Ganz neu ist die Frage nicht, aber bei diesem Thema wäre es schon interessant, was Goethe wohl sagen würde, wenn er noch lebte. »Was bin ich denn gegen das All?«, ließ er vor gut 200 Jahren seinen Wilhelm Meister beim Anblick des Sternenhimmels sinnieren. Und das, obwohl ihm noch kein Hubble-Weltraum-Teleskop zur Verfügung stand, das in unseren Tagen 600 Kilometer über dem Meeresspiegel kreist und bis an die 14 Milliarden Lichtjahre entfernten Grenzen des Universums späht. Die Astronomen wissen heute, dass unser Universum bis zu 100 Milliarden Galaxien wie unsere Milchstraße enthält beziehungsweise 70 Trilliarden – das ist eine 7 gefolgt von 21 Nullen – Sterne wie unsere Sonne. Einige Forscher ermittelten sogar das Gewicht des Alls: 10 hoch 54 Kilogramm, also eine Million Quadrillionen Quadrillionen Kilogramm, eine unfassbare Zahl. Je länger der Mensch das Weltall studiert, desto mehr scheint er im kosmischen Ozean unterzugehen.
Als wäre das nicht schon genug, hat sich in den letzten Jahren herauskristallisiert, dass diese Masse der sichtbaren Sterne und Himmelskörper unser Universum nur zu einem Bruchteil ausmacht, genauer gesagt: zu etwa fünf Prozent. In erster Linie besteht es nämlich aus sogenannter Dunkler Masse und Dunkler Energie. Das ist eine relativ neue Einsicht, für die man »Anfang der Neunzigerjahre noch aus dem Hörsaal gejagt worden wäre«, sagt Kai Zuber, Professor am Institut für Kern- und Teilchenphysik der TU Dresden. Dabei gab es schon seit Längerem Anzeichen dafür: Wiederholt wunderten sich Forscher über Galaxien, deren Sterne am Rand genauso schnell um das Zentrum rotierten wie die Sterne im Inneren dieser Galaxie. Das widersprach den Gesetzen des Physikers Isaac Newton, die für diesen Fall besagen: Je näher sich ein Stern am Zentrum der Galaxie befindet, desto stärker wird er angezogen und desto schneller rotiert er um dieses Zentrum. In unserem Sonnensystem lässt sich das Phänomen gut beobachten: Der Planet Merkur, der den geringsten Abstand zur Sonne aufweist, kreist mit 48 Kilometern pro Sekunde um die Sonne; die Erde, gut dreimal so weit entfernt wie der Merkur, nur mit knapp 30 Kilometern pro Sekunde.
Warum rotieren dann die Sterne am Rand der Galaxien so schnell? Darauf gab es nur zwei Antworten: Entweder die New-ton’schen Gravitationsgesetze sind falsch. »Oder es gibt in diesen Galaxien noch Materie, die wir mit unseren bisherigen Messgeräten nicht orten können«, erklärt Zuber. Die meisten Astronomen entschieden sich für die zweite Variante. Man nimmt heute sogar an, dass praktisch alle Galaxien von einem sogenannten Halo umgeben sind, einem kugelförmigen Bereich, der zu großen Teilen aus Dunkler Materie besteht. Diese Theorie erklärt auch, warum das Weltall überhaupt Himmelskörper hervorbrachte. Nach dem Urknall dehnte sich das All rasch aus. Die Materie, die heute unseren Nachthimmel erstrahlen lässt, wurde in einem immer größeren Raum verstreut. Ohne zusätzlichen Klebstoff hätten sich die Teilchen nie so schnell zu Himmelskörpern zusammengeballt. Das ergaben jedenfalls Computersimulationen. Es bedurfte also Dunkler Materie, damit Galaxien entstehen, Sterne, Planeten und natürlich auch Menschen. Die Theorie der Dunklen Materie ist also nicht weniger wichtig als die Darwin’sche Evolutionstheorie, will man die Entstehung des Menschen von Grund auf verstehen.
Sie hat nur ein paar Haken: Kein Mensch weiß bisher, wie Dunkle Materie aussieht und woraus sie besteht. Und in dem Standard-modell, mit dem die Physiker so elegant die Welt erklären, findet sie im Moment auch noch keinen Platz. Dieses Modell umfasst 24 Elementarteilchen, die Grundbausteine unseres Universums. Aus ihnen besteht jedes Atom, aber auch jeder Tisch, ein Wiener Schnitzel, George W. Bush oder unser Sonnensystem. Dazu kommen die elementaren Kräfte, auch Wechselwirkungen genannt, die alles zusammenhalten und verhindern, dass der besagte Tisch oder George W. Bush in ihre Elementarteilchen zerfallen.
Die 24 Elementarteilchen aus dem Standardmodell geben – in der einen oder anderen Form – Strahlung ab. Anders die unsichtbaren Teilchen der Dunklen Materie: Sie üben nur eine gewisse Anziehungskraft aus, wie man aus der Beobachtung von Galaxien weiß. Nun ist diese Anziehungs- oder Gravitationskraft die schwächste unter den vier elementaren Kräften. Das zeigt sich unter anderem darin, dass man ohne Mühe einen Apfel vom Erdboden aufheben kann, obwohl man dabei die Anziehungskraft eines ganzen Planeten überwinden muss. Die bei Weitem stärkste Kraft ist übrigens die Kernkraft, die Protonen und Neutronen im Atomkern zusammenhält. Deshalb braucht es ein ganzes Kraftwerk, um ein Atom zu spalten.
Die schwache Wechselwirkung der Teilchen Dunkler Materie hat für unseren Alltag den Vorteil, dass sie nicht einfach verklumpen und wir uns morgens beim Aufstehen an so einem Klumpen den Kopf stoßen. Andererseits sind sie für die Forscher schwer nachzuweisen, weil sie unsere dingliche Welt durchdringen wie das Sonnenlicht eine Glasscheibe. Sie hinterlassen keine Spuren, das heißt: fast keine. Josef Jochum, Professor für Physik an der Universität Tübingen, hat berechnet, dass täglich etwa anderthalb Milliarden Teilchen Dunkler Materie den menschlichen Körper passieren. Meist ohne Nebenwirkung, »nur drei- bis viermal pro Tag kollidiert ein Teilchen mit einem Atomkern unseres Körpers, der dann etwas ins Schwingen gerät«. Trotzdem sind Jochum und viele seiner Kollegen zuversichtlich, dass der Nachweis dieser sogenannten »schwach wechselwirkenden Teilchen«, aus denen Dunkle Materie zu bestehen scheint, bald gelingen könnte.
Tief unter dem Gran-Sasso-Massiv in den italienischen Abruzzen und anderswo auf der Welt versuchen Forscher schon seit Jahren, Dunkle Materie mit hoch komplizierten Detektoren nachzuweisen. Kern der Anlagen sind Behälter mit zehn bis 15 Kilogramm reinstem, tief gekühltem Edelgas wie Xenon. In diesen Behältern lässt sich beobachten, wenn ein Teilchen Dunkler Materie irgendeinen Atomkern des Edelgases anstößt. Natürlich müssen die Detektoren von allen anderen Umwelteinflüssen abgeschirmt werden: Wetter, natürliche Radioaktivität oder die kosmische Strahlung könnten die Mess-ergebnisse massiv verfälschen. Weht nur ein Lufthauch in die Behälter, so ist die Detektorflüssigkeit schon radioaktiv verseucht. Doch die Wissenschaftler haben gelernt, die Reinheitsgebote einzuhalten, und sind nun in der Lage, Kollisionen von Teilchen Dunkler Materie und einem Atomkern der Detektorflüssigkeit zu erkennen, selbst wenn sie sich nur einmal im Monat ereignen. Der Tübinger Physiker Jochum geht sogar davon aus, dass er und seine Kollegen bald Teilchen nachweisen können, die nur einmal pro Jahr eine Reaktion im Detektor hervorrufen.
Große Hoffnung setzen die Experten auch auf den neuen Teilchenbeschleuniger LHC in Genf. Es handelt sich um die größte Maschine, die jemals von Menschenhand erbaut wurde, noch dieses Jahr soll sie in Betrieb gehen. In seiner unterirdischen Röhre werden Protonen mit der Wucht von ICE-Zügen aufeinanderprallen und für kurze Zeit den Urknall simulieren. Die Forscher sind überzeugt, dass dabei völlig neue Teilchen entstehen, möglicherweise auch Dunkle Materie. Sie haben sogar schon einen Namen für das Teilchen, das sie zu finden hoffen: Neutralino. »Seine Entdeckung wäre ein Quantensprung für die Wissenschaft«, sagt der Dresdner Physiker Kai Zuber.
Faszinierend an der Suche nach der Dunklen Materie ist, wie Astronomen und Teilchenphysiker auf diesem Feld zusammen-arbeiten. Es ist eine Suche nach den größten und kleinsten Einheiten der Welt. Seit Kurzem gibt es sogar eine eigene Disziplin, die Astroteilchenphysik. Am Ende soll eine einheitliche Theorie entstehen, die erklärt, wie Mikro- und Makrowelt um uns herum funktioniert. Die Erforschung des Ursprungs und der Entwicklung unseres Universums hat dabei in den letzten Jahren schon eine völlig neue Qualität erreicht, »sie hat sich von der Religion zur Wissenschaft entwickelt«, schwärmt der Physiker Jochum.
Eine Wissenschaft allerdings, die viele Rätsel offen lässt: Auch wenn die Forscher Dunkle Materie finden, bleibt die Dunkle Energie, die unser Universum zu siebzig Prozent ausfüllt. Woraus sie besteht, ist den Forschern schleierhaft. Man weiß nur, dass es sie geben muss. Warum? Weil sich unser All nach dem Urknall rasch ausdehnte, seine Expansion sich aber im Laufe der Zeit verlangsamen sollte. So weit die Theorie. In der Praxis beobachten die Astronomen, dass sich das Universum immer schneller ausdehnt. Für dieses Phänomen macht man seit etwa zehn Jahren die Dunkle Energie verantwortlich.Und was, wenn man auch die Dunkle Energie gefunden hat? Dann weiß man immer noch nicht, wohin das All eigentlich expandiert. Was befindet sich, wenn man sich das Universum wie einen Luftballon vorstellt, der immer größer wird, eigentlich außerhalb des Ballons? Genauso wenig weiß man, was vor dem Urknall geschah. Und ob es überhaupt ein »vor dem Urknall« gibt, denn laut Theorie begann die Zeit ja erst mit dem Urknall. »Das sind alles Fragen«, räumt der Dresdner Physiker Zuber ein, »für deren konkrete Lösung uns die physikalischen Gesetze fehlen und im Grunde auch jede Vorstellung.«
Barbara Bonisolli (Foto)