Berlin, eine Wohnung in Prenzlauer Berg, Blick über die Dächer. Es hat geschneit, die Möbel auf dem Balkon sehen aus wie mit Watte überzogen. Auf einem Fenster und zwei Glastüren: physikalische Formeln, mit schwarzem Filzschreiber aufgemalt. Die Formeln stammen von Diskussionen mit Kollegen, mit denen gemeinsam Fotini Markopoulou-Kalamara an physikalischen Abhandlungen arbeitet, und eine Tafel wollte sie sich nicht in die Wohnung hängen. Fotini Markopoulou-Kalamara lebt mit ihrem Lebensgefährten, einem der ersten Chaostheoretiker, seit zwei Jahren und nur noch für ein paar Wochen in Berlin, als Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung. Zusammen haben sie einen 20 Monate alten Sohn, der in der Berliner Charité geboren wurde.
SZ-Magazin: Können Sie nachvollziehen, dass ich ein wenig Angst vor diesem Interview habe?
Wieso denn?
Ich begreife nicht, was Sie tun. Zum Beispiel arbeiten Sie an einer Theorie, derzufolge es keinen Raum gibt. Falls ich es richtig verstanden habe.
Ja.
Ich kann mir so etwas nicht vorstellen. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass Sie sich das vorstellen können. Gehen Sie denn manchmal die Straßen lang und stellen sich dabei vor, dass es keinen Raum gibt?
Nicht sehr häufig, aber es kommt vor. Manchmal denkt man eben darüber nach, wie eine Welt wäre, in der bestimmte Konstruktionen keine Geltung mehr haben. Was wäre zum Beispiel, wenn es das Konzept »Heirat« nicht gäbe? Nähme man die Menschen anders wahr? Wäre das Leben anders? Etwas Ähnliches kann man auch mit dem Raumbegriff versuchen. Vielleicht sind viele Dinge, die wir für gegeben halten, nur Konstruktionen. Nützliche und angenehme Konstruktionen, aber eben Konstruktionen. Genau das ist es doch, was Wissenschaft tut: Sie untersucht Konstruktionen und zerstört sie möglicherweise sogar, um sie durch neue, bessere zu ersetzen.
Wie kommt man als Physiker auf neue Ideen?
Oft hängen sie mit den Problemen zusammen, die man sich in früheren Phasen des Nachdenkens eingehandelt hat. Man arbeitet an einer Abhandlung, weil man ein bestimmtes Problem lösen will. Doch dann stellt man fest, dass es zu schwierig ist, um gelöst zu werden. Erst muss man noch andere Fragen beantworten.
Sehr beruhigend. So gehen Ihnen die Fragen nie aus.
Aber auch frustrierend. Schließlich muss man die Kluft zwischen dem, was man lösen will, und dem, was man lösen kann, ertragen.
Was gilt als Lösung?
Wenn etwas bewiesen werden kann. Allerdings sind in dem Gebiet, in dem ich arbeite, die Standards sehr hoch. Und es ist manchmal ziemlich schwierig, neue Ideen nach hohen Standards beweisen zu können.
Wann wird etwas als Beweis akzeptiert?
Am besten ist eine experimentelle Bestätigung. Das ist in der Quantengravitation, dem Gebiet, auf dem ich arbeite, aber oft nicht möglich. Deswegen müssen die Argumente, die man vorträgt, hohen mathematischen Anforderungen genügen, selbst wenn Physik nicht so ordentlich ist wie Mathematik. Sie merken schon: Ich habe einen Job mit hohem Leidenspotenzial.
Man muss lange warten können, ehe man weiß, ob man recht hatte oder nicht.
Man hofft, dass die Kombination vieler Gehirne dazu führt, dass ein Durchbruch gelingt. Bisher haben wir es noch nicht geschafft, Quantentheorie und Relativitätstheorie zu einer einheitlichen Theorie zu verbinden.
Von wie vielen Gehirnen sprechen wir eigentlich?
Kommt darauf an. Es gibt vielleicht tausend Stringtheoretiker. Außerhalb der Stringtheorie, also da, wo ich mich bewege, sind es weltweit vielleicht 200 Kollegen. Die Konferenzen, an denen ich teilnehme, sind Veranstaltungen für rund 70 Kollegen.
Und keiner von Ihnen hat je eine endgültige Theorie des Universums gefunden?
Einer meiner Lehrer hat gesagt: Physiker können auf viele verschiedene Weisen scheitern.
Warum können Physiker nicht aufgeben?
Weil man oft zwar nicht die großen Probleme lösen kann, aber immerhin ein paar kleinere. Man findet nicht die Weltformel, aber unbedeutendere Formeln, die auf dem Weg zu ihr liegen. Also hat man durchaus die Chance, Fortschritte zu machen, und das gibt einem ein gutes Gefühl. Die Kunst besteht darin, die großen Probleme nicht zu vergessen. Deswegen sind Studenten so gut. Sie kommen ja zur Physik, weil ihnen die wichtigen Probleme wichtig sind.
Die Kollegen werden einander ja auch antreiben, nehme ich an, diese 70 oder 200 Gehirne, die sich mit denselben Fragen martern wie Sie.
Manchmal wünschte ich mir, es gäbe mehr Ermunterung. Mehr Menschen, die einem sagen: Du steckst zwar fest, aber es ist wichtig, dass du weiter nachdenkst, du machst einen guten Job. Das wäre gelegentlich hilfreich.
Woran liegt’s?
Mathematiker und Physiker sind nun einmal Menschen, die davon überzeugt sind, dass sie einem dann am besten helfen, wenn sie einem sagen, welche Fehler man gemacht hat. Das ist sehr nützlich, aber neue Ideen kommen nun einmal nicht fehlerlos zur Welt. Außerdem gibt es zu wenig Geld für die Physik. Man bekommt nur schwer Jobs, Karrieren sind kompliziert. Solche Bedingungen sorgen nicht unbedingt für ein Klima der Ermunterung.
Geht es unter Physikern sehr kompetitiv zu?
Extrem. Der Beruf ist sehr mühsam. Zuerst macht man seinen Doktor, dann zieht man vier bis acht Jahre als Postdoc durch die Welt, bevor man vielleicht irgendwann eine Anstellung für länger ergattert. Die erste feste Stellung hat man oft erst mit 40. Eine richtige Professur zu bekommen ist fast unmöglich.
Familie und Forschung ist schwer zu vereinbaren
Die Schönheit der Gedanken: Fotini Markopoulou-Kalamara am Schreibstisch ihrer Wohnung in Kanada. In Physikerkreisen ist sie für die eleganten Visualisierungen ihrer Gedanken bekannt.
Warum gibt es so wenige Mittel für Physiker?
Uns wird immer gesagt, die Öffentlichkeit interessiere sich nicht dafür, was wir tun, weil es nicht praktisch ist. Doch jedes Mal, wenn ich mich mit Angehörigen dieser Öffentlichkeit unterhalte, kommen sie mir ungemein neugierig vor. Es ist ihnen egal, wie zum Beispiel ihr Tonbandgerät funktioniert. Aber sie würden gern wissen, wie das Universum funktioniert. Wahrscheinlich sind es eben doch nur die Administratoren, die sich nicht für die Physik interessieren. Weil sie zu wenig Geld bringt.
Warum haben Sie sich für diese Ochsentour entschieden?
Viele Kollegen erzählen bei dieser Frage von dem Buch über Einstein, nach dem für sie alles klar war. Ich kann mit solchen Erweckungserlebnissen nicht dienen. Ich bin die Tochter zweier Bildhauer, und in meiner Umgebung gab es keinen einzigen Physiker. Als die Entscheidung anstand, was ich studieren sollte, lief es auf Mathematik oder Physik hinaus, weil ich in beidem gut war, und dann habe ich eben die Physik gewählt – mit dem Hintergedanken, dass ich ja noch immer etwas anderes anfangen kann, wenn die Physik es nicht bringt. Mein Glück war, dass ich in London, wo ich studiert habe, schon in meinem ersten Sommer in die Forschung geworfen wurde und im Labor stand. Ich habe damals zwar noch nicht ganz verstanden, was Quantenphysik ist, aber ich hatte das Privileg, von Anfang an mitzubekommen, wie wirkliche Physik geht. Und irgendwann habe ich sie eben zu lieben begonnen. Ob ich allerdings für den Rest meines Lebens bei ihr bleibe, muss sich noch herausstellen.
Ist das für Sie denkbar, obwohl Sie so viele Jahre in Ihre Laufbahn investiert haben?
Für meine seelische Gesundheit ist es besser, wenn ich mir hin und wieder die Frage stelle, ob das Leben, das ich führe, tatsächlich das Leben ist, das ich haben will. Es ist ja nicht einfach, Physiker zu sein. Selbst wenn man gut ist, dauert es oft entsetzlich lange, bis man damit aufhören kann, in der Welt umherzuziehen, den Lehraufträgen und Berufungen hinterher. Auch wenn einem das Spaß macht, muss man dafür einen Preis bezahlen.
Sie reden vom Privatleben?
Ich war zweimal verheiratet, mit Physikern. Das erste Mal zählt nicht wirklich, das hat nicht geklappt, weil ich noch so jung war. Aber in meiner zweiten Ehe haben wir es einfach nicht geschafft, für längere Zeit am selben Ort zu leben. Er war in London und dann in Boston, ich in Kanada, es gibt für theoretische Physiker ja selten zwei Stellen an ein und demselben Ort. An irgendeinem Punkt wird man einfach zu mürbe für so ein Leben.
Wie ist es Ihnen gelungen, doch noch ein Leben mit Beruf und Familie zu leben?
Jetzt habe ich einen wunderbaren Lebensgefährten, der auch Physiker ist, und zusammen haben wir ein wunderbares Kind. Aber wenn in ein paar Wochen unser Aufenthalt in Berlin zu Ende ist, weiß ich nicht wirklich, wie es weitergeht mit mir. Ich habe einige Optionen, aber noch keine Entscheidung getroffen. Und wenn man ein Kind hat, will man nicht unbedingt eine Fernbeziehung führen müssen.
Was tun andere Spitzenwissenschaftlerinnen in vergleichbarer Lage?
Oft werden sie gar nicht erst Spitzenwissenschaftlerinnen, weil sie nicht so geduldig mit dem Kinderkriegen warten wollen wie ich. Für mich lag es lange in unendlicher Ferne, ein Kind zu bekommen. Und als ich dann doch eines wollte, hat es lange gedauert. Viele Wissenschaftlerinnen entscheiden sich dafür, für eine Familie auf Karriere zu verzichten. Mir will das nicht wirklich einleuchten. Ich kann mich mir selber auch nicht gut als eine Frau vorstellen, die nicht arbeitet.
Wie regeln denn Ihre männlichen Kollegen das Familienleben?
Entweder haben sie Frauen, die sie bewundern und alles mitmachen, weil sie mit einem Genie verheiratet sind, das jede Unterstützung verdient. Oder die Frauen werden schwermütig. Allerdings beginnt sich da gerade etwas zu verändern. Jüngere Physiker, vor allem die besseren unter ihnen, fühlen sich zunehmend von interessanten und gut ausgebildeten Frauen angezogen, die nicht bereit sind, ihre eigene Karriere zu opfern. Das schafft aber neue Probleme: Weil die Postdoc-Phase, in der man durch die Welt zieht, sich so lange hinzieht, verliert die Physik ein paar sehr talentierte junge Männer, wenn die sich dafür entscheiden, ihren Frauen zu folgen.
Wie ist das mit Ihrem Lebensgefährten?
Ich hatte Glück. Für ihn ist Familie sehr wichtig. In seinem Leben vor mir ist er schon mal für zehn Jahre aus der Physik ausgestiegen, weil er keine Lust auf das ständige Herumziehen hatte. Das ist ja nicht einfach für die Menschen, die mit so jemandem leben.
Was hat er statt der Physik getrieben?
Einen Hedgefonds gegründet. Und zwar mit großem Erfolg. Bis er sich dann doch wieder nach Physik zu sehnen begann.
Sind solche Comebacks nicht schwer?
Er beschäftigt sich mit Systemen, die man auf die Ökonomie anwenden kann. Das macht ihn zu einem gefragten Mann. Die Finanzkrise hat ihm nicht geschadet, im Unterschied zu anderen Physikern. Sehr ungerecht. Ich jedenfalls finde es schön, mit jemandem zu leben, der schon einmal draußen war, weil ich ja hin und wieder mit dem Gedanken spiele, die Physik Physik sein zu lassen. Man merkt dann, dass es geht, kein großer Deal – man könnte sogar zurückkommen.
Ist es erleichternd, wenn man merkt, dass man Optionen hat?
Zumindest prinzipiell.
Was ist denn so kompliziert daran, Wissenschaft so zu organisieren, dass man neben ihr auch ein Familienleben haben kann?
Von Physikern wird erwartet, dass sie ranklotzen. Sie wären überrascht, wie viel Zeit wir in unseren Büros verbringen. Wir gehen nicht um fünf nach Hause, und viele arbeiten auch an den Wochenenden. Ich kann mich erinnern, wie ich an meinem Institut, dem Perimeter Institute in Waterloo, die Regel durchsetzen wollte, dass es nach fünf Uhr nachmittags keine Gruppendiskussionen mehr gibt – damit ein Kollege, der sein Kind abholen wollte, davon keinen Nachteil hatte. Es ist mir gelungen, aber es hat viel Überzeugungsarbeit gekostet. Aus irgendeinem Grund sollen wir 16 Stunden am Tag arbeiten.
Physiker denken nicht über Gott nach, weil er ein wenig langweilig ist
Die meisten Mütter hätten ein Problem mit Filzstiften auf Türen. Aber Fotini Markopoulou-Kalamara schreibst sie selbst mit Formeln voll, wennn sie mit ihren Kollegen über physikalische Fragen diskutiert. Ihr Sohn wurde vor 20 Monaten in Berlin geboren.
Das ist vielleicht eine dumme Frage, aber was tun Sie denn eigentlich, wenn Sie arbeiten? Es genügt doch, dass Sie kontinuierlich über Raum und Zeit nachdenken. Oder darüber, dass es keinen Raum gibt.
Schön wär’s. Die meiste Zeit verbringen Physiker damit, Arbeiten anderer Physiker zu begutachten, E-Mails zu beantworten, Konferenzen zu organisieren, irgendwohin zu reisen, um ein Seminar zu geben. Wenn die Uni, an der man ist, Wert aufs Unterrichten legt, unterrichtet man viel. Oder man schreibt Forschungsanträge, damit man Geld für die Uni organisiert. So viel Zeit, frei vor sich hin zu denken, haben Physiker gar nicht. Außerdem finden die spannenderen Unterhaltungen oft nach Dienstschluss statt, wenn man mit den Kollegen, die gerade gastieren, zum Abendessen geht. Meistens wird es erst ab fünf Uhr nachmittags richtig gut. Nicht so gut für die Kollegen, die Familie haben. Die verpassen nämlich das Beste. Oder die Familie.
Das klingt ein wenig nach Heroismus. Kommt es tatsächlich darauf an, Tag und Nacht am Welträtsel zu grübeln?
Ein wenig davon hat es ganz sicher. Physiker zu sein ist eine Berufung, nicht bloß ein Beruf. Das hat schon etwas Religiöses, obwohl die meisten Physiker nicht über Gott nachdenken, was daran liegt, dass Gott ein wenig langweilig ist. Aber der Grund für dieses Arbeitsethos ist viel banaler. Man kommt schneller voran, wenn man mehr publiziert. Und weil es so wenige gute Stellen für Physiker gibt, legen sich alle ins Zeug. Als ob man nicht auch Schlaf bräuchte.
Ist es nicht kontraproduktiv, wenn sich die Gesellschaft Experten leistet, damit sie Rätsel lösen oder Theorien entwickeln?
Und dann müssen diese Experten ihre Flüge buchen, statt die Rätsel zu lösen? Ja, das ist seltsam. Übrigens ist es in Deutschland bei Weitem nicht so schlimm. Wenn man hierzulande ein C4-Professor ist, hat man Menschen, die einem solche zeitraubenden Dinge abnehmen. Aber das ist ein weltweit nicht sehr verbreitetes Modell.
Gibt es vielleicht deswegen so wenige Physikerinnen? Weil dieser Beruf so mühsam ist, dass einem die praktische Vernunft davon abrät, sich das alles anzutun?
Was mich selbst betrifft, kann ich mich nicht beklagen. Ich bin immer ausreichend gefördert und unterstützt worden. Kann sein, dass man mich mochte, kann sein, dass ich mit Männern gut klarkomme. Ich habe ja schon als Kind lieber mit Jungs als mit Mädchen gespielt und nie das Bedürfnis nach rosa Tutus gehabt oder danach, mich mit besten Freundinnen zu zerkrachen und wieder zu versöhnen. Aber wenn ich darüber nachdenke, wovon weibliche Studenten unangenehm berührt sein könnten, fällt mir schon das eine oder andere ein. Zum Beispiel, dass es in Diskussionen immer wieder Männer gibt, die so tun, als würden sie alle Antworten haben. Das stimmt zwar nicht, aber sie tun so. Während Frauen eher dazu neigen nachzudenken, statt mit dem herauszuplatzen, was ihnen gerade durch den Kopf geht.
Ist es nicht der uninteressantere Teil, Antworten zu haben?
Von außen kann man das so sehen. Wenn man in einer Gruppe ist, fühlt es sich nicht so toll an, ständig überfahren zu werden. Ich bin davon überzeugt: Wenn die Frauen lange genug dabeiblieben, würden sie schon herausfinden, dass die Jungs gar nicht so schlau sind, wie sie tun. Aber leider gehen sie oft, ehe sie das herausfinden.
Hat es auch Vorteile, Frau unter Physikern zu sein?
Man fällt auf. Man gehört nicht zu den 20 blassen Jungs, sondern ist etwas Spezielleres. Was nicht notwendigerweise dazu führt, dass sich die blassen Jungs um einen scharen. Dazu fehlt ihnen oft genug der Mut.
Sind Sie immer die Einzige gewesen?
Meistens.
Wie fühlt man sich dabei?
Es kann einen schon ermüden. Aber für die Jungs ist es besser, wenn eine Frau dabei ist. Sobald Frauen in Gruppen kommen, wird das Klima besser, man hört mehr zu, geht freundlicher miteinander um. Bei Segelregattas hält man das auch so. Es macht sich bezahlt, wenn man dafür sorgt, dass in der Crew zwei Frauen sind. Das führt dazu, dass nicht mehr ganz so viel Adrenalin unterwegs ist.
Sie sind in Griechenland aufgewachsen. Haben Sie noch Verbindungen zu Ihrer alten Heimat?
Ich bin mit 19 ausgewandert, und jetzt unterhalte ich mich schon länger auf Englisch, als ich Griechisch gesprochen habe. Im vergangenen Sommer ist meine Mutter gestorben, das war meine letzte Verbindung. Ich habe mir vorgenommen, dass unser Sohn seine Wurzeln kennenlernt. Vielleicht kaufen wir ein Haus auf einer Insel und verbringen die Sommer dort.
Sind Sie mittlerweile kanadische Staatsbürgerin?
Ja, und zwar sehr gern. Ich mag an Kanada, dass es ein Land ist, das Einwanderer willkommen heißt. Und dass es um die Verfassung geht, nicht um die Abstammung. Bei der Einbürgerungszeremonie wurde uns Neu-Kanadiern gesagt: Bitte, pflegen Sie die Kultur, die Sie mitgebracht haben, lösen Sie sich bloß nicht von Ihren Wurzeln. Das fand ich toll.
Etwas, wozu wohl kein deutscher Beamter auffordern würde.
Ein griechischer auch nicht. Ich finde es seltsam, dass mein Baby zwar in Deutschland geboren wurde, aber nicht die deutsche Staatsbürgerschaft hat. Es geht immer noch um dieses Blutding, hier, in Griechenland. Für mich fühlt sich das falsch an.
Ein Porträt der Physikerin als Strandmädchen in der Nähe Athens. Ihre griechische Heimat verließ sie mit 19, um in London zu studieren
Haben Sie noch die griechische Staatsbürgerschaft?
Ja. Und unser Sohn ist Amerikaner wie sein Vater und Grieche. Er hätte auch noch Kanadier werden können, aber ich denke, mit einem amerikanischen und einem griechischen Pass ist man bestens versorgt.
Was würden Sie am meisten vermissen, wenn Sie die Physik tatsächlich sein ließen?
Ich habe viele Jahre damit verbracht, darüber nachzudenken, wie die Welt wäre, wenn Raum nicht existierte. Und ich muss sagen, dass ich mich dabei mit dieser Frage angefreundet habe. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken kann. Irgendwie ist mir diese Frage ans Herz gewachsen. Ich weiß nicht, ob ich in meinem Leben jemals Antwort auf sie bekommen werde, und wenn ich daran denke, spüre ich Frustration, und dann denke ich wieder einmal: Hau ab, lass mich in Frieden, ich möchte nicht mehr über dich nachdenken. Aber es ist diese Frage, die ich vermissen würde. Und das Glück, das sich manchmal einstellt, wenn man am Schreibtisch sitzt und zum Fenster hinaussieht und sich fragt, wie eine Welt wäre, in der es kein Hier und kein Dort mehr gibt.
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Bio:
Fotini Markopoulou-Kalamara
* 3. April 1971
Die Physikerin Fotini Markopoulou-Kalamara forscht vor allem auf dem Gebiet der sogenannten Quantengravitation, durch die die Quantentheorie und die allgemeine Relativitätstheorie vereinigt werden sollen. Im Internet findet man bequem einige Videos von Vorträgen, in denen Markopoulou-Kalamara ihre Theorien bemerkenswert unterhaltsam vorstellt. Fotini Markopoulou-Kalamara wurde als Tochter zweier Bildhauer in Athen geboren und wuchs bei ihrer Mutter auf. Sie studierte am Londoner Imperial College, hatte danach Postdoc-Positionen unter anderem am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Potsdam) und an der Pennsylvania State University in den USA. Sie ist Mitglied des renommierten Perimeter Institute for Theoretical Physics in Waterloo/Ontario (Kanada). Sie lebt zurzeit noch in Berlin.
Fotos: Alexandra Kinga Fekete, Olaf Dreyer, Elisabeth Warscheid, privat