliche Rettungsorganisationen stemmen sich gegen die Flut von »weggeworfenen Haustieren«, starten Info-Kampagnen und kostenlose Kastrierungs-Kliniken. Promis wie Bradley Cooper, George Clooney und Ellen DeGeneres rufen dazu auf, Tiere statt vom Züchter aus dem Tierheim zu adoptieren. Da sitzen nämlich erstaunlich auch viele reinrassige Schäferhunde, Dobermänner und Dackel. Gerade erst hat wieder die Aktion »Leert die Heime!« stattgefunden, in denen Tierheime die Hunde und Katzen kostenlos verschenken. Und das »No Kill LA«-Tierheim von Best Friends in Santa Monica sieht nicht verrottet und verrostet aus wie die überfüllten Zwinger der städtischen Heime, sondern sauber und geräumig wie eine erstklassige Hunde-Boutique.
In Los Angeles gilt deshalb, man glaubt es kaum, die Tötungsrate von über 30 Prozent als Erfolg: Vor wenigen Jahren lag sie noch bei über 60 Prozent.
Um »No Kill« auch in Amerika Wirklichkeit werden zu lassen, müsste nur jeder Zweibeiner, der »Das geheime Leben der Haustiere« sieht, einen Vierbeiner aus dem Tierheim adoptieren. Damit aus dem geheimen Sterben der Haustiere ein gutes Leben wird.
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