V wie Vierte Gewalt

Wird im Internet mehr enthüllt als nur die eigene Intimsphäre? Eine Investigation.

Die Begriffe »vierte Gewalt« und »vierte Macht« werden üblicherweise synonym verwendet, aber die Ausdrücke meinen nicht dasselbe. Wer »vierte Gewalt« sagt, geht von einer – virtuellen – vierten Säule im System der Gewaltenteilung aus. Neben Exekutive, Legislative und Justiz gibt es danach die Medien, die zwar keine eigene Gewalt zur Änderung der Politik oder zur Ahndung von Machtmissbrauch besitzen, aber durch korrekte Berichterstattung und öffentliche Diskussion die Verhältnisse zum Tanzen bringen können.

Wer nur den Begriff der »vierten Macht« akzeptiert (weil Journalisten bekanntlich kein Mandat haben), redet in der Regel über jene Macht, die dann zum Zuge kommt, wenn die drei Gewalten versagen. Je nach Standort und Gemütsverfassung des Medienschaffenden ist es entweder Berufsrisiko oder Privileg, wenn die Staatsmacht grob wird und Muskeln zeigt.

»Der deutsche Journalist braucht nicht bestochen zu werden, er ist so stolz, eingeladen zu sein, ein paar Schmeicheleien … Er ist schon zufrieden, wie eine Macht behandelt zu werden«, hat Kurt Tucholsky vor vielen Jahrzehnten geschrieben. Es gibt heute immer noch eine Menge Journalisten, die selbst im Kinderstühlchen am Tisch der Mächtigen Platz nehmen würden. Verblüffenderweise sind es manchmal dieselben, die irgendeine angebliche Verfolgung durch die Macht herbeisehnen.

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Schwierig ist es, Journalisten zu finden, die etwas Neues zu sagen haben; noch schwieriger kann es sein, ein Publikum zu finden, das etwas Neues erfahren möchte. Manche Leser, Zuschauer, Hörer wollen oft nur in ihrer Erwartung, ihrem Verdacht, ihrem Vor-Urteil bestätigt werden.

Aufgabe von Journalisten ist es aber, alle Fakten zu präsentieren. Ob die besser in der Zeitung oder im Internet erscheinen, ist, derzeit noch, nicht nur eine Glaubenssache.

»Blogger lieben es, eine Geschichte zu hinterfragen«, behauptete Arianna Huffington, die Gründerin der amerikanischen Onlinezeitung Huffington Post in einem Interview. Blogger seien wie Pitbulls: »Wenn sie sich erst mal in etwas verbeißen, ist es unmöglich, sie wieder loszureißen.«

Mag ja sein, aber die Welt braucht keine Pitbulls. Sie braucht Handwerker, die das Wichtige vom Unwichtigen trennen können und überprüfbare Stoffe von gesellschaftlicher Relevanz liefern. Im oft anonymen Netz aber mangelt es an ausreichender Kontrolle.

Die viel zitierte Website Wikileaks etwa, die Ansprechpartner all jener sein will, die »unethisches Benehmen« in Regierungen und Unternehmen enthüllen wollen, veröffentlichte echte, aber auch gefälschte Papiere. Eine Redaktion müht sich zwar, die Verlässlichkeit der Dokumente herauszufinden, was sie aber nicht vor sehr groben Fehlern bewahrte. Die in modischen Büchern beschriebene »Weisheit der Vielen« entpuppt sich bei näherem Hinsehen oft als Bataillon des Vorurteils.

Es war und ist aber falsch zu behaupten, in Deutschland habe Recherchejournalismus in den traditionellen Medien Konjunktur. Zwar konnte in den vergangenen Jahren ein deutliches Anwachsen von politischen und Wirtschaftsskandalen beobachtet werden. Aber viele Medien rennen hinter denselben Geschichten her. Bei diesem Mainstreamjournalismus will jeder mit irgendeiner Nachricht aufwarten. Es gibt Strichlisten mit angeblichen Exklusivgeschichten. Es existieren keine Listen, wie viele dieser Geschichten recycelt oder falsch waren. Vierte Macht, vierte Gewalt? Eitle Ohnmacht.

Hans Leyendecker, 59, hat in der »Süddeutschen Zeitung« und im »Spiegel« zahlreiche Politikskandale aufgedeckt, darunter die Flick-Parteispendenaffäre.

Illustration: Christoph Niemann