Die 60-jährige Renate Köcher

Deutschlands oberste Umfragerin kennt uns sehr genau. Sie weiß, was auf uns zukommt. Und warum wir alle Zweckpessimisten sind.

Renate Köcher: Sie wissen schon, dass Sie mich vor der Zeit altern lassen? Noch bin ich ja nicht 60!

SZ-Magazin: Zugegeben, das ist nicht sehr charmant. Aber sagen Sie uns: Wie nah sind Sie überhaupt dran an der durchschnittlichen Frau um die 60?
Ziemlich weit entfernt – sowohl was meine Lebenssituation angeht wie auch die Interessen. Ein ausgeprägtes Interesse für Wirtschaft und Politik ist sonst eher typisch für Männer. Die männliche Technikbegeisterung teile ich allerdings nur begrenzt, mit einer Ausnahme: Ich mag schöne Autos.

Was sind, laut Allensbach, die typisch weiblichen Interessen?
Alles, was mit Menschen zu tun hat – Medizin, Psychologie, Pädagogik. Es ist bemerkenswert, wie stabil die Interessensunterschiede von Männern und Frauen sind. Deshalb studieren auch nach wie vor nur relativ wenige Frauen Technikfächer. In den Berufen, die Frauen interessieren, sind sie dagegen auf dem Vormarsch: Von den Ärzten sind heute rund 40 Prozent Frauen, von den Studenten der medizinischen Fächer schon mehr als 60 Prozent. Bei Ingenieuren sieht das völlig anders aus. Vor diesem Hintergrund halte ich die Quotendiskussion für realitätsfern.

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Seit über 30 Jahren fragen Sie die Deutschen nach ihren Gewohnheiten und Meinungen. Sind sie Ihnen im Laufe der Jahre sympathischer oder unsympathischer geworden?
Auf jeden Fall sympathischer. Nicht dass ich ursprünglich eine schlechte Meinung hatte, aber irgendwie wächst einem eine Nation ans Herz, wenn man sich intensiv mit ihr beschäftigt.

Was ist typisch deutsch?
Eine ausgeprägte Risikoorientierung. Wir prüfen immer, wo Gefahren, Nachteile oder Schwierigkeiten liegen, und gehen dementsprechend kritisch an viele Entwicklungen heran.

Sind wir Pessimisten?
Mehr als viele andere Nationen. Aber dieser Blick aufs Risiko kann eine Stärke sein. Das ausgeprägte Sicherheitsbedürfnis der Deutschen ist auch aus der Geschichte sehr verständlich. Wir haben jedoch noch eine andere Begabung: Wir laden Sachfragen oft weltanschaulich auf. Zum Beispiel das Thema »Berufstätigkeit von Müttern«. Statt es als praktische Aufgabe zu betrachten, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besser sicherzustellen, machen wir daraus eine Glaubensfrage.

Machen wir es uns damit zu kompliziert?
Auf alle Fälle. Wir haben eine Tradition, in der Frauen vor die Entscheidung gestellt werden, weil man sich Beruf und Familie nicht zusammen vorstellen kann. Deshalb haben wir auch in den letzten Jahrzehnten keine überzeugende Infrastruktur aufgebaut, die den Menschen die Sicherheit gibt, dass Kinder auch außer Haus gut betreut und gefördert werden.

Es gibt kaum ein gesellschaftliches oder politisches Thema, zu dem Sie nicht die Meinung der Bevölkerung in Zahlen wiedergeben können. Kann man sagen, Sie sind so eine Art Zeitgeist-Messapparat?
Das hört sich so technisch an. Wir versuchen zu verstehen, was die Leute bewegt und warum sie so denken, wie sie denken. Und auch, welche Entwicklungen und Probleme sich abzeichnen.

Welche zeichnen sich denn ab?
Die Auseinanderentwicklung der sozialen Schichten ist sicher ein Thema, das Deutschland beschäftigen wird. Es geht dabei nicht nur um die Entwicklung der materiellen Situation, sondern etwa auch um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Kinder in den verschiedenen Schichten aufwachsen. In Deutschland besteht ein ganz enger Zusammenhang zwischen dem Bildungsstand der Eltern und der schulischen Entwicklung von Kindern. In anderen Ländern, beispielsweise in Skandinavien, gelingt es viel besser, Kindern aus den unteren Schichten die gleichen Chancen zu sichern.

Elisabeth Noelle-Neumann war eine sehr kapriziöse Frau

Heute bedauert Renate Köcher, im Bild unten als Studentin 1975 in Mainz, nicht auch in Italien und Frankreich studiert zu haben.

Gibt es noch Untersuchungsergebnisse, die Sie überraschen?

Ich bin schon manchmal erstaunt. Beispielsweise darüber, dass sich bei den Jüngeren, für die das Internet ganz selbstverständlich ist, das Interessenspektrum stark verengt hat. Es stehen so viele Informationen zur Verfügung wie nie. Das führt aber dazu, dass viel stärker nur das ausgewählt wird, wofür man sich von vornherein interessiert. Die regelmäßige Tageszeitungslektüre ist bei unter 30-Jährigen nicht mehr die Norm. Die Zeitung aber bringt einen viel mehr dazu, sich mit Themen zu beschäftigen, für die man sich noch nicht interessiert und die man sonst einfach wegklicken würde.

Ich kann doch den Sportteil herausnehmen und das Feuilleton und die Wirtschaft ungelesen zur Seite legen?
Untersuchungen zeigen, dass eine Zeitung in aller Regel von vorn nach hinten gelesen wird – so liest man auch Themen, die zunächst nicht interessieren. Sicher überfliegt man vieles. Aber eine Zeitung hat einen Sozialisationseffekt, sie verbreitert nachweislich das Interessenspektrum. Wir haben heute einen niedrigeren Anteil von unter 30-Jährigen, die sich für Politik oder Kultur, für Wissenschaft oder für Wirtschaft interessieren, weil im Internet viel selektiver abgerufen wird.

Dann halten Sie das Internet für gefährlich?
Ich halte das Internet für eine große Errungenschaft. Aber die Veränderung des Informationsverhaltens, die durch das Internet ausgelöst wurde, sehe ich kritisch. Das Internet führt gerade bei Jüngeren dazu, dass sie es für Zeitverschwendung halten, sich regelmäßig zu informieren. Wenn dann Themen hochkochen, ob Griechenland, Lebensmittelskandale oder Syrien, wächst die Aufmerksamkeit kurzfristig sprunghaft, aber es fehlt häufig das solide Fundament für die Urteilsbildung.

Sie sitzen in den Aufsichtsräten von Infineon, BMW, Allianz und zukünftig des Autozulieferers Bosch. Die Mehrheit der Kollegen dort ist männlich. Ist es ein Unterschied, ob man ein Mann oder eine Frau ist?
In den Aufsichtsräten macht man keinen Unterschied entlang der Geschlechterschiene, jeder bringt seine Kompetenzen und Prioritäten ein.

Warum sind dann so wenige Frauen in Aufsichtsräten?
Das ändert sich gerade. Bei Infineon etwa sind auf der Kapitalseite schon ein Drittel Frauen. Bei BMW gibt es drei Frauen im Aufsichtsrat. Interessanterweise trifft man in der Wirtschaft viel weniger als in der Politik auf Frauen, die das Gefühl haben, benachteiligt zu werden. Obwohl wir eine Kanzlerin haben und viele Frauen im Kabinett, haben nach meinen Erfahrungen viele Politikerinnen das Gefühl, nicht dieselben Chancen zu haben wie Männer und anders behandelt zu werden. Mich erstaunt das immer – ich hatte diesen Eindruck nie und würde eine Ungleichbehandlung auch nicht zulassen.

Wie gelingt Ihnen das? Versuchen Sie, männlich zu sein?
Nein, das wäre doch unangenehm, Frauen sollten unbedingt Frauen bleiben. Die kleineren und größeren Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind doch sehr belebend. Aber schon in meinem Elternhaus wurde kein Unterschied zwischen meinem Bruder und mir gemacht. Für meine Eltern war es immer selbstverständlich, dass ich studiere und mich beruflich stark engagiere. Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass ich etwas nicht erreichen könnte, weil ich eine Frau bin. Allerdings habe ich nie bestimmte Positionen angestrebt.

Mai 1997: Renate Köcher unter Männern (rechts Helmut Kohl) in der ersten Reihe bei der 50-Jahr-Feier des Instituts für Demoskopie im Haus der Gesellschaft in Bonn.

Das ist doch jetzt eine typisch weibliche Aussage, oder?
Ich weiß, wir haben das sogar mal in einer Untersuchung gesehen: Führungspositionen reizen Frauen oft weniger als Männer. Ich habe im Institut Allensbach zu arbeiten angefangen, weil mich die Studien interessiert haben, nicht weil ich eine bestimmte Position haben wollte. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn ich in einem großen Konzern gearbeitet hätte. Aber ich bin beruflich in einem Forschungsinstitut groß geworden, zudem in einem Matriarchat. Allensbach ist ja immer von Frauen geführt worden – und auch von einer Frau, Elisabeth Noelle-Neumann, gegründet worden.

Der Name Noelle-Neumann war bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren kaum zu trennen vom Namen Allensbach – wie ist es Ihnen gelungen, sich von ihr zu emanzipieren?
Ich musste mich nicht emanzipieren, weil ich nie abhängig von ihr war. Wir haben unsere Themen sorgfältig aufgeteilt, sie war mehr in der Politik unterwegs und ich in der Wirtschaft. Ich habe von Beginn an meine Vorstellungen umgesetzt und mich relativ wenig abgestimmt. Die ersten drei, vier Jahre hat sie das beunruhigt, aber dann hat sie es akzeptiert. Wir hatten beide Hochachtung voreinander. Sie war unglaublich kreativ und willensstark, übrigens auch eine sehr kapriziöse Frau.

»Eins, zwei, drei im Sauseschritt, eilt die Zeit, wir eilen mit.«

Ihren 50. Geburtstag feierte Renate Köcher 2002, in ihrem Garten und mit Kapelle.

Wäre Ihre Karriere auch mit Kindern möglich gewesen?
Wahrscheinlich nicht. Ich hätte immer ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn ich meiner Familie zu wenig Zeit gewidmet hätte. Selbst heute habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich für Freunde und Familie nicht genug Zeit habe – und wenn ich mit ihnen Zeit verbringe, dass ich dafür meine Arbeit vernachlässige. Wenn Sie noch einmal wählen dürften – was im Leben würden Sie ändern? Ich habe zu schnell studiert und ab Mitte zwanzig immens viel gearbeitet, ich hatte da schon die Verantwortung für ein Drittel des Umsatzes in Allensbach. Dazu kamen sehr viele Vorträge. Heute würde ich ein paar Auslandssemester einbauen. Ich würde ein Jahr nach Frankreich gehen, auch nach Italien. Wir versuchen gerade, dieses gemeinsame Europa zu zimmern, ohne dass wir uns mit den unterschiedlichen kulturellen Prägungen beschäftigen – das funktioniert nicht.

Klingt, als ob Sie auch noch die europäischen Nachbarn untersuchen wollten. Haben Sie überhaupt ein Privatleben?
Es gibt vieles, was mir Freude macht: Lesen, Konzerte, die Oper und mit Freunden zusammen sein. Das ist aber sicher über viele, viele Jahre zu kurz gekommen. Ich muss noch heute darauf vertrauen, dass es mir Freunde nicht krummnehmen, wenn ich mich lange nicht melde.

Haben Sie wenigstens als Studentin ein paar Feste gefeiert?
Das wollte ich nie. Wenn ich lese, dass Jugendliche um Mitternacht losziehen und bis morgens unterwegs sind, wundere ich mich – so jung war ich nie. Ich bin um Mitternacht müde, und das war auch damals so.

Werden Sie Ihren 60. Geburtstag feiern?
Meinen 50. habe ich ganz groß gefeiert. Ein schönes Gartenfest bei strahlendem Sonnenschein. Eine Kapelle hat schmalzige Wiener Musik gespielt. Vielleicht mache ich wieder so etwas.

Sind Sie gern älter geworden?
Ja, eigentlich sogar sehr gern. Man wird souveräner und sicherer im Urteil, das ist angenehm. Zwischen 30 und 40 war ich überanstrengt und hatte oft starkes Lampenfieber bei Auftritten vor großem Publikum. Aber etwas ist schon beunruhigend. Wenn ich eine bestimmte Studie suche und überzeugt bin: Das muss vor drei Jahren gewesen sein, dann war es oft schon vor fünf oder sechs Jahren. Als Kind mochte ich gern Wilhelm Busch und erinnere mich, wie meine Mutter immer seufzte, wenn ich laut las: »Eins, zwei, drei im Sauseschritt, eilt die Zeit, wir eilen mit.« Ich habe sie damals nicht verstanden und dachte, vor mir liegt ein Ozean an Zeit.

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Bio:

Renate Köcher

* 17. Juli 1952

Renate Köcher hat sich nie als Frau benachteiligt gefühlt. Das ist in Deutschland nicht die Regel, das weiß sie – niemand kennt die Meinung der Deutschen besser als die Leiterin des Instituts für Demoskopie Allensbach am Bodensee, das jährlich bis zu 90 000 Interviews quer durch die Bevölkerung führt. Renate Köcher studierte Soziologie, Publizistik und Volkswirtschaftslehre in Mainz und München. Sie ist unverheiratet, hat keine Kinder und pendelt zwischen Konstanz und Berlin.

Fotos: Christian Grund (1) und privat (3)