Der Untergang des Hauses Suhrkamp

Einst war Suhrkamp das Flaggschiff der deutschen Buchverlage. Eine Chronik.

Fotos: Joachim Unseld (Bild 1) und Ulla Unseld-Berkéwicz (Bild 2).
Im Restaurant des alten Literaturhauses ist die Welt noch in Ordnung. Franz, der Wirt aus dem Österreichischen, ist da, und die Weine stimmen. Das Frankfurter Literaturhaus befindet sich längst woanders, aber Franz ist in der Gründerzeitvilla an der Bo-ckenheimer Landstraße geblieben – obwohl hier nichts mehr stattfindet und von außen kaum zu erkennen ist, dass im Erdgeschoss ein gastronomischer Betrieb ausharrt. Hierher kommt der Suhrkamp Verlag gern. Hier sieht alles aus wie früher. Franz verkörpert die Zeit, als Bilder und Zeiten, die Beilage der FAZ, noch im Kupfertiefdruck erschien, die Frankfurter Rundschau eine überregional bedeutende Tageszeitung war und der Suhrkamp Verlag unangefochtenes Flaggschiff der deutschen Buchverlage.

Ein, zwei Schritte weiter, und man steht vor dem Verlagshaus in der Lindenstraße. In Frankfurt ist alles sehr klein. Die Bankhochhäuser prägen nur auf den ersten Blick das Stadtbild. Viel beherrschender sind die funktionalen Bauten der Nachkriegszeit. Ihr bröckliger Beton steht für Effektivität. Das Suhrkamp-Haus, Lindenstraße 29–35, ist im hellen Licht der 1960er-Jahre entstanden, in einer Leichtbauweise, die das Frankfurter Lebensgefühl abbildet: dünne Wände, Hektik und Nervosität, Hellhörigkeit. Dies ist der beste Nährboden für Intrigen. Die Sechzigerjahre sind die mythischen Jahre des Suhrkamp Verlags. Uwe Johnson, Peter Weiss, Enzensberger, Walser, Handke. Adorno, Marcuse, Habermas. Die »Suhrkamp-Kultur«, wie der amerikanische Literaturwissenschaftler George Steiner sie mit einer berühmt gewordenen Formulierung nannte, wird zum Symbol für die Kultur der Bundesrepublik schlechthin. »Suhrkamp« erscheint als bundesdeutsches Emblem wie Mercedes oder Siemens; der Kanon der Literatur in dieser Zeit ist gleichbedeutend mit den neu gegründeten bunten Taschenbuchreihen des Verlags. Das geht bis in die Achtzigerjahre. Es sind die Jahrzehnte Siegfried Unselds, des charismatischen Alleinherrschers. Dann beginnt sich langsam etwas zu ändern. Unseld und seine langjährige Ehefrau Hilde trennen sich, Unseld heiratet 1990 eine seiner Autorinnen, die auch als Schauspielerin agierende Ulla Berkéwicz. Zum ersten Mal merken Beobachter auf, als Unseld seinen Sohn Joachim, dem er seine Nachfolge fest versprochen hat, kurz nach dieser Heirat aus dem Verlag wirft. Es kommen neue Thronfolger, die Unseld zuerst holt und dann entlässt: Thedel von Wallmoden, Christoph Buchwald.

Unseld stirbt 2002, und er hat, für die Öffentlichkeit unmissverständlich, vorher Günter Berg als operativen Leiter eingesetzt: Er sieht in ihm einen Geistesverwandten, der seit 1990 in seinem Sinne gearbeitet hat. Berg verlässt jedoch bald darauf nach Auseinandersetzungen mit Ulla Unseld-Berkéwicz das Haus. Es geht um Kompetenzen: Jeder, den man fragt, ist der Meinung, dass Unseld als seinen Nachfolger Berg bestimmt hat. Doch Ulla Berkéwicz hat ihren Rechtsanwalt Heinrich Lübbert mit ins Haus gebracht, und es entsteht eine unübersichtliche juristische Konstruktion, der man anfangs nicht viel Beachtung schenkt. Ob Unseld selbst das überblickt hatte? Jedenfalls sitzt Unselds Witwe als Vorsitzende der Geschäftsführung am längeren Hebel. Zusammen mit Günter Berg geht auch Thorsten Ahrend, der allseits hoch geachtete Lektor für deutsche Gegenwarts-literatur. Rainer Weiss, nach Berg Programmleiter des Hauses, macht es ebenfalls nicht lange. Ebenso Georg Rieppel, der bei C. H. Beck ein gerühmter Vertriebschef gewesen und für diesen Bereich in die Suhrkamp-Geschäftsführung geholt worden war. Auch die Leiter von edition suhrkamp und Suhrkamp-Wissenschaft sowie andere langjährige Mitarbeiter gehen.

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Suhrkamp ist ein Mythos. Den Glamour früherer Tage gibt es aber nicht mehr, und umso größer ist mancherorts die Häme. Bei Suhrkamp schaut man genau hin, auch wenn über die finanzielle Situation in der Öffentlichkeit kaum etwas bekannt ist. Offiziell heißt es, der Verlag schreibe schwarze Zahlen. Doch in der Branche weiß jeder, dass trotz operativer Verluste schwarze Zahlen ausgewiesen werden können, wenn man einiges Tafelsilber in der Hinterhand hat. Man munkelt vernehmlich darüber, wie lange das noch so geht. Zuletzt machte Schlagzeilen, dass die Hamburger Geschäftsleute Hans Barlach und Claus Grossner die Suhrkamp-Anteile des Schweizer Unternehmers Andreas Reinhart erwarben und so ein Mitspracherecht in der Gesellschafterversammlung durchsetzen wollten – jetzt ist nur noch Barlach übrig geblieben, und die komplizierten juristischen Auseinandersetzungen zwischen ihm und Ulla Unseld-Berkéwicz, die seine Ansprüche abwehrt, werden sich wohl noch hinziehen.

Nach dem Abgang von Programmleiter Rainer Weiss ist klar, dass Siegfried Unselds Witwe allein über Suhrkamps Literaturkanon entscheidet. In der Hierarchie folgt jetzt nach ihr Thomas Sparr. Er war eine Zeit lang für den »Jüdischen Verlag« bei Suhrkamp verantwortlich, ging dann für drei Jahre als Cheflektor zum Siedler-Verlag, bevor er vor drei Jahren als Leiter der Öffentlichkeits-
arbeit und für »besondere Programmaufgaben« zu Suhrkamp zurückgeholt wurde. Im persönlichen Gespräch ist Sparr zögerlich, kurz angebunden: Auf die Frage, ob man auch mit »Frau Berkéwicz« sprechen könne, antwortet er: »Frau Unseld ist einen Monat in Schreibklausur!« Eine Unachtsamkeit, und schon wird man erwischt. Man muss hier bei jedem Wort aufpassen.

Das Treffen mit Rainer Weiss findet in einem Café um die Ecke seines früheren Verlags statt. Er fährt morgens, wenn er mit dem Rad in sein neues Büro unterwegs ist, immer hier vorbei und holt sich Brötchen. Jeder Meter der Strecke ist aufgeladen. Das erste Mal, so Weiss, habe er gestutzt, als in offiziellen Schriftstücken immer öfter von der »Verlegerin« die Rede war und Ulla Unseld-Berkéwicz nicht mehr als »Vorsitzende der Geschäftsführung« bezeichnet wurde. Über ihre »außer-gewöhnlich ehrgeizigen« Projekte wie die Gründung einer neuen Reihe und eines neuen Verlags sei es dann vermehrt zu inhaltlichen Auseinandersetzungen gekommen. Weiss stand besonders dem »Verlag der Weltreligionen«, der jetzt von Suhrkamp mit großem Aufwand auf den Markt gebracht wird, »mit Skepsis und Sorge« gegenüber.

Am 1. April 2006 wurde Weiss zu einem Gespräch mit Rechtsanwalt Heinrich Lübbert gebeten, der in der Suhrkamp-Saga der letzten Jahre vielleicht die Hauptrolle spielt. Lübbert teilte Weiss mit, er habe sich zu viel zugemutet, sei überlastet. Man habe ein Arbeitsmodell für ihn entwickelt, es sei besser, er gehe darauf ein: »Sonst können wir gleich zum Exit-Gespräch übergehen!« Einige Monate später kündigte Weiss von sich aus. Ende des Jahres gab Frau Unseld dem Magazin Focus ein Interview. Sie habe dort, sagt Weiss, »Behauptungen aufgestellt, die einfach nicht stimmen« – zum Beispiel, dass Weiss die Kündigung des Marketing-Geschäftsführers Georg Rieppel betrieben habe. Auch die Darstellung, dass die herausragenden Autoren Imre Kertész und Daniel Kehlmann den Verlag seinetwegen verlassen hätten, weist Weiss entsetzt zurück: »Dieses Interview war niveau- und stillos.«

Auf das Focus-Interview von Frau Unseld kommt auch Thorsten Ahrend zu sprechen, ein verschwiegener Mecklenburger. Für seine Kündigung bei Suhrkamp im Jahr 2003 hat er »persönliche Gründe« angegeben. Er ist jetzt Lektor im kleinen, aber literarisch engagierten Göttinger Wallstein-Verlag. Bei jenem Focus-Interview habe er sich gedacht, es sei doch bemerkenswert, dass alle, die Suhrkamp verlassen haben, sich immer noch so loyal zeigten. Und das angesichts der Art, wie Frau Unseld hier über Günter Berg und Rainer Weiss spreche! Ob er, Thorsten Ahrend, im Nachhinein seine »persönlichen Gründe« genauer beschreiben könne? Die Stelle des Lektors für deutsche Gegenwartsliteratur bei Suhrkamp sei damals die Traumstelle für einen Lektor gewesen. Die Kündigung das größtmögliche Statement, sagt er: »Jeder Kommentar wäre eine Abschwächung!«

Im Nachhinein wirkt es so, als ob im Suhrkamp Verlag die Entwicklung sorgfältig geplant worden sei – angefangen bei dem komplizierten Modell mit Holding, Stiftungsbeirat und operativem Verlagsgeschäft, dessen Entwurf noch aus Siegfried Unselds Lebzeiten stammt. Heinrich Lübbert war der Anwalt von Ulla Berkéwicz bei ihrer Scheidung von dem Theaterregisseur Wilfried Minks und tüftelte auch diese Konstellation aus. »Niemand hat das damals in den Details und Konsequenzen kapiert!«, sagt Ahrend. Der Beirat, dem Verlagskapazitäten wie Jürgen Habermas angehörten, trat nach der Entmachtung Günter Bergs geschlossen zurück und ließ mitteilen: »Ohne unsere Mitwirkung und gegen unseren ausdrücklichen Willen« seien Entscheidungen getroffen worden, für die man die Verantwortung nicht mittragen könne und wolle. Es zeigte sich, dass der Beirat nichts zu sagen hatte. Juristisch ist Ulla Unseld-Berkéwicz kein Vorwurf zu machen – dafür zollt ihr Ahrend durchaus Respekt.

Ahrend hat »kein Rachebedürfnis«, sein Grundgefühl ist eher Trauer. Denn auch er ist vom Suhrkamp-Mythos geprägt. Ihm sind die legendären Buchumschläge von Willy Fleckhaus bis tief in die DDR hinein zugespielt worden. Und überhaupt: Für zwei, drei Generationen war der Suhrkamp Verlag der Grundquell der Erkenntnis. Schüler trampten Anfang der Siebzigerjahre an den verkaufsoffenen Samstagen in die nächste größere Stadt und stießen dort in den Buchhandlungen zwangsläufig auf Walter Benjamins Über Haschisch, das passte genau. Und Hermann Hesses Steppenwolf erklärte vielen endlich, wie sie sich fühlten: Dieses Pathos aus Einsamkeit und Sexualität war die angemessene Übergangsmusik ins Erwachsenenalter.

Burgel Zeeh hat diese Zeit vom Zentrum aus erlebt, sie war 35 Jahre lang die Sekretärin von Siegfried Unseld und wusste alles. Unseld, so erzählt sie, habe kein Privatleben gekannt, er habe für den Verlag und für seine Autoren gelebt, selbst seine Urlaubsreisen waren verlegerische Tätigkeiten. Einmal habe Thomas Bernhard sie angerufen, kurz vor seinem Tod, was man aber noch nicht ahnen konnte: Er müsse dringend Unseld sehen. Sie ging ins Zimmer des Chefs: »Er hatte immer so eine Art, seinen Stuhl zum Fenster zu drehen und hinauszusehen, doch mit dem rechten Ohr hörte er sich an, was ich zu sagen hatte.« Seine einzige Reaktion war: »Wann geht die nächste Maschine?«

Im Mai 2002 wurde Siegfried Unseld krank. Zum letzten Mal hat sie ihn am 30. September jenes Jahres am Telefon gehört, zwei Tage nach seinem Geburtstag. Jedes Jahr zum Geburtstag bekam er einen Kalender, 35-mal hat sie diesen Kalender ausgefüllt, mit Adressen, Terminen. Er rief am Abend um 22 Uhr an, und sein letzter Satz war: »Sie sind mir jederzeit willkommen – ob mit oder ohne Geschenk!« Danach durfte sie ihn nicht mehr besuchen, Ulla Unseld-Berkéwicz ließ es ihr untersagen. Nach Unselds Beerdigung wurde sie auch nicht zum Beisammensein mit Autoren und Freunden eingeladen. Am 4. Oktober 2007 erhält sie das Bundesverdienstkreuz, »für ihre Verdienste um die deutsche Literatur«.
Das Büro des Suhrkamp-Sprechers Thomas Sparr liegt im vierten Stock. Hier sitzen die wichtigsten Lektoren, und in den Zimmern sieht man, dass sich vor den Fenstern eine Balustrade hinzieht, ein Gang, von dem man nach innen blicken kann. Siegfried Unseld soll diesen Spaziergang oft gemacht haben, um zu schauen, was seine Lektoren treiben. Mittlerweile haben die Metallverstrebungen einige Rostflecken angesetzt.

Wenn man Sparr auf das Image anspricht, auf die schlechte Presse, antwortet er diplomatisch. Die negativen Berichte über Frau Unseld führt er auf »antifeministische Impulse« zurück, in denen »man einer Frau nichts zutraut«. Man müsse sich an den neuen Stil gewöhnen. Früher seien alle Tätigkeiten auf Siegfried Unseld bezogen gewesen, jetzt sei dieses Leitungsprinzip nicht mehr da: »Frau Unseld setzt auf Teilhabe.« Entscheidungen würden jetzt »oft in sehr enger Abstimmung gefällt«, es sei »ein offener Stil des Austauschs«. Auf die Frage, warum so viele wichtige Leute in recht kurzer Zeit das Haus verlassen hätten, sagt er: »Ein Unternehmen muss es verkraften, wenn führende Mitarbeiter das Haus verlassen – es lag bestimmt nicht an Frau Unseld!« Die Weggänge seien unterschiedlicher Art. Manch einer allerdings »maßte sich Kompetenzen an, die formal nicht vorlagen«. Wie müsse man sich die Rolle von Frau Unseld vorstellen? Wollte sie von Anfang an Verlegerin sein? Thomas Sparr: »Es war der Wunsch Siegfried Unselds, sie einzusetzen. Sie versteht den Wunsch ihres Mannes als einen Auftrag!«

Es sind, zumindest auf der Führungsebene, ruhigere Zeiten angebrochen. Man kann sicher sein, dass es zwischen Thomas Sparr und Frau Unseld keine Kompetenzprobleme geben wird. Er ist nicht nur Sprecher des Hauses, sondern auch »Vertreter von Frau Unseld«. Als er dies sagt, fügt er lächelnd hinzu: »Und das bin ich auch gern!« Ein paar Büros weiter sitzt Charlotte Brombach, die junge Lektorin für Gegenwartsliteratur. Sie hat bereits einige Erfolge vorzuweisen. Ihr bisher größter Coup war wohl ein kleines Bändchen des New Yorker Songwriters Adam Green im Januar 2005. Um Adam Green entwickelte sich in jener Saison ein ungeahnter Pop-Hype, und eine Szene, die mit dem Suhrkamp Verlag sonst nie in Verbindung gekommen wäre, reagierte verblüfft. Die Rechnung ging auf. Den Suhrkamp-Pop definiert Brombach so, dass »Pop« nicht nur inhaltlich gemeint sei, sondern sich auch auf die Schreibweise beziehe. Keine Frage: Frau Brombach steht in der Suhrkamp-Tradition. Eher genervt reagiert sie beim Thema des Personalkarussells, der Führungsfragen: Sie wolle über Bücher reden, nicht das »Drumherum«.

Eine U-Bahnstation weiter arbeitet der Mann, der vielleicht auch ihr Chef hätte
sein können: Joachim Unseld. Er hat seine »Frankfurter Verlagsanstalt« in einem Guerilla-Nest untergebracht, in einem weiträumigen Loft eines Büroneubaus. Die Ähnlichkeit mit seinem Vater ist verblüffend. Er hat dieselbe offensive Art, auf Autoren zuzugehen und mit ihnen Freundschaft zu schließen. In seinem Büro stehen einige Attribute, die wie aus der Zeit gefallen scheinen: ein alter Überseekoffer, er enthält die vollstän-dig lektorierten Manuskripte des Autors Ernst-Wilhelm Händler – einer Entdeckung Joachim Unselds, hinter der er ohne Wenn und Aber steht. Sein Schreibtisch gehörte zur Aussteuer seiner Mutter, als sie Siegfried Unseld 1952 heiratete. Seit seiner ersten eigenen Wohnung im Jahr 1973 begleitet ihn das Möbelstück, und immerhin, so sagt er, habe davor auch schon Beckett gesessen.

Joachim Unseld ist mit 20 Prozent an der Suhrkamp Verlag KG beteiligt. Wenn die Kos-ten den Umsatz überflügeln, wird das zu einer Bürde. Es ist bekannt, dass er über die Suhrkamp GmbH öffentlich nicht reden will. Er redet lieber über seinen kleinen literarischen Verlag, der dem »Strukturbruch«, wie er es nennt, des Buchhandels mit neuen Ideen begegnen muss. Zu Suhrkamp ist Joachim Unseld nur eine Äußerung zu entlocken – er schaut dabei durchs Fenster, man sieht sein Profil, sein rechtes aufmerksames Ohr. Er frage sich »mit großer Sorge«, ob dieser Verlag in seiner Organisation die nächsten zehn Jahre übersteht. Wenn er durch das Fenster blickt, sieht er, verschwommen im Frankfurter Dunst, das Dach des Suhrkamp Verlags.