»Man möchte das Göttliche in die Welt bringen«

Kirchen und brutalistische Betonbauten haben den Architekten Gottfried Böhm berühmt gemacht. Mit hundert hat er uns nun sein letztes Interview gegeben – und sagt darin nur noch, was wirklich wichtig ist.

Der Architekt Gottfried Böhm ist im Januar dieses Jahres 100 Jahre alt geworden. Bei Kaffee und Plätzchen hat er dem SZ-Magazin nun sein letztes Interview gegeben.

Groß sind an Gottfried Böhm nur noch seine Hände. Raue Hände mit langen Fingern und gepflegten Nägeln. Hände, in denen die Tasse seltsam klein aussieht, aus der er jeden Morgen seinen Kaffee im Büro trinkt, und in denen jahrzehntelang die Verantwortung für millionenschwere Großbauten lag. Hände, die die Geschicke einer der berühmtesten Architektenfamilie Deutschlands lenkten, den Zeichenstift übers Papier führten, über Beton, Stahl und Glas strichen. Hände, die jetzt die Griffe eines Gehwagens umschließen, mit Altersflecken übersät, dazwischen bläuliche Adern, die durch dünne Haut schimmern.

Hände, die ein Jahrhundert alt sind.

SZ-Magazin: Herr Böhm, 100 Jahre – was für ein Alter. Wie geht es Ihnen denn?
Gottfried Böhm: Ich habe eigentlich gar keine Lust zu reden, aber wenn Sie schon mit einer so dummen Frage anfangen, wird das ja vielleicht ganz lustig. Sie sind von der Süddeutschen Zeitung? Die lese ich ja nicht. Ich lese die Frankfurter.

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Böhm wird 1920 in Offenbach am Main geboren. Er hat in seinem Leben mehr als 150 Gebäude entworfen – einige gelten als Architektur-Ikonen des 20. Jahrhunderts – und selbst fast sein ganzes Leben lang in ein und demselben Haus gewohnt. Obwohl die Sonne aus dem Garten durch die alten Fenster hereinscheint, ist es kühl im Zimmer. Auf dem Haus liegt eine sonderbare Schwere. In der Ecke steht auf einem Sockel eine Büste von Böhms Vater, Architekt und Kirchenbaumeister Dominikus Böhm. Er baute die weiße Villa 1928 im Kölner Edelstadtteil Marienburg, nicht weit vom Rhein. Sie strahlt nichts Warmes aus, eher Struktur, Klarheit, nüchterne Eleganz, war erst Wohnhaus der Familie, dann Büro von Sohn Gottfried, nun von dessen Söhnen. Aber Böhm Senior bleibt Boss. Die Hierarchien in der Architektendynastie sind klar verteilt.

Böhm sitzt im Konferenzraum, der einst das Esszimmer seiner Eltern war. An den Wänden hängen Skizzen und Fotos von neuen Gebäuden und alten Häusern. Es sind die Bauwerke, die Böhm im Jahr 1986 als erstem Deutschen den Pritzker-Preis eingebracht haben. Der Preis gilt als Nobelpreis für Architektur und ist die höchste Auszeichnung der Branche. Wo er heute steht? Weiß er nicht mehr genau.

Hat Gottfried Böhm früher den Türrahmen ausgefüllt, wirkt er jetzt viel kleiner. Sein schlohweißes Haar steht in alle Richtungen ab. Er lässt sich auf einen Korbstuhl sinken. Der ist immer frei, wenn er kommt. Daneben liegen seine Lieblingskekse, American Cookies aus der Packung. Für einen 100-jährigen Mann ist er erstaunlich präsent, auch forsch, in manchen Momenten wirkt er wie ein Lausbub, dann wieder fällt er in Schweigen, er kann sich nicht an alles erinnern, immer wieder hilft sein Sohn Paul nach. Zu seinem 100. Geburtstag zelebrierte Rainer Maria Kardinal Woelki eine Festmesse in der Kölner Kapelle »Madonna in den Trümmern«, Böhms erstem eigenständigem Bau aus dem Jahr 1947. Vorherrschender Baustoff: Beton. Zwei Jahre nach Kriegsende hatte sein Vater ihm den Auftrag des Erzbistums anvertraut, die Kapelle der in Trümmern liegenden Pfarrkirche St. Kolumba wiederaufzubauen. Die Schuttberge im zerstörten Köln hat Böhm später einmal als »Bergwelt« beschrieben, er sah darin eine Chance für einen Neuanfang. Ruine und Moderne sind in dem Bau verschmolzen.

Im Feuilleton wurde Böhms Eigenwilligkeit dutzendfach beschrieben, spätestens zu jedem runden Geburtstag: »Während viele Architekten in den Nachkriegsjahren den Siegeszug des ewig öden, industriellen Bauens vorbereiten, plant Böhm an einer anderen Moderne«, heißt es da etwa und weiter: »Einer Moderne, die Raum lässt für das, was der Architektur so oft ausgetrieben wird: das Irrationale, die Lust am freien Spiel«. Böhms Kirchen seien »Trutzburgen des Glaubens«, seine Rathäuser »Verwaltungspaläste«. Seine Bauwerke machen komplizierte, skulpturale Formen aus: Wendeltreppen, Türme, Brücken, Kegeldächer, Kuppeln, Schalen- und Gewebedecken. Er vermag es mit Weite und Enge, Licht und Dunkelheit zu spielen.

Drei berühmte Bauwerke von Gottfried Böhm

Die Wallfahrtskirche Maria, Königin des Friedens in Neviges (Nordrhein-Westfalen) gilt als Böhms bekanntester Bau. Sie wurde 1968 geweiht.

Die Ulmer Zentralbibliothek, eine gläserne Pyramide, wurde 2004 fertiggestellt.

Markant am Hans Otto Theater in Potsdam, 2006 eröffnet, sind die schalenförmigen Dächer.

Nicht jeder schafft es, so alt zu werden. Sind Sie Stolz?
Gottfried Böhm:
Mein Bruder ist 101 Jahre alt.

Wir sitzen in Ihrem Elternhaus. Hier sind Sie aufgewachsen, Sie haben fast Ihr ganzes Leben in dieser Gegend verbracht.
Es ist gebaut worden, als ich acht Jahre alt war. Die schönsten Erinnerungen habe ich an Feste im Garten, bei denen ich in den Pool gesprungen bin. Ich sehe meinen Vater noch langsam die Treppe heraufschleichen.

Von Böhms Platz am Fenster kann man runter auf das Schwimmbecken und das weitläufige Grundstück dahinter blicken. 1945 hat das Haus im Krieg gebrannt, sie löschten das Feuer mit dem Wasser aus dem Swimmingpool im Garten. Böhm begleitete seinen Vater früh auf Baustellen und noch mit über sechzig kletterte er selbst auf die Gerüste. Er wollte nicht einfach bauen, er wollte gestalten. Mächtig und waghalsig waren seine Entwürfe, und er fand immer wieder Bauherren, die ihn seine Ideen in die Tat umsetzen ließen. Er schaffte es, seine Bauten über Jahrzehnte dem Zeitgeist anzupassen, ohne sie ihm zu unterwerfen: Steinerne, burgenartige Mauern wichen über die Jahre transparenten, filigranen Fassaden. Pyramiden aus Glas statt Blöcken aus Stahl. So unterschiedlich seine Bauten sind, so gleichen sie sich doch in ihrer Auffälligkeit, dem Expressiven, Dramatischen. Vor allem die frühen Entwürfe sehen aus wie aus einer anderen, versunkenen Vorzeit – oder einer fernen Zukunft, sie wirken zeitenthoben, mythisch, wie Burgen aus Herr der Ringe oder einer Wagner-Inszenierung, zum Beispiel das Bensberger Rathaus oder die Katholische Klinikkirche St. Johannes der Täufer in Köln. Böhms Wandelbarkeit hielt sein Werk am Leben. Doch Zeit verliert für Böhm an Bedeutung, er kann sich besser an lang zurückliegende Ereignisse erinnern als an das, was gerade war:

Gottfried Böhm: Was wollen Sie mich denn eigentlich fragen?
Wir reden doch schon die ganze Zeit!

Böhms Antworten sind nicht viel länger als seine Nachfragen. Er blickt mürrisch auf seine ineinander gefalteten Hände und überlegt. In seinen grauen Augen blitzt Schalk auf. In diesen Momenten ist er um keine Antwort verlegen. Dann ist er der Chef, dem man nicht widerspricht. Der Patriarch, der die Ansagen macht und den auch seine Söhne immer noch Boss nennen. Manchmal putzt er sich mit seinem Stofftaschentuch die Nase, gewinnt Zeit für seine Antworten. Die sind auf trotzige Weise frech, er verzieht dabei den Mund zu einem jungenhaften Grinsen und freut sich über seine eigene Schlagfertigkeit.

Noch bis er weit über 90 war, gab Böhm wenig aus der Hand. Seinen Sohn Paul – mittlerweile selbst fast im Rentenalter – zitierte er auf der Terrasse vor dem Haus zur Manöverkritik seiner neuesten Modelle wie einen Schuljungen an die Tafel: »Komm doch ran. Die Seitenkapellen sind nicht bündig mit der rückwärtigen.« An Böhms Wollpullover klemmte ein Zeichenstift, immer bereit für den nächsten Strich, auch wenn kein Blatt in der Nähe war. Stattdessen malte Paul Böhm die Formen vor seinem Vater auf den kleinen Gartentisch, an dem Böhm gerade saß, gemeinsam kratzten sie Linien ins Holz.

Sie haben in Ihrem Leben rund 70 Kirchen gebaut. Muss man dafür an Gott glauben?
Gottfried Böhm: Das ist eine unverschämte Frage. Wenn man Sie das fragen würde, was würden Sie antworten?

Ja!
Naja, vielleicht sage ich das auch. Aber an was glaubt man, wenn man an Gott glaubt? Es ist schwierig heute mit dem Glauben. Man möchte das Göttliche in die Welt bringen, damit die Welt etwas mit ihm zu tun hat. Das ist vielleicht das einzig Wichtige beim Kirchenbauen.

Paul Böhm: Was ist das Göttliche? Du hast zu uns mal gesagt, das hat etwas mit einer Energie zu tun?
Das habe ich gesagt? Das war ganz vernünftig. Damit ist es schon genügend definiert. Ich war letztens mal wieder in Neviges. Die Kirche ist Gott sei Dank ein bisschen grau und dreckig geworden, man sieht den Raum nicht mehr, man spürt ihn.

Gibt es architektonische Strategien, um Gott erlebbar zu machen? Gesetze des Kirchenbaus?
Ich habe meinen Vater mal gefragt, was eine Kirche zu einer Kirche macht. Er hat geantwortet: »Ja mei Bub, wenn du das nicht spürst...«

Wenn Gottfried Böhm von seinem Vater spricht, schwingt immer Demut mit. Dominikus Böhm (1880–1955) gilt als Pionier des Kirchenbaus in der Weimarer Republik und als einer der Hauptvertreter des expressionistischen Sakralbaus im frühen 20. Jahrhundert. Bis zu seinem Tod baute er über 40 Kirchen. Sohn Gottfried setzte das Erbe fort. Später förderte er erst, dass auch seine eigenen Söhne Architekten werden, und dann die Rivalität zwischen ihnen. Die Firma ist ein Konkurrenzunternehmen. Hier muss sich jeder selbst durchsetzen. »Um einen guten Rat anzunehmen, sind die Eitelkeiten zu stark«, sagt einer der Söhne zum Vater. Der schweigt. Es sind Szenen aus einer Dokumentation über die Familie, die beispielhaft für das Verhältnis ihrer Mitglieder stehen: Umringt von seinen Söhnen sitzt Böhm am Zeichentisch, sie beugen sich konzentriert über die Kohlezeichnung, äußern Ideen. Am Ende nimmt er keinen ihrer Vorschläge an. Kurz darauf sieht er sich mit seiner Frau Elisabeth den gleichen Entwurf an. »Soll ich den Himmel gelb machen oder so grau lassen?«, fragt er. »Blau«, erwidert sie.

Von ihrem Sockel aus wacht die Büste von Gottfried Böhms Vater Dominikus Böhm über das Geschehen.

Die Meinung seiner Frau war die einzige, die Böhm neben seiner eigenen gelten ließ. Die Söhne sagen, dass es seinen Erfolg ohne ihre erbarmungslose Kritik nicht gegeben hätte. Über 60 Jahre waren sie verheiratet. Elisabeth Böhm war ebenfalls Architektin, hat ihre Karriere aber hintenangestellt. »Sie hat es als ihre Aufgabe gesehen, dafür zu sorgen, dass der Vater oben bleibt und dass der Vater der Boss ist«, erinnert sich Paul.

Als seine Mutter noch lebte, diskutierte das Ehepaar viel darüber, wie Menschen in Zukunft in Großstädten zusammenwohnen könnten, »ohne dass die Welt zugepflastert wird«. Damals entwarfen sie zusammen eine Vision für Peking. Im Büro steht eine gerahmte Skizze mit lauter roteingefärbten, schlanken Häusern. Sie sind auf mehreren Ebenen übereinander angeordnet und sehen alle gleich aus. Das soll Köln sein, unten steht ganz klein der Dom. Gottfried Böhm ist ein Mann, der in Traditionen lebt, aber nicht aufhört, über die Zukunft nachzudenken:

Haben Sie aktuell ein Projekt im Kopf?
Gottfried Böhm: Ich habe in den letzten Jahren Fantasieprojekte gezeichnet. Davon habe ich eine ganze Menge. Ich will das aber auch gar nicht so bauen.

Gottfried Böhm besucht seine Kirchen wie ein Vater seine erwachsenen Kinder, die in aller Welt verstreut sind. Die Köpfe seiner Söhne sind ergraut, die rauen Betonwände seiner Kirchen ebenfalls. Sie brauchen ihn weniger als früher, aber er sieht nach dem Rechten.

Mit welchem Material haben Sie am liebsten gebaut?
Gottfried Böhm: Beton. Beton kann Zug- und Druckkräfte gleichermaßen aufnehmen. Und Beton kann man formen, Stein nicht.

Würden Sie sich als typisch deutschen Architekten bezeichnen?
Nicht so gerne. Aber es liegt vielleicht nah. Dieses Deutschnationale liegt mir nicht so. Ich war sogar deutscher Soldat. Aber das war alles schrecklich.

Hat die Kriegserfahrung Ihre Bauten beeinflusst?
Das möchte man hoffen, aber das kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, was mich beeinflusst hat, aber wahrscheinlich mehr das Reden und Denken meines Vaters.

Was haben Sie von ihm gelernt?
Ehrlichkeit. Das zu leben, was man architektonisch machen will.

In den Fünfzigerjahren sind Sie zu Architekten wie Mies van der Rohe und Walter Gropius durch die USA gereist? Was haben Sie dort erlebt?
Der Mies hat mich stärker beeindruckt als der Gropius. Ich hätte in Boston eine Professur bekommen, aber ich wollte wieder nach Hause. Ich wollte mit dem Vater arbeiten und selbst etwas werden.

Noch Jahre nach Kriegsende hat er Splitter in seiner Haut gefunden. Wie er im Krieg verwundet wurde, erzählt er niemandem. Nur dass er schießen musste, dass es viele Verluste gab, direkt vor und neben ihm. Er war Gebirgsjäger. Bis heute hasst er rhythmisches Klatschen im Konzert oder Theater, zu sehr erinnert ihn das an die Kommandos bei der Wehrmacht. Als er 1986 den Pritzker-Preis gewann, sagte er in seiner Dankesrede: »Jeder für den Menschen gemachte Raum ist Rahmen seiner Würde.«

Gottfried Böhm: So, jetzt ist genug.

Ganz plötzlich beschließt Böhm, dass es reicht, schiebt seine große Hand in seine Hosentasche, zieht ein Handy hervor und ruft seine Pflegerin Jola an. Sie soll ihn abholen. Einige Minuten später steht eine kleine, mittelalte Frau mit blondgefärbtem Haar und polnischem Akzent neben ihm: »Boss, da bin ich.« Sie hilft ihm auf den Beifahrersitz des Jaguars, an dessen Steuer er bis vor einigen Jahren selber saß, Kennzeichen: K GB 1920. Jola startet den Motor und braust mit dem Boss davon.

Gottfried Böhm hat heute sein letztes Interview gegeben.