Die Kommunikationsabteilung von Wilkinson Sword schweigt. »Ich bin nicht autorisiert, mit Ihnen zu reden«, lautet die Auskunft bei der deutschen Zentrale des Nassrasierer-Herstellers in Solingen. Gleiches bei einem aushäusigen PR-Unternehmen in Köln: »Unser Kunde zieht es vor, derzeit lieber nicht mit Vertretern der Presse zu sprechen.« Auch beim amerikanischen Mutterkonzern Energizer Holdings in St. Louis werden mündliche wie schriftliche Kontaktversuche entschieden abgewehrt. Ein Besuch im Forschungslabor? Undenkbar. Ein Telefonat mit einem verantwortlichen Mitarbeiter? »Sorry, man lehnte ab.«
Beim Konkurrenten Gillette gibt es ähnliche Hindernisse. »Schwierig, sehr schwierig« sei der Besuch des Forschungszentrums im britischen Reading, heißt es hier. Nur einmal im Jahr dürften Journalisten das streng gesicherte Labor betreten. Kollegen, denen diese Ehre zuteil wurde, berichten davon, durch leer gefegte Räume geführt zu werden, aus denen alles entfernt wurde, was Aufschluss über den Stand der Forschungen geben könnte.
Geht es hier wirklich um Rasierklingen? Stellen die Firmen in ihren Geheimlabors in Wahrheit Waffen für die iranische Regierung her? Oder Dopingmittel für die Tour de France? Anders als bei Wilkinson kann die Pressedame von Gillette schließlich doch noch einen hochkarätigen Interviewpartner vermitteln: Kevin Powell, den langjährigen Leiter des Labors in Reading. Mit großem Elan schildert Powell, wie bei der Entwicklung von Nassrasierern hochkomplexe Präzisionsmechanik und Nano-technologie zum Einsatz kommen, doch auf manche Fragen schweigt auch er. So darf er nicht verraten, wie viele Wissenschaftler in Reading und im zweiten Gillette-Forschungszentrum in Boston tätig sind. »Mehrere hundert«, orakelt er und fügt dann entschuldigend hinzu: »In unserem Geschäft ist Vertraulichkeit unglaublich wichtig. Wir investieren viel Geld in die Forschung und müssen verhindern, dass die Konkurrenz herausfindet, woran wir arbeiten.«
Viel Geld. Darum geht es. Der Blick auf den Marktführer Gillette – globaler Marktanteil bei Rasierapparaten und Klingen: rund 70 Prozent – gibt einen Eindruck von den Dimensionen der Branche. Im vergangenen Bilanzjahr hat Gillette im Rasiergeschäft einen Umsatz von 5,2 Milliarden Dollar gemacht – bei einem Gewinn vor Steuern von 1,7 Milliarden Dollar. Die Marke gilt als eine der wertvollsten in der gesamten Konsumgüterindustrie. Als der Konzern Procter & Gamble im Herbst 2005 Gillette übernahm, zahlte er einen Kaufpreis von 57 Milliarden Dollar – zwanzig Milliarden mehr, als Daimler-Benz damals für Chrysler berappte. Auch der Umsatz von Wilkinson Sword, der Nummer zwei hinter Gillette, liegt nahe der Milliardengrenze. Beide Firmen, erbitterte Konkurrenten, befinden sich seit Jahren auf Expansionskurs.
Den Profiten liegt eine einfache Bedarfsrechnung zugrunde. Rund 25000 Barthaare hat der Mann, im Verlauf von 24 Stunden wachsen diese ungefähr 0,4 Millimeter. Ostdeutsche Pfarrer, die Taliban und andere Randgruppen mögen sich darüber freuen, der überwiegende Teil der Männer – zwei bis drei Milliarden – zieht es jedoch vor, sich des Bartes mittels regelmäßiger Rasur zu entledigen. In den Industrieländern rasieren sich die männlichen Jugendlichen, zur Freude der Hersteller, inzwischen auch noch Brust-, Bein- und Schamhaare ab.
Bereits die alten Römer schmierten sich mit einer Enthaarungscreme ein, die Pech, Fledermausblut und gemahlene Giftschlangen enthielt, und im Lauf der Geschichte ersonnen findige Barbiere viele Methoden, das Kinn ohne allzu großen Blutverlust zu glätten. Die unkomplizierte, gründliche und schmerzfreie Rasur scheint ein aus alten Zeiten tradierter Urwunsch des Mannes zu sein. Diese Sehnsucht liegt der modernen Rasierindustrie zugrunde – ihren Versprechungen und Innovationen, ihrer Wachstumsdynamik, ihrer Geheimhaltungspolitik sowie den skurrilen Erkenntnissen ihrer Marktforschung. »Nassrasierer leben glücklicher. Sie sind vitaler, aktiver und auch in der Ehe treuer«, fand Wilkinson heraus.
Aber welches ist nun die beste Methode, sich zu rasieren? Über diese Frage wird, wie könnte es anders sein, hitzig gestritten; so zog Wilkinson im Herbst 2003 gegen den Gillette-Slogan »The world’s best shave« vor Gericht. Einig sind sich die Konkurrenten – und auch unabhängige Forscher – immerhin darüber, dass die Elektrorasur nicht als Nonplusultra gelten kann. Die Methode geht zwar schneller als die Nassrasur und kann auch im Auto oder Büro durchgeführt werden, doch wird dabei weniger vom Barthaar abgeschnitten. Um den Elektro-Markt dennoch abzudecken, kaufte Gillette allerdings schon 1967 den deutschen Elektrogeräte-Hersteller Braun, Marktführer bei Scherfolienrasierern.
Seit der legendäre Firmenpatriarch King Camp Gillette – er hieß wirklich so – im Dezember 1901 ein Patent für seinen Rasierapparat mit Austauschklinge erhielt, sind die Rasierfirmen in einer ausweglosen Selbstüberbietungsdynamik gefangen: Alle paar Jahre müssen neue Geräte vorgestellt werden, die noch besser rasieren als die bis dahin als perfekt angepriesenen Vorgängermodelle. Bereits 1921 verkündete der Technikchef von Gillette, der »New Improved Safety Razor« sei inzwischen derart vollkommen, dass es kaum möglich sei, ihn weiter zu verbessern. Diese Worte hallen noch heute durch jede Präsentation eines neuen Gillette-Rasierers.
Mehrmals gelang es Wilkinson Sword jedoch, den übermächtigen Konkurrenten zu düpieren. So zum Beispiel 1962, als die Londoner Firma, die einst Säbel für die britische Armee schmiedete, die erste Rasierklinge aus Edelstahl auf den Markt brachte; Gillette brauchte ein Jahr, um nachzuziehen. So auch 2003, als Wilkinson mit dem Vier-Klingen-Rasierer Quattro gegen den Mach3 von Gillette antrat. Gillette wurde nervös und versuchte, Wilkinson wegen Patentverletzung zu verklagen. In Deutschland kam es darüber zum Prozess und das Landgericht Düsseldorf stellte fest, dass sich Gillettes Patent nur auf Drei- und nicht auf Vier-Klingen-Rasierer bezog. »Drei ist nicht vier«, so die unabweisbare Logik des Richters. Wilkinson rächte sich für den Angriff und ließ vor Gericht klären, ob die »Mikro-Impulse«, welche der vibrierende Griff eines Gillette-Rasierers laut Werbung abgab, tatsächlich den Effekt hätten, die Barthaare noch weiter aus dem Follikel zu locken. Verhandelt wurde dabei eine Haarlänge von zirka 30 Mikrometern – das sind wenige tausendstel Millimeter.
Erst mit dem Fünf-Klingen-Rasierer Fusion, eingeführt im September 2006 und im gewohnten, futuristisch-knalligen Macho-Design gehalten, konnte Gillette den Konkurrenten wieder in die Schranken weisen. Vordergründig mag es nicht besonders einfallsreich wirken, ein Vier-Klingen-Gerät mit einem Fünf-Klingen-Gerät zu toppen, doch Kevin Powell, in dessen Forschungszentrum das Klingenmodul des Fusion entworfen und getestet wurde, beharrt auf der Fortschrittlichkeit seiner Entwicklung. »Ein Rasierapparat scheint etwas Banales zu sein. Tatsächlich wird dieses Produkt mit einer Präzision und einem technischen Aufwand gefertigt, welche nicht einmal in der Uhrenindustrie zu finden sind.«
Powell baute früher Flugzeugtriebwerke für Rolls-Royce. Als er eine neue Herausforderung suchte, wechselte er zu Gillette. »Die meisten Leute verstehen nicht, wie komplex das ist, was wir hier machen«, sagt er und erläutert dann jenes Patent des Fusion-Rasierers, auf das er besonders stolz ist. Die Erfindung dient dazu, den Abstand zwischen den fünf Klingen möglichst gering zu halten, weil das den Komfort der Rasur erhöht, dabei aber zu gewährleisten, dass das Modul gut ausgespült werden kann und die Klingenzwischenräume nicht mit Haaren und Hautfetzen verstopfen. »An diesem Problem haben wir im Prinzip seit 1971 gearbeitet«, erklärt Powell. »Doch erst jetzt war es möglich, den Abstand zwischen den Klingen auf einen Millimeter zu verringern. Wir haben nämlich einen Weg gefunden, die Klingen und die Befestigungen sehr, sehr dünn zu machen. Mit dünn meine ich: kaum dicker als ein menschliches Haar. Das klingt ein bisschen verrückt, ich weiß. Wie bitte, fragen die Leute, ihr habt all die Jahre nur daran gearbeitet, die Klingen dünner zu machen? Das Problem ist, dass die geometrische Präzision geradezu irrwitzig hoch sein muss. Wenn wir die Klingen versehentlich um nur vierzig tausendstel Millimeter versetzen, merkt das der Kunde beim Rasieren und sagt, das fühlt sich nicht so gut an wie vorher.«
In den Labors der Rasierfirmen arbeiten Physiker, Chemiker, Biologen und Hautärzte, aber auch Ingenieure, Materialwissenschaftler, Bioniker und Industriedesigner. Diese gut bezahlten Experten haben ein Geheimwissen über den Rasurvorgang angesammelt, mit dem unabhängige Institutionen, wie etwa Universitäten, schon lange nicht mehr konkurrieren können. Vieles davon kommt tatsächlich dem männlichen Kinn zugute. »Im Laufe der Jahre hat sich die Güte der Rasur verbessert«, bestätigt Professor Henning Hamm, Hautarzt am Uni-Klinikum Würzburg. »Die Gefahr, sich zu schneiden, ist meines Erachtens geringer geworden.« Gleichzeitig lässt sich nicht überprüfen, welche Verbesserungen vielleicht zusätzlich möglich wären, aber aus Marktlogik nicht weiter verfolgt werden. »Ich finde, man sollte Klingen entwickeln, die länger scharf bleiben«, meint Professor Hamm. »Aber das wäre natürlich nicht im Interesse der Firmen.«
Momentan kann man eine Ersatzklinge für den Fusion für 3,50 Euro kaufen. Wechselt man jede Woche die Klinge, so kostet die Rasur mit dem Fusion bei gleichbleibendem Preis im Jahr genau 182 Euro. Für die beste Rasur der Welt sollte das eigentlich angemessen sein. Doch genauso wenig wie Männer über ein Einheitskinn mit genormtem Bartwuchs verfügen, kann es die eine, allein seligmachende Rasiermethode geben. Ob Fusion oder Quattro, Elektro-Apparat oder Nagelschere – was am besten rasiert, kann der Mann an jedem Morgen neu entscheiden.
Selbst Opas Rasiermesser kommt derzeit zu neuen Ehren. »Der Trend ist ganz deutlich: Aus Kosten- wie aus Umweltgründen wollen die Leute weg von den modernen Wegwerfprodukten«, sagt Stefan Wolf, der auf der Webseite www.nassrasur.com Zubehör für die klassische Herrenrasur anbietet. Der Umgang mit dem Messer will zwar gelernt sein, wenn die Rasur nicht in einem Blutbad enden soll, doch auch diese altmodische Methode wird von ihren Verfechtern als die schönste, gründlichste und angenehmste angepriesen. Ein weiterer Vorteil: »Langfristig gesehen ist es sicherlich am billigsten, sich mit einem Rasiermesser zu rasieren«, sagt Wolf. »Einmal zusammen mit dem nötigen Zubehör angeschafft, ergeben sich praktisch keine Folgekosten.« Ein gutes Rasiermesser hält dabei so lange, dass man es noch seinem Sohn vermachen kann. Ob sich hingegen künftige Generationen freuen werden, in ihrer Erbmasse einen gebrauchten Sechs-Klingen-Rasierer – der sicherlich irgendwann kommen wird – vorzufinden, darf bezweifelt werden.
Fotos: André Mühling