Bevor es RSS gab, funktionierte das Lesen im Internet so: Man ging auf eine Website und suchte nach neuen Texten. Bei Misserfolg wiederholte man diesen Weg immer und immer wieder, bis neue Texte veröffentlicht wurden. Seitdem aber im Jahr 1997 RSS erfunden wurde – als Zusammenschluss zweier Software-Entwicklungen namens »Really Simple Syndication« (die für den Informationsaustausch zwischen Blogs gedacht war) und »Rich Site Summary« (die Usern erlauben sollte, ihre Homepages regelmäßig mit Updates zu erweitern) –, änderten sich die Dinge: Dank RSS informieren jetzt Webseiten ihre Leser, wenn es neue Texte gibt – und das, ohne dass auf der Seite des Senders oder des Empfängers dafür jemand aktiv werden muss. RSS macht das Internet dynamisch. Tim O’Reilly, der den Begriff »Web 2.0« etablierte, nannte RSS einmal den »bemerkenswertesten Fortschritt in der grundlegenden Architektur des Netzes«.
Um die Vorteile von RSS nutzen zu können, benötigt man einen »Feedreader« oder »News-Aggregator«, in denen die Nachrichten über Änderungen auf der jeweils abonnierten Seite übersichtlich gebündelt werden. RSS fungiert gewissermaßen als ein Destillat der Informationsvorlieben des jeweiligen Nutzers. Das Angebot von »RSS-Feeds«, so nennt sich der quasi automatische Newsletter, sollte für Nachrichtenanbieter im Netz heute selbstverständlich sein. Im November 2002 hatte zwar die New York Times ihren Lesern erstmals die Möglichkeit gegeben, mithilfe des neuen Dienstes Neuigkeiten zu verschiedenen Themen abzurufen. Doch das zweckmäßige Verfahren verbreitet sich zum Teil zögerlich. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Betreiber werbefinanzierter Webseiten den RSS-Feeds, die keine Werbung mitverbreiten, natürlich skeptisch gegenüberstehen. Die Betreiber fürchten zurückgehende Besucherfrequenzen auf ihren mit Werbebannern bestückten Seiten. Die bequeme Bereitstellung und Handhabung von Nachrichten in Form der Feeds vermittelt ein Vorgefühl auf die digitale Zeitung der Zukunft. In seinem Buch Being Digital entwarf der Gründer des renommierten MIT Media Lab, Nicholas Negroponte, bereits 1995 eine virtuelle Tageszeitung, die ganz auf die persönlichen Vorlieben des Lesers zugeschnitten ist und die er The Daily Me nannte. Einiges davon ist heute bereits Alltag. Auch wenn es noch eher den Charakter eines persönlichen Newstickers hat, trägt RSS den Keim einer Meta-Zeitung von morgen in sich. Denn ein Feedreader ist nicht nur eine »Zeitung aus Zeitungen« – die elektronische Version der alten Lesezirkel-Mappen –, er schöpft auch noch aus vielen anderen Onlinequellen. Man kann Themen in Diskussionsforen als Feed ebenso abonnieren wie Neuigkeiten aus Blogs, Branchendiensten, Unterhaltungsangeboten, Onlineshops oder sogar von Ämtern.
Die maßgeschneiderte »Tägliche Meine« liefert allerdings hauptsächlich Inhalte, die dem Geschmack und den Auffassungen dessen entsprechen, der sie für sich personalisiert hat – ein Problem, das sich auch in den Empfehlungssystemen von Musikplattformen oder Onlinehändlern wie Amazon bemerkbar macht und das zu einer Art von computergestütztem Konservativismus führt. Neues – oder in einer Zeitung: kritische Gegenstimmen – wird man auf diese Weise kaum finden.
Dennoch dürfen die Vorteile der RSS-Feeds nicht mehr unterschätzt werden. Früher öffnete sich einmal pro Abend mit der Tagesschau das Nachrichtenfenster in die Welt, heute fließen unausgesetzte Ströme an Meldungen und Unterhaltung. Die permanente Belieferung mit Information kann allerdings zu einer paradoxen Umkehr von Informiertheit führen – wenn wir uns das Wahnsinns-Internet nicht jeweils dank RSS selbst strukturieren.
Peter Glaser, 51, Mitglied des Chaos Computer Clubs, schrieb als Kolumnist für »Tempo«, »Die Woche« und die »Stuttgarter Zeitung« und betreibt den Blog »Glaserei«.
Illustration: Christoph Niemann