62 bis 80

Ein kluger Papagei. Ein Druckfehler auf der Titelseite. Eine mysteriöse Telefonnummer. Anna Netrebko und Joschka Fischer, Daniel Barenboim und Clint Eastwood. Und ein Mittelfinger, der das ganze Land bewegt.

    Moment 62: 2005

    Der Regisseur Peter Bogdanovich interviewt Clint Eastwood und hört die unglaublichsten Geschichten.

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    Moment 63: 1998

    Das SZ-Magazin hat viele treue Leserinnen und Leser. Einmal stricken einige von ihnen sogar ihre Lieblings-Cover nach. Vielen Dank dafür!

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    Moment 64: 2009

    Das SZ-Magazin widmet eine ganze Ausgabe unserer Sprache. Der Grafiker Christoph Niemann erinnert sich an die herausfordernde Gestaltung der Titelseite.

    Die Arbeit an solchen komplexen Ideen ist ja immer wesentlich schwerer, als es aussieht, aber in dem Fall gilt das ganz besonders. Ich hatte nach Jahren wieder angefangen, Basketball zu spielen, was prompt dazu führte, dass ich mir die Achillessehne riss. Ich war zum Glück schon relativ weit mit der Arbeit, dennoch musste ich das Projekt in einem sonnigen Krankenhauszimmer und im postnarkotischen Nebel liegend am Laptop fertigmachen.

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    Moment 65: 2012

    Der Unfassbare: Daniel Barenboim lässt sich vom Redakteur Tobias Haberl und dem Fotografen Jonas Unger begleiten. Haberl ist danach ein bisschen außer Puste.

    Ein halbes Jahr mit Daniel Barenboim, das waren nicht nur Schubert und Beethoven, sondern auch Berlin, Paris, Rom, München und Salzburg, ein Konzert bei Papst Benedikt, mindestens dreißig Havannas (die dünnen nach dem Frühstück, die dicken am Abend), sechs Sprachen fließend (oder waren es sieben?), vier Staatsbürgerschaften, zwei total unterschiedliche Söhne (hier im Bild) - und was ich nie vergessen werde: wie ihm der Ober eines italienischen Restaurants in Wien wie selbstverständlich eine Leselampe draußen an den Tisch klemmt, damit Maestro trotz Dunkelheit noch ein bisschen in der Partitur blättern kann.

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    Moment 66: 2002:

    Olaf Blecker fotografiert Joschka Fischer für die Titelseite. Beim »Stern« mögen sie das Bild - und drucken es nur eine Woche später auch aufs Cover. Harald Schmidt spottet in seiner Sendung darüber: traumhafte Werbung für Blecker.

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    Moment 67: 2002:

    Der Fotograf Jo Magrean macht über Jahre Bilder von seiner kranken Tochter. Heute geht es ihr zum Glück gut - den Fotobrauch behalten die beiden bei.

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    Moment 68: 2001

    Eine Titelgeschichte über Österreich - mit einem kleinen Schönheitsfehler, der der langjährigen Schlussredakteurin Marianne Kössler heute noch zu schaffen macht.

    VoM eineM Land! Zwei mal M! Dass uns das durchgerutscht ist! Der einzige Fehler auf der Titelseite in 25 Jahren. So ein Jammer.

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    Moment 69: 2000

    Der Fall Tom Kummer: Als sich herausstellt, dass der Autor etliche Interviews frei erfunden hat, bricht der größte Skandal in der Geschichte des SZ-Magazins über die Redaktion herein. Markus Götting, damals Redakteur, über eine dramatische Nacht.

    Wir hatten gerade unsere Reiseflughöhe erreicht, da fielen wir aus allen Wolken. Nach vier Tagen Strand und Sonne in der Türkei, was man als Betriebsausflug zum zehnjährigen Heftbestehen echt gut durchgehen lassen konnte, war das Schweben ein Dauerzustand geworden. Nun die Bruchlandung. Der Kollege Jan Weiler hatte in der Welt am Sonntag gelesen, dass Focus am nächsten Tag berichten werde, wie Tom Kummer seine Interviews mit Hollywoodstars nicht nur gefälscht, sondern frei erfunden hatte. Neben Jan saß unser Chef Ulf Poschardt und wurde blass. Die Nachricht verbreitete sich von Sitzreihe zu Sitzreihe, irgendwann standen alle im Gang des Raucherabteils (so was gab’s früher an Bord). Die Maschine schwebte gemächlich, unser Team aber: in schweren Turbulenzen. Aus dem anfänglichen »Ach du Scheiße« wurde entweder ein naives »Kann nicht sein« oder ein ganz schlaues »War ja klar, hab ich immer schon geahnt«. Die Chefs verteilten noch während des Fluges die Aufgaben zum Nachrecherchieren der Kummer-Artikel und legten die latent blauäugige Sprachregelung des Abstreitens fest. Der Begriff vom Borderline-Journalismus machte die Runde, er sollte die Grauzone von Realität und Fiktion bezeichnen. Vom Flughafen aus fuhren die Chefs direkt in den Verlag, wir anderen weiter ins »Schumann’s«, den inoffiziellen Konferenzraum. Dort ging die Krisensitzung für etliche von uns nahtlos in ein Frustbesäufnis über. Das SZ-Magazin schien uns der gedruckte Größenwahn in der größenwahnsinnigen Zeit des Dotcom-Booms. Jetzt war jedem klar, dass unsere Blase noch schneller platzen würde als die auf dem Neuen Markt der Frankfurter Börse. Als ich aus dem »Schumann’s« heimwankte, war es schon spät in der Nacht. In meinem Kopf sang Michael Stipe von R.E.M: »It’s the end of the world as we know it … « Nur: Ich fühlte mich beschissen.

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    Moment 69: 2000

    Der lange Abschied: Reporter Mario Kaiser begleitet über Monate hinweg einen Mann, der Schritt für Schritt ins soziale Abseits gerät. Eine bewegende Geschichte, die Kaiser bis heute nicht loslässt.

    Als ich Andreas Läufer zum letzten Mal sah, zog er sein Hemd hoch und zeigte mir die Narbe, die sich wie ein Fluss über seinen Bauch zog. Er hatte Darmkrebs, er war blass, er atmete schwer. Doch er hatte immer noch diesen aufrechten Gang, und er sagte: »Ich hole mir mein Leben zurück.« Am 13. Januar 2015, in seinem 56. Jahr, starb er. An einem bewölkten Tag im Februar stand ich auf dem Achterdeck eines Schiffes und sah, wie die Urne mit Läufers Asche in der Nordsee versank. Er wollte unabhängig sein, auch im Tod. Ich sah ihm nach und tat etwas, was er mir nicht erlaubt hätte, als er Protagonist war und ich Reporter: Ich verlor die Distanz und weinte um ihn.

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    Moment 71: 2001

    Jil Sander kommt nach München, um die Redaktion zu unterstützen. Die Magazin-Mitarbeiterin Christine Mortag erzählt, wie sie ihr vorher den nötigen Durchblick verschaffen musste:
    Für ein Design-Spezial forderten wir 2001 deutsche und europäische Architekten auf, in einem Wettbewerb das »Haus der Gegenwart« zu entwerfen. In der Jury saßen bekannte Architekten wie Matteo Thun, Shigeru Ban und der Ästhetik-Professor Bazon Brock. Angefragt hatten wir auch die Modedesignerin Jil Sander, die schon damals so gut wie nie Interviews gab. Umso überraschter waren wir, als sie zusagte. Der Chefredakteur wollte, dass ich sie vom Flughafen abhole. Auf dem Weg zur Jurysitzung in der Bayerischen Architektenkammer fuhren wir allerdings erst einmal zu einem Brillenladen am Rotkreuzplatz: Jil Sanders Brille war zerbrochen, sie brauchte dringend eine neue. In ihrer Sehstärke vorrätig waren drei sehr banale Standardmodelle mit blauem, rotem und silbernem Gestell. Sie entschied sich für Blau. Und da stand sie nun, die Frau, die wie kaum sonst jemand das Bild der Mode in Deutschland geprägt hat durch reduzierten Stil und strenges Understatement - mit einer sehr auffälligen blauen Brille aus billigem Plastik. Sie behielt sie den ganzen Tag auf.
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    Moment 72: 1997

    Die Grafik-Designerin Anna Meyer freut sich heute noch über ein Cover mit bekannten Gesichtern.

    Ich war da erst zwölf, aber ich mochte den Gedanken: So klar es für Kinder keinen Ernie ohne Bert und keinen Bert ohne Ernie gibt, so selbstverständlich sollte schwule Liebe auch in der modernen Gesellschaft sein. Sechzehn Jahre später haben es die beiden dann auch auf das Cover des New Yorker geschafft, als es da um schwule Eheschließungen in den USA ging.

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    Moment 73: 2013

    Tobias Haberl begleitet einen Mann, der Millionen ins Kino lockt, aber Filmkritiker zum Kopfschütteln bringt: Der streitbare Star Til Schweiger fühlt sich im SZ-Magazin gerecht dargestellt - und erweist sich als ein ziemlich gründlicher Leser.

    Mit einem Porträt im Spiegel habe ich mich vor ein paar Jahren mal so richtig auf die Fresse gelegt. Danach habe ich mir geschworen, nie wieder einen Journalisten so nah an mich ranzulassen. Aber dann kam dieser Autor vom SZ-Magazin und hat mich irgendwie davon überzeugt, es doch noch mal zu versuchen. Heute kann ich sagen: Tobias Haberl, ich mag nicht alles, was du damals über mich geschrieben hast, aber es liest sich toll und war vor allem: sehr, sehr fair. Und noch eine andere Reportage werde ich nie vergessen: »Spuren der Gewalt «von Christoph Cadenbach. Lieber Christoph, was du über die Opfer und Täter von Abu Ghraib geschrieben hast, hat mich aus den Socken gehauen und zugleich tief berührt. Happy Birthday! Macht bitte weiter so, ich lese euch sehr, sehr gerne!

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    Moment 74: 2004

    Susanne Schneider trifft Anna Netrebko, um ein großes Porträt über sie zu schreiben. Eine Begegnung, die den beiden, sagen wir, unterschiedlich intensiv im Gedächtnis bleibt.

    Nach dem Gespräch stand sie mit mir auf der Straße und wartete auf mein Taxi, zum Abschied umarmten wir uns kurz, aber herzlich. Das Erste, was ich zehn Jahre später, im Juli 2013, zu ihr sagte, als sie im »Hotel Sacher« in Wien auf mich wartete: »Erinnern Sie sich? Ich habe Sie vor zehn Jahren schon mal interviewt.« Sie antwortete: »Tut mir leid, ich erinnere mich nicht.« Sie war immer noch herzlich und lustig, weit entfernt von allen Starallüren. Nach dem Interview sagte sie: »Vielleicht kommen Sie ja in zehn Jahren wieder. Ich hoffe, ich erinnere mich dann.« Dann schob sie hinterher: »Aber versprechen kann ich es nicht.« Na, mal sehen. 2023 reden wir wieder, ja?

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    Moment 75: 2013

    Peer Steinbrück zeigt auf dem Cover seinen Mittelfinger. Und der Fotograf Alfred Steffen weiß, dass er ein Foto für die Ewigkeit im Kasten hat.


    SZ-Magazin: Lieber Alfred Steffen, mit dem Stinkefinger von Peer Steinbrück vor der Bundestagswahl 2013 haben Sie eines der bekanntesten Fotos der vergangenen Jahre gemacht. Woran erinnern Sie sich?

    Alfred Steffen: Peer Steinbrück kam mit seinem Pressesprecher zu mir ins Studio und war wahnsinnig entspannt. Wir tranken einen Kaffee, plauderten, dann legten wir los. Irgendwann kam dann die Frage aller Fragen: »Pannen-Peer, Problem-Peer, Peerlusconi - um nette Spitznamen müssen Sie sich keine Sorgen machen, oder?«

    Wer hat sie gestellt?

    Die Fragen hatte ich von der Redaktion bekommen, vorgelesen hat sie sein Pressesprecher - damit ich mich aufs Fotografieren konzentrieren konnte. Ich weiß noch, dass er genau bei dieser Frage gezögert hat, also habe ich sie gestellt. Das Problem war: Steinbrücks Mittelfinger schnellte so spontan in die Höhe, dass ich nicht schnell genug auf den Auslöser drücken konnte.

    Und dann?

    Bat ich ihn, die Geste zu wiederholen, was er auch bereitwillig tat. Nach dem Termin meinte der Pressesprecher, er habe »Bauchschmerzen« mit diesem Motiv, aber Steinbrück hat es einfach durchgewinkt. Ganz ehrlich: Für so cool hatte ich ihn nicht gehalten. Nach der Veröffentlichung war der Rummel groß. Das Cover wurde in Talkshows gezeigt, in den Medien wurde das Bild tausendfach kommentiert, veralbert, geliked.

    Hat das Bild Steinbrück eher genutzt oder geschadet?

    Experten meinten, das Bild könnte im Wahlkampf genausogut ein paar Stimmen gebracht oder gekostet haben. Also im Grunde viel Lärm um nichts. Was hat Ihnen das Foto gebracht: Geld, Ruhm oder nur eine schöne Erinnerung? Ha, bis jetzt haben weder das Deutsche Historische Museum noch der Freundeskreis des Willy-Brandt-Hauses nach einem Abzug gefragt. Und richtig wertvoll wäre das Bild wohl nur geworden, wenn Steinbrück die Wahl gewonnen hätte.

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    Moment 76: 1993

    Text mit Wirkung: Der Redakteur Peter Seewald porträtiert Josef Ratzinger.

    Für das SZ-Magazin war ich in Peking und am Ural, in Grünwald und in einem Bordell in Ingolstadt. Mein Leben verändert hat aber ausgerechnet ein alter Kirchenmann aus Rom. Die Geschichte begann im Frühjahr 1992, als die Redaktion auf die Idee kam, ein Porträt über Kardinal Joseph Ratzinger ins Heft zu heben. Aus dem Porträt wurde ein erstes Buch mit dem Kardinal, aus dem ersten ein zweites, beide in dreißig Sprachen übersetzt. Als ich am 19. April 2005 unter hunderttausend Menschen auf dem Petersplatz stand, kannte ich den Namen, der ausgerufen wurde, schon ziemlich gut. Eine Stunde später war ich der »Papstbiograf«, vorgestellt in einer ARD-Brennpunkt-Sendung. Und seit mein Gesprächspartner wahrmachte, was er in unserem dritten Buch angekündigt hatte, nämlich seinen Rücktritt, arbeite ich tatsächlich an einer Papstbiografie. Verrückt, oder? Ach ja, auch das SZ-Magazin blieb dem Thema treu. Wir berichteten über die Schuhe des Papstes, schrieben Titelstorys über ihn und führten exklusive Interviews mit seinem Sekretär, die weltweit nachgedruckt wurden. Und wer weiß, vielleicht wäre unser Mann aus Bayern ohne das SZ-Magazin niemals das geworden, was er war: der erste deutsche Pontifex seit fünfhundert Jahren, Oberhaupt von 1,2 Milliarden Menschen auf dem Planeten.


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    Moment 77: 2012

    Konkurrenz belebt das Geschäft: Das SZ-Magazin und das »Zeit-Magazin« widmen zwei gleichzeitig erscheinende Ausgaben dem Wettkampf - mit Reportagen, die einander ergänzen, Kolumnisten, die einander antworten, und Titelseiten, die zusammenpassen. Christoph Amend, Chefredakteur des »Zeit-Magazins«, erinnert die Arbeit an eines seiner frühesten Erlebnisse mit dem SZ-Magazin.

    Als ich vor fast zwanzig Jahren als junger Journalist vom SZ-Magazin den Auftrag bekam, Jay-Jay Okocha zu interviewen, den genial-verspielten Fußballprofi, der für Eintracht Frankfurt gerade eines der spektakulärsten Tore der Bundesligageschichte geschossen hatte, war ich erst stolz und glücklich - und dann ziemlich schnell verzweifelt. Denn der Mann war einfach nicht zu fassen. Weder Agent noch Pressestelle konnten helfen, und nach dem Training war Okocha immer so schnell verschwunden, wie er seine Gegner auf dem Platz schwindlig gedribbelt hatte. Es war, die Älteren erinnern sich, die letzte Phase der Menschheit ohne Handys. Ich hatte keine Chance, Okocha zu erreichen. Erst nach Wochen bekam ich einen Tipp (meinen Informanten darf ich bis heute nicht verraten). In der Umkleidekabine der Mannschaft gebe es ein Telefon, und wenn ich zu einer bestimmten Zeit dort anrufen und nach Jay-Jay fragen würde, könnte ich vielleicht Glück haben. Ich hatte Glück. Okocha war gerade aus der Dusche gekommen und lachte, ja, er habe kurz Zeit. Er gab mir in der Vereinsgaststätte spontan das Interview. Seitdem denke ich immer daran, wie mir das Duschen Glück gebracht hat beim SZ-Magazin.

    Als Timm Klotzek Chefredakteur des -SZ-Magazins wurde, rief ich ihn an und gratulierte ihm. Timm und ich kennen uns schon lange, wir haben in den späten Neunzigern gemeinsam beim jetzt-Magazin gearbeitet - und jetzt würden wir Woche für Woche gegeneinander antreten mit unseren beiden Magazinen, im Wettbewerb um die besten Geschichten und Bilder. Aus dieser merkwürdigen Situation sollten wir etwas machen, da waren wir uns beide einig. Nur was? Ein gemeinsames Heft? Aber zu welchem Thema? Wir kamen erst mal nicht weiter. Über Monate sprachen wir immer wieder mal darüber, und jedes Mal waren wir uns einig, dass wir etwas machen sollten. Dann verabredeten wir uns auf einen Kaffee in Berlin, am Morgen unseres Treffens wachte ich auf und dachte: Was könnte das Thema sein? Ich ging unter die Dusche - und da fiel es mir ein. Na klar, wenn das -SZ-Magazin und das Zeit-Magazin ein gemeinsames Heft produzieren, musste das Thema natürlich »Konkurrenz« sein. Ich schlug es Timm vor, er fand es gut, und während wir sofort anfingen, die gemeinsame Ausgabe zu planen, dachte ich an das Lachen von Jay-Jay Okocha aus der Umkleidekabine - und wie mir das Duschen wieder einmal Glück gebracht hatte. Spion gegen Spion: Der Kampf der Redaktionen bleibt glücklicherweise relativ zivil.


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    Moment 78: 2015

    Die Redaktion druckt eine Telefonnummer aufs Cover - und 2731 Leser rufen an.

    In der Titelgeschichte geht es um das Thema Neugier, die Telefonnummer ist ein Test für die Leser: Prüfen Sie, wie neugierig Sie sind. Nur falls Sie sich damals nicht getraut haben, anzurufen: Man landete direkt in der Redaktion. (Und bitte nicht enttäuscht sein, die Nummer gibt es mittlerweile nicht mehr.)


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    Moment 79: 2004-2005

    Der Autor Thomas Gsella dichtet eine Zeit lang jede Woche im Magazin, was ihm zu verschiedenen Berufen einfällt. Viele Leser beschweren sich über Gsellas Spott (allen voran interessanterweise die Zahnärzte). Ein gereimter Rückblick.
    Reime zu Berufen schrieb ich,
    Und ins Herzblut tat ich Gift,
    Und es wirkte: Schreibend trieb ich
    Lesende an Tisch und Stift.

    Denn obwohl ich böse scherzte,
    Fanden’s manche doch nicht gut.
    Faule Lehrer, dicke Ärzte
    Protestierten voller Wut

    Gegen Wendungen wie »dicke«,
    Auch das »faule« war nicht recht.
    Und ich las in höchstem Glücke:
    Ei, sie reimten! Nicht mal schlecht!

    Sollte sie auch mein Ruin sein,
    War doch gut die böse Tat:
    Stolz darf jedes Magazin sein,
    Das so viele Dichter hat!
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    Moment 80: 2013

    Vor siebzehn Jahren interviewt Christian Gottwalt den klügsten Papagei der Welt. Jetzt ist für ihn die Zeit gekommen, einen verspäteten Nachruf zu schreiben.

    Das Interview, das Alex dem SZ-Magazin im Herbst 1998 gewährte, dauerte fünfzehn Minuten, in denen er genau 26 Wörter von sich gab. Das mag wortkarg erscheinen, allerdings sind manche Hollywoodstars bei Interviews auch nicht gesprächiger. Und während viele Hollywoodstars von damals längst vergessen sind, wird sein Ruhm bleiben. Alex, der schlaueste Vogel der Geschichte. Es wäre natürlich großartig gewesen, Alex ein weiteres Mal zu besuchen und zu fragen, ob er sich an uns erinnert. Oder an unseren Reisepass, an dem er damals knabberte und den er völlig korrekt als »viereckig«, »grün« und aus »Papier« identifizierte. Doch leider ist unser Interviewpartner nicht mehr am Leben. Alex starb am 6. September 2007 mit etwa dreißig Jahren. Die Autopsie ergab als Todesursache eine Arteriosklerose. Sein Tod kam unerwartet, zwei Wochen zuvor war er erst bei der Routineuntersuchung gewesen. Außerdem haben Graupapageien eine Lebenserwartung von sechzig Jahren. Angesichts seiner Fähigkeiten, die er mit dreißig schon hatte, bedeutete sein Tod einen ungeheuren Verlust für die Forschung. Medien in aller Welt berichteten, der Economist und die New York Times veröffentlichten Nachrufe. Alex war ein außergewöhnlicher Vogel. Er konnte 200 Wörter sprechen und 500 verstehen. Er konnte Gegenstände zählen und ihre Unterschiede hinsichtlich Farbe, Form oder Material benennen. Er hatte das Prinzip des Zahlenstrahls begriffen, wusste also, dass die »Sieben« größer ist als die »Sechs«, ohne dass man ihm die Zahlwörter und Zahlmengen einzeln hätte beibringen müssen. Er hatte ein Wort für »Nichts« und verstand somit das Konzept der Null. Und Alex stellte Fragen. Die englische Wikipedia schreibt, Alex sei das einzige Tier gewesen, das jemals eine existenzielle Frage gestellt habe: »What color Alex?« Irene Pepperberg, die Alex dreißig Jahre lang an der Universität von Arizona trainierte und erforschte, will diesen Superlativ nicht kommentieren. Wie es ihre Art ist, gibt sie sich zurückhaltend und sagt nur, Alex habe sehr viele Fragen gestellt. Im Lauf ihrer Karriere sah sich Pepperberg immer wieder der Kritik ausgesetzt, dass Alex all die Wörter doch nur nachplappere. Pepperbergs Forschung bestand darin, diesen Vorwurf zu entkräften. Zu zeigen, dass Alex verstand, was er sagte. Alex habe, sagt sie, das intellektuelle Niveau eines fünfjährigen Kindes erreicht. Vergleichbares gelingt nur Delfinen und Menschenaffen. Aber Pepperberg wäre es nie in den Sinn gekommen, Alex als »Freund« zu bezeichnen. »Wir waren Kollegen«, lautet ihre Sprachregelung. Kollegen. Nach der Obduktion wurde Alex eingeäschert, eine Trauerfeier fand nicht statt, auch hier verbietet der wissenschaftliche Anspruch jedes Sentiment. Pepperberg veranstaltete ein Essen im Freundeskreis, mehr nicht. In ihrem Labor steht nun ein schmuckloses, messingfarbenes Gefäß. Darin bewahrt sie seine Asche auf. Alex’ letzte Worte waren die gleichen wie an jedem Abend, sobald sich Pepperberg anschickte, das Labor zu verlassen: »See you tomorrow. Love you.«


    Fotos: Jonas Unger;  Hans Gerlach, Maurice Weiss / Ostkreuz, Jo Magrean, Olaf Blecker; Armin Smailovic, Johannes Ifkovits, Jim Henson; Alfred Steffen;
    Peter Kuper; Dieter Mayr; Reinhard Hunger