Die vielleicht letzte Hoffnung, das Obst doch noch zu bezwingen, liegt gut getarnt an einer Landstraße in Weixdorf, Dresden. Drei Briefkästen wurden krumm in die Erde gesteckt, darauf die Hausnummer 12, klein gedruckte Adressen, »Keine Werbung bitte!« Im Hof befindet sich eine Zierpflanzenfirma, es blüht aus Plastiktöpfen, nach Spitzenforschung sieht das nicht aus.
Aber die führenden Aromaforscher Deutschlands, Doktor Ulrich und Doktor Olbricht, versuchen auf diesem Grundstück wirklich, die perfekte Erdbeere zu entwickeln. Und wenn sie scheitern, was ständig passiert, versuchen sie es noch einmal und noch einmal. Seit zwei Jahrzehnten.
»Wenn man so was anfängt, muss man verrückt sein«, sagt der Pflanzenzüchter Klaus Olbricht. Der Chemiker Detlef Ulrich nickt. Dreimal gleich. Dabei ist das wirklich Verrückte nicht, dass die beiden damit angefangen haben, sondern dass sie nicht aufgeben. Denn die Erdbeere ist grausam zu ihren Erforschern.
Das klingt natürlich absurd. Es ist ja hier von Obst die Rede, noch dazu von einem, das die Deutschen lieben. 280 000 Tonnen Erdbeeren essen sie im Jahr, das macht die Erdbeere zur fünftbeliebtesten aller Obstsorten. Und dann ist da noch dieses Gefühl, das keine Statistik erfassen kann: Die Erdbeere schmeckt nach Sommer, nach Tagen auf dem Feld, nach Omas Marmelade.
Allerdings schmeckt sie, im Supermarkt gekauft, meistens leider nach: nichts. Das ist das Erdbeer-Dilemma und der beste Beweis dafür, wie schwer die Erdbeere es dem Menschen macht.
»Hier geht es auch schon mal um Leben und Tod«, sagt der Botaniker Olbricht. Er steht in der Tür seines Gewächshauses, das hinter der Zierpflanzenfirma verborgen ist und das er liebevoll »meine Intensivstation« nennt. Auf drei Tischreihen bäumt sich ein Meer aus Erdbeerpflanzen auf. Bei der jüngsten Zählung waren es 600 geografische Herkünfte. Auf Fähnchen hat Olbricht die Herkunftsorte geschrieben: South Queensferry, Tieshan, Versailles, Sattelhof, Neimeng – ein Edding-Querschnitt durch die Welt. »Das ist die größte lebende Erdbeer-Wildartensammlung Europas«, sagt Olbricht. Er trägt ein gestreiftes Kurzarmhemd, das sich teuer in einem Berliner Secondhand-Laden verkaufen ließe. Auf seiner Haut, Bräunungsgrad: Dauercamper, hat der Sommer Spuren hinterlassen. Täglich von sechs bis 21 oder 22 Uhr war er bei seinen Erdbeeren.
»Für mich ist die Genbank ein Schatz, den ich nicht hätte organisieren können«, sagt Ulrich, ebenfalls im Kurzarmhemd.
»Ach, Detlef«, sagt Olbricht.
Seit 17 Jahren arbeiten die beiden gemeinsam. Sie bringen sich von Reisen gegenseitig Erdbeersträucher als Souvenirs mit und funktionieren wie zwei perfekt ineinandergreifende Zahnräder: Der Botaniker Klaus Olbricht kann mit seinem Unternehmen Hansabred und der Genbank mehr Erdbeeren züchten als jede andere Firma und jede Universität. Detlef Ulrich, Chemiker, leitete bis zuletzt die Aromagruppe des Julius Kühn-Instituts, des Bundesforschungs-instituts für Kulturpflanzen. Er analysiert den Geschmack von Olbrichts Erdbeeren. Zwischen ihnen liegen zwei Stunden und 15 Minuten Fahrt. In der Saison treffen sie sich jeden Monat. Sie schätzen, sie haben »eher fünfzig als zwanzig« gemeinsame Aufsätze veröffentlicht. Auf dem vergangenen Internationalen Erdbeerkongress in Quebec hielt kein Team mehr Vorträge als sie. Zusammen sind sie eine Zwei-Mann-Taskforce. Ihre Mission: eine leckere Erdbeere zu schaffen.
Dabei existiert die ja schon, seit nahezu einem Jahrhundert. Nur 21 Kilometer entfernt von Ulrich, Olbricht und dessen Gewächshaus wurde sie in der Höheren Staatslehranstalt für Gartenbau erfunden, auf einem Hügel an der Elbe in Dresden-Pillnitz. Der Direktor Otto Schindler – Familienstand: verheiratet, Fachgebiet: Apfel, Birne und Steinobst, Leidenschaft: Erdbeere – kreuzte in seinem Labor die Sorten »Lucidia Perfecta« und »Johannes Müller«, beide für sich geschmacklich eher mittelmäßig. Dem Ergebnis gab er den Spitznamen seiner Frau: Mieze Schindler. Einen besseren Gründungsmythos hätte sich kein Start-up ausdenken können.
Heute gilt die Mieze Schindler, 93 Jahre alt, als schmackhafteste Erdbeere von allen. Aromatisch wie eine Walderdbeere, aber noch süßer. Nur gibt es da ein Problem: Andere Erdbeeren sind von einer Vielzahl gelber Nüsse übersät, das sind die Samen, die beim Essen zwischen den Zähnen stecken bleiben. Sie funktionieren wie ein Gitter und halten die Frucht zusammen. Bei der Mieze Schindler liegen diese Nüsse tief eingesenkt. Schon beim Pflücken wird sie deshalb matschig. Sie in den Supermarkt zu bringen, kann man vergessen. Mit viel Vorsicht bekommt man sie heil vom Garten ins Haus transportiert.
»Deutschland, die Niederlande, die Schweiz, Österreich und die USA nehmen die Mieze Schindler schon als Referenz. Aber für den Boom hat auch ihre schöne Geschichte gesorgt«, sagt Ulrich.
»Es gibt auch Gegenwind«, räumt Olbricht ein. »Eine Kollegin aus Griesheim findet zum Beispiel, die Mieze Schindler schmecke gar nicht so gut. Und in Frankreich haben sie sowieso einen anderen Geschmack.«
Heute haben sie Kollegen aus Florida empfangen, sie mit geviertelten Erdbeeren verköstigt und dann auf Prüfbögen ankreuzen lassen, wie stinkend, käsig, reif, mehlig, harmonisch und so weiter die Früchte schmecken. Ein lockerer Austausch unter Kollegen. Jetzt, da Olbrichts Mitarbeiter die Amerikaner zum Flughafen fährt, gehen die beiden noch mal ihren Forschungsstand durch. Zwar ist Detlef Ulrich, 66, seit vergangenem Dezember in Rente, und Klaus Olbricht, 49, könnte sich ebenfalls gleich zur Ruhe setzen, um seine vielen Überstunden pro Jahr noch abzubauen. Aber es hilft ja nichts. Die Erdbeere und der Kampf gegen sie sind mehr als ein Beruf. Wie Ulrich sagt: »Pensioniert hin oder her, das ist eine Passion.«
Im nächsten Gewächshaus steht Plastikbehälter an Plastikbehälter, darin Tausende von Sämlingen. »Meine Säuglingsstation«, sagt Olbricht. Ulrich nimmt zum ersten Mal seine Sonnenbrille ab. Seine klaren blauen Augen haben etwas Jugendliches, seine bunte Holzperlenkette erst recht. Dann reden sie wieder über die Mieze Schindler beziehungsweise über deren Nachkommen. »Goethes Kinder waren auch keine Genies«, sagt Olbricht. »Wir wollen nicht zurück zur Mieze. Wir wollen über sie hinaus.«
Nur ein paar Kleingärtner in
Ostdeutschland pflanzten die Mieze Schindler noch an
Ohne Ulrich und Olbricht würde sich heute vielleicht niemand mehr für die Mieze Schindler interessieren. Nachdem Otto Schindler gestorben war, kam erst der Zweite Weltkrieg, dann die DDR. Die Höhere Staatslehranstalt für Gartenbau musste einem SED-Garten weichen. Nur ein paar Kleingärtner in Ostdeutschland pflanzten die Mieze Schindler da noch an. Doch dann kreuzte sie Ulrichs Weg. Zusammen mit Olbricht und anderen Forschern sorgte er dafür, dass sie auf den Markt zurückkehrte.
Erst danach schrieben die Zeitungen von ihr als »Aromakönigin unter den Erdbeeren« (Süddeutsche Zeitung) und der »wahrscheinlich zartesten Versuchung, seit es Erdbeeren gibt« (Straubinger Tagblatt). Es ist tatsächlich eine Art Mieze-Mythos entstanden, Verklärung inklusive, auch weil limitierte Ware ja immer besonders begehrenswert ist.
Ulrich und Olbricht sind davon leicht genervt. Ihre Beziehung zur Mieze Schindler ist mittlerweile so intensiv wie ambivalent.
1992 die erste Begegnung, Detlef Ulrich war neu am Julius Kühn-Institut (damals Bundesanstalt für Züchtungsforschung). Die damalige Chefzüchterin forderte ihn sofort auf: »Sie sind doch Chemiker. Sie müssen rausfinden, warum die Mieze so gut schmeckt!« Doktor Ulrich folgte. Und begegnete Doktor Olbricht. Seit 2001 kreuzt Olbricht für Ulrich Erdbeeren. Er pflanzt 50 000 Sämlinge in seine Plastikbehälter und etwa 10 000 ins Feld. Im nächsten Jahr, bei der Ernte, wählt er 500 Pflanzen, die Ulrich analysiert, auf molekularer Ebene und durch Verkostungen, bei denen seine Mitarbeiter die gleichen Prüfbogen ausfüllen wie die Kollegen aus Florida heute. Vor der Anmeldung beim Gemeinschaftlichen Sortenamt werden die Erdbeeren an Prüfstationen in ganz Europa geschickt. Das alles kann acht bis zehn Jahre dauern.
Das ist einer der Gründe, warum Ulrich und Olbricht auf ihrer Erdbeer-Mission in Deutschland kaum Konkurrenz oder Mitstreiter haben. Große Unternehmen denken ungern in solchen Zeiträumen, selbst Universitäten dauern sie zu lang. Außerdem läuft die Erdbeer-Industrie ja auch ohne Geschmack: Die Bauern wollen ertragreiche Pflanzen, robust und resistent gegen Schädlinge. Die Händler wollen eine makellose Optik, weil die sich besser verkauft. Und die Konsumenten suchen sich ihre Produkte nach genau den Äußerlichkeiten aus, auf die die Verwertungskette setzt: Schön hellrot muss die Erdbeere sein, glänzend und kegelförmig. So schließt sich der Kreis. Ahnungsloser Konsument begünstigt stupide Vermarktung begünstigt minderwertige Pflanze. Mit den Jahren summiert sich der Effekt.
»Wenn nur auf Ertrag gezüchtet wird«, sagt Ulrich, »dann verschwindet der Geschmack nach spätestens drei Erdbeergenerationen.« Das Aroma wurde weggezüchtet, und fast alle fanden das okay.
Ulrich entdeckte schnell, was die Mieze Schindler so süß und blumig schmecken lässt: eine chemische Verbindung namens Methylanthranilat. In den modernen Hochleistungssorten ist sie kaum enthalten. Erst mal klang das einfach. Aber als Olbricht die Mieze mit modernen Sorten kreuzte, vererbte sich das Methylanthranilat sehr schlecht. Jahre verstrichen, bis er seine Strategie änderte und im Stammbaum weiter zurückging: Er kreuzte die Wildarten, darunter die Mutter der Mieze Schindler. Nach acht Jahren mit der neuen Strategie hatte er sein Ergebnis, genannt: »Renaissance«. In Ulrichs Verkostungen war sie die Nummer eins, die Mieze Schindler landete nur auf Platz drei. Ein Sieg über die bislang leckerste Erdbeere der Welt. Aber nur ein kleiner. Olbricht sagt: »Immerhin wird die ›Renaissance‹ nicht schon auf dem Weg vom Feld ins Haus schlecht.« Auch sie ist zu kurzlebig für Transportketten und Supermärkte. Verkauft wird die Renaissance jetzt in Olbrichts Hofladen und als Samen über Gartenkataloge.
Ulrich vermutet, dass sich Haltbarkeit und Aroma gegenseitig ausschließen. Wenn Forscher eine geschmackvolle Erdbeere züchten, ist sie weich. Wenn sie eine feste Erdbeere züchten, schmeckt sie wässrig. Die Erdbeere passt einfach nicht ins Supermarktsystem, zu Globalisierung und Import-Export-Gesellschaften.
Man kann sich darüber ärgern. Aber irgendwie ist die Geschichte der Erdbeere auch beruhigend: Der Mensch hat den Wolf zum Hund domestiziert, er ist auf den Mond geflogen, er hat künstliche Intelligenz entwickelt, er will immer mehr und immer weiter. Aber gegen die Erdbeere kann er mit seinem Perfektionierungsdrang nichts ausrichten.
Ulrich und Olbricht sitzen schließlich an Biertischen unter einem Pavillon, mit Thermoskannenkaffee und dem Blick auf Erdbeerfelder, die längst nicht mehr blühen. »Für mich ist das alles emotional ausbalanciert«, sagt Ulrich. Er legt seinen Kopf in die Hand, die er nicht für den Kaffee braucht. »Wir sind ja nicht fertig, wir haben noch Daten.« Olbricht nickt.
Doch wenn sie jetzt über ihre Zukunft reden, liegt darin durchaus eine gewisse Endgültigkeit: 1700 Analysen wollen sie noch auswerten. Das wird Monate dauern, die Ulrich von seiner Rente und Olbricht von seiner Freizeit abzwicken. Und dann wird es die Zwei-Mann-Taskforce nicht mehr geben. Es scheint unwahrscheinlich, dass irgendwann aromatische Erdbeeren über ein Kassenband rollen.